Juni 2007. Ein unübersehbarer Zug von DemonstrantInnen aus der ganzen Welt zieht aus Protest gegen das Gipfeltreffen der G8-Staaten durch die Straßen von Rostock. Zehntausende begrüßen die Regierungschefs bereits auf dem Rollfeld des Flughafens und blockieren den noblen Tagungsort Heiligendamm. Immer wieder gerät der Ablauf des Treffens ins Schwanken, da die Logistik des Gipfels durch einfallsreiche Aktionen gestört wird. Im Fokus der Öffentlichkeit stehen nicht die Verlautbarungen der Mächtigen, sondern die Vielfalt des Protestes und des Widerstands. Die Delegitimierung der G8 ist keine Forderung mehr, sie ist das, was auf den Straßen, an den Sperrzäunen und in den Debatten der Camps und des Gegengipfels geschieht – und was weltweit als Ereignis von Rostock wahrgenommen wird. Ein Jahr lang hatten sich die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, die Kampagnen engagierter ChristInnen, verschiedene Nichtregierungsorganisationen, GlobalisierungskritikerInnen, die Parteien der parlamentarischen und die Netzwerke der radikalen Linken darauf vorbereitet. Ihr gemeinsames Auftreten, ihr politischer Wille, sich gerade in ihrer Verschiedenheit nicht voneinander trennen zu lassen, ließ die mediale Desinformation ebenso ins Leere laufen wie die polizeiliche Repression.
Unsere Chance, Rostock zu einem solchen Ereignis zu machen, geht auf die Proteste in Seattle, Prag, Genua und Florenz zurück. Diese Möglichkeit ist auch ein praktisches Resultat der Debatten der Sozialforen, der globalisierungskritischen und radikalen Linken in Deutschland, in Europa und weltweit. In ihr kommt zusammen, was in zahllosen lokalen Kämpfen ausgefochten wird, hier und überall auf dem Planeten. Nutzen wir diese Gelegenheit, führt das weit über Heiligendamm und Rostock, weit über jede Anti-G8-Kampagne hinaus.
Die Delegitimierung der G8 ist nur ein Schritt im Aufbruch einer weltweiten Bewegung gegen die neoliberal globalisierte kapitalistische Herrschaft. Die Interventionistische Linke versteht sich als Teil dieses Aufbruchs. Wir kommen aus verschiedenen Generationen und unterschiedlichen Spektren der undogmatischen radikalen Linken, sind in Antifa-Organisierungen, in verschiedenen sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen aktiv, arbeiten als einzelne, doch koordiniert in Gewerkschaften, sozialen Verbänden und alternativen Projekten. Getroffen haben wir uns im Aufbruch der anti-neoliberalen und globalisierungskritischen Kämpfe.
Für eine radikale Intervention in die gesellschaftlichen Verhältnisse
Wo auch immer seit einigen Jahren die G8, die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, die Koordinationen der NATO und der EU zusammen kommen, die Karawane der neuen Widerstandsbewegung ist bereits vor Ort, um dem neoliberalen Weltmanagement entschieden die Zähne zu zeigen. Denn während diese Treffen beanspruchen, die legitime Repräsentanz der „zivilisierten Welt“ zu sein, organisieren sie den Fortgang eines Zerstörungsprozesses, in dem – ein Beispiel – weltweit in jeder Sekunde ein Mensch an Unterernährung stirbt.
Sie sprechen von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, von der Demokratie und der uneingeschränkten Marktkonkurrenz als der gesetzmäßig wirkenden Voraussetzung des Glücks und Wohlstands aller. Währenddessen wächst das weltweite Heer der „Überflüssigen“, verstärkt sich mit jeder weiteren sozialen Entsicherung des Lebens die Notwendigkeit zur militärischen Sicherung des freien Flusses der Waren und Profite, wird der Krieg zur Weltinnenpolitik, die Menschenrechte im Namen der Menschenrechte außer Kraft gesetzt und Folter wieder hoffähig.
Die G8 delegitimieren zu müssen, ist unsere Aufgabe allerdings nur deshalb, weil sie sich Legitimität trotz allem zu erwerben wussten. Wenn die G8 versprechen, Weltordnung zu schaffen und zu sichern, fällt ihnen allgemeine Anerkennung auch deswegen zu, weil weltweit wirklich Millionen von Unsicherheit bedroht werden. Wenn die G8 die marktförmige und arbeitsteilige Konkurrenz um Glück und Wohlstand von jeder Einschränkung befreien, fällt ihnen Anerkennung auch und gerade deshalb zu, weil das Konkurrieren ums Überleben millionenfach Alltäglichkeit ist, also Strategie des eigenen, sei's noch so elenden Daseins ist und sein muss.
Die Linke neu erfinden
Wollen wir die Legitimität der G8 in Frage stellen, untergraben und letztlich zerstören, müssen wir andere Antworten auf die globale Verunsicherung des Überlebens, andere Antworten auf den alltäglichen Zwang zur Konkurrenz finden. Andere Antworten nicht nur als die des neoliberalen Diskurses, sondern auch als die der historischen Linken und der historischen sozialen Bewegungen. Denn die Kette der „humanitären Interventionen“ und die Konfusion, Desorientierung und der nicht selten offen reaktionäre Charakter der Widerstände gegen den imperial(istisch)en Krieg belegen unübersehbar, dass internationale Solidarität – das A und O jeder emanzipatorischen Initiative – heute nicht mehr umstandslos als Einheit der Linken im Norden mit den Aufständen im Süden gedacht werden kann.
Zugleich kann der Widerstand gegen alltägliche Ausbeutung und Ausgrenzung „vor Ort“ nicht mehr nur in der für die ArbeiterInnenbewegung grundlegenden Identität einer „universellen Klassenlage“ der Ausbeutung begründet werden. Auch die für die Neuen Sozialen Bewegungen leitende Berufung auf die Differenz der Erfahrung patriarchaler oder rassistischer Herrschaft reicht nicht aus. Dem steht schon allein die tief greifende Verunsicherung des alltäglichen Überlebens und der individualisierenden Zersplitterung aller sozialen Zusammenhänge entgegen.
Dies nicht etwa, weil es nicht nach wie vor klassenspezifische Ausbeutung oder patriarchale oder rassistische Herrschaft gäbe, sondern weil die ausgebeuteten Klassen in eine hochgradig ausdifferenzierte Hierarchie der Prekarisierung aufgelöst und „Differenz“ und „Subjektivität“ zu Kampfbegriffen des neoliberalen Kommandos umfunktioniert wurden, in der und mit dem die Leute in die Konkurrenz ums Überleben gehetzt werden. Klasse ist durch den Klassenkampf bestimmt. Aufgabe der Linken ist, die existierenden Bedingungen eines potenziellen kollektiven Ausbruchs zu identifizieren und als politischen Entwurf zu artikulieren. Die Herrschaft des Kapitals, den Neoliberalismus und also die G8 delegitimieren zu wollen, heißt unter den aktuellen Umständen deshalb auch in letzter wie erster Konsequenz zugleich die Linke und die sozialen Bewegungen neu erfinden zu müssen.
Bewegung der Bewegungen
Die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm kann an Erfahrungen anknüpfen, die in Seattle, Genua und Florenz, aber auch in Caracas, La Paz und jüngst in Oaxaca gewonnen wurden. In diesen Erfahrungen gründen Initiativen, die der systematischen Entrechtung eine Globalisierung sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Rechte als WeltbürgerInnenrechte entgegensetzen und dabei mit dem Recht auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit den unumgänglichen Anfang machen.
Diese Initiativen berühren sich mit den Widerständen gegen die militärische Abschottung der Metropolen und den imperial(istisch)en Weltordnungskrieg ebenso wie mit denen gegen die alltägliche Verschärfung der Ausbeutungs- und Arbeitsregime. Wo diese Kämpfe sich kreuzen, wird überall, wenn auch nicht ohne Widersprüche und bisweilen quälende Auseinandersetzungen, der Anspruch auf die Unentgeltlichkeit des Lebens erhoben, der sich beispielsweise materiell in einem bedingungslosen Existenzgeld für alle konkretisiert, ganz allgemein aber die um sich greifende Durchkapitalisierung der Lebensverhältnisse und den Zwang zur Lohnarbeit angreift.
In dem Anspruch auf die Unentgeltlichkeit des Lebens verbinden sich die Forderung nach einer Umkehr der Stoff- und Ressourcenströme von Nord nach Süd, die im ersten Schritt den bedingungslosen Erlass aller Schulden des globalen Südens und Reparationszahlungen für die koloniale und imperialistische Ausbeutung verlangen. In der Radikalisierung, Ausweitung und Entwicklung all' dieser Initiativen werden und müssen sich letztendlich auch die „alte“ Macht- und Eigentumsfrage neu stellen, sie werden sich als weltgesellschaftliche Fragen stellen und damit die Frage nach einem Bruch mit dem System des klassenherrschaftlich, patriarchal, rassistisch und imperial(istisch) kodierten Privateigentums in unsere Gegenwart zurückbringen.
Denn noch immer ist die Welt nichts anderes als das, was die Geschichte der sozialen Kämpfe aus ihr machen wird. Das befreite Leben kann nur im Horizont der Überwindung aller Herrschaftsverhältnisse erfahrbar werden.
Das Gemeinsame
Wir können diese Chance nur gemeinsam und als unsere gemeinsame Chance nutzen. Unter diesem „Wir“ verstehen wir nicht bloß die Gruppen und Projekte des Netzwerks der Interventionistischen Linken. „Wir“ meint auch nicht einfach die verschiedenen Spektren der außerparlamentarischen und parlamentarischen Linken. „Wir“ meint, was man seit Seattle die „Bewegung der Bewegungen“ nennt. „Wir“ meint eine globale Konstellation emanzipatorischer Politiken, die über die Linke und über die älteren und jüngeren sozialen Bewegungen hinausreicht. Es gibt international das Potenzial gemeinsam der Herrschaft des Kapitals zu widerstehen. Diese Möglichkeit und Notwendigkeit zum Widerstand zu organisieren und darin sein Gemeinsames zu erfinden, wird heute anderes und mehr werden, als was früher „Bündnis“ oder „Block“ genannt wurde. Weder gibt es heute ein Industrieproletariat, dass in den Arbeiterparteikonzepten die einzige Klasse war, die wirksam gegen das Kapital kämpfen konnte, noch sind die Bewegungen „Vorfeld“ und „Massenprozess“ einer Linken, die ihre Avantgarde wäre; weder ersetzen die Bewegungen in ihrer Vielfalt und Spontaneität, was sich als „Linke“ von ihr differenziert, noch entfällt der Streit zwischen unterschiedlichen Weisen des Linksseins. Doch zielt dieser Prozess weder auf eine letzte Einheit noch auf eine endgültige Trennung. Für eine kommende Linke wird die Kommunikation der Initiativen und der Kämpfe kein Mittel zu einem außer ihr liegenden Zweck sein, sondern das Mittel, das selbst ein Zweck ist zur Konstruktion des Gemeinsamen, des Kommunen. Wirksam wird dies allerdings nur im praktisch-erprobten Spiel der Unterschiede, in der offenen und solidarischen Konstellation seiner Differenzen und in der entschiedenen Intervention in die gesellschaftlichen, sprich: Herrschaftsverhältnisse.
Vor dem Gipfel, nach dem Gipfel
Eine globale Alternative zur global governance von Kapital, Patriarchat und Rassismus ist die Sache einer gemeinsamen, d.h. in sich vielfältigen, unterschiedlichen Gegenmacht in Bewegung. In diese Bewegung linksradikal zu intervenieren, ist keine Frage der Rhetorik, sondern eine der praktischen Verbindung der Kämpfe, die auf deren Radikalisierung zielt. In der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel können und sollen unserer Ansicht nach die AktivistInnen der Sozialproteste, der Umwelt- und Friedensbewegung, der linken Gewerkschafts- und Menschenrechtsarbeit, der Selbstorganisation der MigrantInnen, der globalisierungskritischen Netzwerke und der verschiedenen Strömungen der Linken darüber in Kommunikation treten. Dem gilt unsere Intervention, als eine in der Tendenz das System aufsprengende und deshalb linksradikale Intervention. Das Maß des Gelingens liegt zuerst im solidarischen Verhältnis aller Beteiligten zueinander, in der Transparenz der Auseinandersetzung, der Verlässlichkeit der Übereinkunft, der gegenseitigen Akzeptanz und Respektierung unterschiedlicher Aktions- und Ausdrucksformen.
Es liegt aber auch, was kein Widerspruch ist, in dem, was am Anfang steht: der Ablehnung der G8, des Neoliberalismus, der globalen Herrschaft des Kapitals in einer massenhaften Verweigerung und Rebellion in den Straßen Rostocks und vor den Zäunen Heiligendamms, damit es sich weltweit mitteilt. Deshalb beteiligen wir uns an allen Demonstrationen, Aktionstagen und Gegenaktivitäten. Deshalb wollen wir die Ankunft der acht Staats- und Regierungschefs zu ihrem Desaster werden lassen. Deshalb sind wir in der „Block G8“, in der sich zahlreiche Gruppen mit unterschiedlichen Protest- und Widerstandstraditionen zusammengetan haben, um das Treffen der G8 zu Tausenden effektiv zu blockieren, in einer solidarischen Aktion des gemeinsamen Ya Basta! Es reicht! Deshalb rufen wir auf, in allen Städten und Regionen lokale, spektrenübergreifende Bündnisse und Netzwerke zu bilden, die die lokalen Auseinandersetzungen mit den globalen Kämpfen verbinden: den Alltag einer anderen Globalisierung, der anderen Welt, die in unseren Kämpfen schon aufscheint. Join the winning side!
Interventionistische Linke, Dezember 2006