Das Demonstrationsrecht war immer staatlichen Angriffen ausgesetzt. Nun droht es, zu einem nur noch symbolischen Recht zu verkommen. von wolf-dieter narr
Demonstrationen sind dauernd umstritten. Sie sind darum dauernd gefährdet. Das sind sie gerade, wenn sie ihrem ur-demokratischen Sinne entsprechen. Dann stellen sie für eine repräsentativ abgehobene und bis zur Unkenntlichkeit verdünnte Demokratie ein Ärgernis dar. Es sei denn, es handelt sich um »Aufzüge und Aufmärsche«, wie es das im Kern immer noch geltende Versammlungsgesetz von 1953 behutsam postnationalsozialistisch formulierte, sprich, autoritär in formell demokratischem Gewand.
Die »Aufmärsche und Aufzüge«, angemeldet und dirigiert von einem »Führer und Leiter«, wie es gleichfalls das 53er Versammlungsgesetz statuierte, wandelten sich im Zuge der Studentenbewegung, der Roter-Punkt-Aktionen und der daraus sich entwickelnden neuen sozialen Bewegungen in den sechziger und siebziger Jahren zu demokratischen Formen »von unten«. Entdeckt wurde das Grundrecht auf öffentliche Versammlungen als ein »ungebärdiger Ausdruck unmittelbarer Demokratie« (Konrad Hesse).
Dieses Recht wurde zugleich zum Gegenstand eines Dauerstreits. Seither dauern regierungsamtliche, gesetzliche und polizeilich exekutierte Versuche an, es drastisch einzuschränken. Ihm soll in jedem Fall ein restriktiv-repressiver Charakter anhaften, der »Normalbürger/innen« abschreckt, sich an Demonstrationen zu beteiligen. Diesen Versuchen, das ist zu loben, widersprach wenigstens einmal und nachdrücklich das Bundesverfassungsgericht mit seinem so genannten Brokdorf-Urteil von 1985. In diesem Urteil wurden Demonstrationen vom höchsten deutschen Gericht erstmals prinzipiell uneingeschränkt anerkannt. Gegen die regelmäßig wiederholten Versuche rechtlicher und administrativ-polizeilicher Einschränkung positioniert sich gleichfalls eine Minderheit grundrechtlich-demokratisch gesonnener Richterinnen und Richter. Diese gibt es in der BRD glücklicherweise. Erst jüngst hat ein Verwaltungsgericht die grundrechtsblinde »Allgemeinverfügung« eines pauschalen Demonstrationsverbots rund um Gorleben durch die zuständige Lüneburger Bezirksregierung kurzfristig aufgehoben.
Für die meisten Demonstrationen gilt heute, dass sie polizeilich fast »zu Tode geschützt« werden. Diese Beobachtung trifft auch und besonders auf Demonstrationen rechtslastiger Gruppen zu. Genauso gilt sie aber für Demonstrationen von Gruppen, die sich, radikaldemokratisch engagiert, in der Regel »Antifaschisten« nennen, und dabei auch Leute motivieren und mobilisieren, die die nationalistisch überbordenden, ausländerfeindlichen, nicht selten antisemitisch getönten Aktionen von rechts nicht ertragen können. Zwar werden angemeldete Demonstrationen in der Regel nicht vollständig verboten. Sie werden jedoch häufig räumlich erheblich verschoben. Vor allem aber entwickelt sich der Polizeischutz von, genauer gesagt vor Demonstrationen in zweierlei Hinsicht:
Zum Ersten: NPD-Demonstranten – so will ich der Kürze halber, und um den Verfassungsschutzterminus »Rechtsextremisten« zu vermeiden, alle nationalistisch bornierten Leute nennen – werden zuerst gefiltert, auch, wie ich dies selbst in zwei Fällen in Dortmund vor Jahren und neuerdings in Berlin beobachtet habe – ihrer ledernen Schaftstiefel und anderer potenziell gewalttätig brauchbaren Mittel entledigt. Diese Gruppen werden dann polizeilich so eingekreist und verdeckt, geradezu »vermummt«, dass die Neonazis eine öffentliche Demonstration polizeilich eingeschlossen ausführen.
Das, was den NPD-Demonstranten polizeilicherseits geschieht, geschieht ebenso, mal mehr, mal minder den Demonstrierenden, die sich gegen diese Neonazigruppen stellen. Auch sie haben keine Chance zu demonstrieren. Jedenfalls erreichen sie ihren Widerpart nicht. Auch sie können nur polizeivermummt agieren. Auf diese Weise werden zum einen gewalthafte Konfrontationen zwischen den beiden Gruppierungen vermieden. Es wird jedoch auch das Grundrecht, sich, wie es in Art.8 GG heißt, »friedlich … unter freiem Himmel zu versammeln«, auf das Recht reduziert, in einem polizeilichen cordon sanitaire einige reichlich sinnlose Nicht-Demonstrationszeit zu verbringen. Der politische Meinungskampf wird in getrennten Polizeischläuchen, aufwendig, aber risikolos, unöffentlich abgebunden.
Zum Zweiten: Dieser Polizei-»Verschlauchung« der Demonstrationen entspricht die Art und Weise, wie vor allem gegen diejenigen, die an den Demonstrationen wider die NPDler teilnehmen, vielfach vorgegangen wird. Mit Hilfe der zahlreichen neuen Polizeigesetze, die aktuell in den meisten Ländern vorwärtsverrechtlicht werden, im Sinne weit dehnbarer polizeilicher Ermächtigungsgesetze, werden die jeweils aktuell eingesetzten Polizeitruppen, ihre Beamtinnen und Beamten, abschreckend, behindernd und verhindernd tätig.
Dass es im Umkreis von Demonstrationen für deren Teilnehmende keinerlei »informationelles Selbstbestimmungsrecht« gibt, wie es das Bundesverfassungsgericht 1983 aus Art.2 GG hergeleitet hat, versteht sich längst von selbst. Die nicht nur situative, sondern einzelne Gesichter genau identifizierend aufzeichnende Videoüberwachung erscheint dabei fast noch als das »harmloseste« Mittel. Die abschreckenden, einzelne Personen präventiv herausgreifenden, repressiven Maßnahmen heben in den letzten Jahren auch im Kontext von globalisierungskritischen Demonstrationen damit an, dass aufgrund vorab fragwürdig gespeicherter Namen, bekannte potenzielle Demonstrationsteilnehmende zuhause unversehens Herren- und Damenbesuch der Polizei erhalten. Solche präventiv gerichteten, repressiv ausgeführten Maßnahmen enden in der Art, wie Teilnehmende durch Kontrollspaliere geschleust werden oder, je nach Situation, zeitweise – 24 und mehr Stunden ohne anwaltliche Hilfe, je nach Polizeigesetz – »in Haft« oder »in Gewahrsam genommen« werden.
Diesem kurzen, grundrechtsprinzipiell eingeleiteten Überblick will ich drei Schlussfolgerungen folgen lassen: 1. Das Recht auf Demonstration gilt für alle – auch für NPD-Mitglieder. 2. So sehr es die Pflicht der Politik und ihres Exekutivorgans, der Polizei, ist, gewalttätige Auseinandersetzungen möglichst zu unterbinden, so wenig geht es an, das Demonstrationsrecht bis auf einen symbolischen Rest polizeisichernd aufzuheben. Und 3. ist es nicht akzeptabel, dass vor allem gegen Neonazis gerichtete Demonstrationen wenn nicht verboten, so doch massiv und mit abschreckender Absicht behindert werden. So, wie gegenwärtig behindert wird, läuft der politisch zu verantwortende polizeiliche Einsatz geradezu auf eine verhaltene Sympathieerklärung für die NPD hinaus.
Der emeritierte Politikprofessor Wolf-Dieter Narr lehrte bis zum Jahr 2002 an der FU Berlin. Er ist Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und regelmäßig als Demobeobachter unterwegs.
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