Von Peter Nowak
Vom Sturm auf die Gipfelorte zur Blockade – der libertäre Teil der globalisierungskritischen Bewegung
Während die globalisierungskritische Bewegung in der Flaute ist, scheint das Interesse an der Zeit zu wachsen, als internationale PolitGipfel von länderübergreifenden Massenprotesten begleitet waren. So hat der Laika-Verlag gerade einen Film von Verena Vargas wieder ausgegraben, die den Sonderzug von Globalisierungskritikern zu den G8-Protesten nach Evian im Juni 2003 begleitet hatte. In »evainnaive« zeigt Vargas auch, wie in zahlreichen Plena in einem speziellen Waggon die direkte Demokratie auf die Probe gestellt wurde. Für den israelischen Sozialwissenschaftler und Anarchisten Uri Gordon sind diese Versuche von Selbstorganisierung Beispiele für aktuelle anarchistische Theorie und Praxis.
Der Mitbegründer der Anarchists against the Wall, die sich gegen Krieg und Besatzungen wenden, war Anfang des Jahrtausends in Europa unterwegs und beteiligte sich an globalisierungskritischen Aktionen auf dem ganzen Kontinent. Seine Erfahrungen hat er in dem Buch »Hier und Jetzt« zusammengefasst, das auf Deutsch im Nautilus Verlag erschienen ist. Darin verbindet sich eine sympathisierende Binnensicht auf die libertäre Strömung der Bewegung mit deren wissenschaftlicher Einordnung.
Im Mittelpunkt stehen die länderübergreifenden Netzwerke, die über mehrere Jahre unter dem Label »dissent« firmierten. Auch wenn sich viele der Aktivisten nicht als Anarchisten bezeichnen, orientieren sie sich in der politischen Praxis an libertären Grundsätzen. Dazu zählt Gordon, dass sie statt Forderungen an Regierungen zu richten, auf direkte Aktionen setzten. So wurde in der ersten Phase der globalisierungskritischen Bewegung der Sturm auf die Gipfelorte propagiert. Nachdem der Versuch im Jahr 2001, die rote Zone beim G8-Gipfel in Genua zu erreichen, einen massiven Polizeieinsatz mit einem toten Demonstranten und vielen Schwerverletzten zur Folge hatte, verlegten sich die libertären Zusammenhänge auf Blockaden der Zufahrtswege zu den Gipfelorten. Sowohl 2003 in Evian als auch 2005 im schottischen Gleneagles beteiligten sich Zehntausende an dieser Aktionsform.
Auch die Unterbringung der Demonstranten während der mehrtägigen Gipfelproteste war an anarchistischen Grundsätzen orientiert. So wurden in den Protestcamps libertäre Bereiche aufgebaut, in denen das Zusammenleben als Kommune im Kleinformat praktiziert werden sollte. Dass die häufigen Plena manch überzeugten Anarchisten vergraulten, wird auch bei Gordon thematisiert. Ausführlich widmet er sich darüber hinaus den informellen Machtunterschieden in anarchistischen Netzwerken und plädiert für eine Rehabilitierung der »Lagerfeuerinitiativen«, womit ähnlich dem Kneipengespräch nach Polittreffen das gemütliche Beisammensein an der Feuertonne gemeint ist. An diesen Orten werden Netzwerke geschmiedet und Aktionsideen konkretisiert. Dort können Menschen zu Wort kommen, die sich in Plena nicht durchsetzen können oder wollen.
Gordon relativiert auch die Bedeutung des Internets für die Bewegung. Die dissent-Netzwerke stützten sich meist auf Gruppen, deren Mitglieder lange befreundet waren und die in der gemeinsamen Arbeit Erfahrungen gesammelt hatten. »Das internetgestützte Networking ist nur der abstrakteste Ausdruck der tatsächlichen und mit richtigem Leben erfüllten Prozesse, bei denen Kooperation und gegenseitiges Vertrauen vor Ort aufgebaut wurden.«
Gordon zeigt in seinem Buch auch die Grenzen anarchistischer Praxis auf. Daher ist es auch für Leser interessant, die mit dem von ihm propagierten Konzept des Bioregionalismus, nachdem sich die Menschen im Einklang mit der Natur in kleinen Regionen vernetzen sollen, ebenso wenig identifizieren können wie mit seinen positiven Bezügen auf einen vor allen in den USA propagierten Primitivanarchismus, der Technik und die Zivilisation zum Feind erklärt.
Gordon Uri: Hier und Jetzt, Anarchistische Praxis und Theorie. Aus dem Englischen von Sophia Deeg, Nautilus Verlag, 256 S., 18 €
Attac, Gipfelstürmer und Straßenkämpfer. DVD und Buch, Bibliothek des Widerstands, Laika Verlag, 24,90 €.
Source: http://www.neues-deutschland.de/artikel/188303.lob-der-lagerfeuer-initiative.html