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2008-01-17

Turbulence: Ins Licht hinein?

Epilog zu einem turbulenten Jahr 2007

Es ist Nacht, und ein Mann kriecht auf seinen Knien herum: er sucht seinen Autoschlüssel unter einer Straßenlaterne. Eine Frau kommt vorbei und hilft ihm. Nach einiger Zeit fragt sie den Mann: „Sind Sie sicher, dass Sie den Schlüssel hier verloren haben?“

Der Mann antwortet: „Nein, ich glaube, ich hab’ ihn woanders verloren.“

„Aber warum suchen wir dann hier?“, entgegnet sie.

„Weil hier Licht ist.“

Anfang 2007 bat das Turbulence-Kollektiv 14 AutorInnen aus der globalen ‚Bewegung der Bewegungen’ darum, folgende Frage zu beantworten: „Was würde es bedeuten, zu gewinnen?“ Die Antworten wurden von uns in einer Zeitung zusammengestellt, die wir in einer Auflage von 7000 Exemplaren druckten. Die meisten von ihnen wurden bei der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel im Juni in Heiligendamm verteilt. Jetzt, einige Monate später, kehren wir zur Frage des ‚Gewinnens’ zurück.

Es ist keine Überraschung, dass wir hierbei immer wieder auf das Problem der Sichtbarkeit stoßen. Wann immer wir über die Frage des Gewinnens nachdenken, wird unser Blick in Richtung des deutlich Sicht- oder Messbaren gelenkt, etwa auf Veränderungen von Gesetzen oder Institutionen, die Eröffnung eines sozialen Zentrums, oder steigende Mitgliederzahlen. Denn dort ist das Licht. Aber wir müssen auch lernen, unsere Siege im zwar weniger handfesten aber genauso realen Feld der Möglichkeiten beurteilen zu können. Hier kann zu ‚gewinnen’ bedeuten, unser Potenzial zu erweitern, oder Wahrnehmungen und Verhaltensmuster zu verändern. Aber solche ‚Siege’ liegen scheinbar am Rande des Lichtkegels.

Dies führt zu einem weiteren Problem: Unsere Erfahrungen werfen ihr eigenes Licht und schaffen daher auch ihre eigene Dunkelheit. Wenn wir über das Gewinnen nachdenken, denken wir automatisch an Bewegungen, an Menschen und Ereignisse, die uns vertraut sind; und wir haben bestimmte Vorstellungen davon, was als Sieg gilt. Daher stellt sich die Frage, wie wir diese Blindheit überwinden können, die sich einstellt, sobald wir den Blick über das uns Bekannte hinaus schweifen lassen. In gewisser Hinsicht war genau diese Fähigkeit, über unseren eigenen Tellerrand zu blicken, der Schüssel für die Ereignisse von Heiligendamm.

Heiligendamm: Same procedure as every year?

In vielerlei Hinsicht verlief der G8-Gipfel in Heiligendamm genau wie erwartet: eine Wiederholung von Gegengipfelmobilisierungen seit Seattle und darüber hinaus (Prag, Göteborg, Genua, Cancun, Gleneagles). Bei jedem dieser Ereignisse kam ein breites Spektrum von AkteurInnen in produktiver Kooperation zusammen, wobei es gelang, Räume zu öffnen und (oft hinter dem Rücken der Beteiligten) Kontaminationsprozesse in Gang zu setzen, die wiederum zur Politisierung einer neuen Generation von AktivistInnen führten. Einerseits wurde dort die Legitimität globaler Herrschaft praktisch in Frage gestellt (durch die Ablehnung von Dialog, und die Blockade der Zufahrtsstraßen zum Tagungsort), andererseits wurden durch Diskussionen und Aktionen in den Camps und Convergence Centers neue Gemeinsamkeiten und Mutationen produziert.

Allerdings hatten frühere Gipfelmobilisierungen auch die Grenzen derartiger Ereignisse aufgezeigt. Nach Seattle 1999 war klar, dass sich der Affekt, der in solchen Massenaktionen auf der Straße produziert wird, nicht ohne weiteres in eine alltägliche Praxis der Transformation übertragen lässt. Zwei Jahre später zeigte sich in Göteborg und Genua, welchen Preis eine Bewegung zahlt, wenn sie sich auf die Logik des (beinahe) symmetrischen Konflikts einlässt: Gefängnis, Verletzung, Tod. Und dass im Jahr 2005 in Gleneagles 300.000 Menschen für die G8 demonstrierten, verdeutlichte, wie schnell die Wünsche einer Bewegung eingefangen und gegen sie selbst gewendet werden können. Wenn also die Beschränkungen derartiger Mobilisierungen und Aktionsformen bereits hinlänglich bekannt waren, und Heiligendamm vor allem versprach, eine Wiederholung dieser Ereignisse zu werden – wie in aller Welt sollte es dann anders werden?

Manchmal aber ist das, was als bloße Wiederholung erscheint, in Wirklichkeit gar keine Wiederholung, zumindest nicht in dem Sinne, dass immer wieder genau das Gleiche geschieht. Anstatt zu einem bestimmten Punkt in einem Kreislauf zurückzukehren (zum Beispiel ‚Seattle nach Deutschland zu bringen’), ging es in Heiligendamm darum, einen unvorhersehbaren Prozess der Veränderung anzustoßen, der über die Erfolge, aber auch die Beschränkungen der Vergangenheit hinausgehen würde. Heiligendamm sollte weniger bloße Wiederholung als vielmehr ein Experimentieren mit Formen der Politik sein, in welchem gegebene Identitäten eher durchbrochen als bestätigt werden.

Im Vorfeld des Gipfels durchliefen die an der Organisation der Proteste beteiligten Gruppen eine Art Transformationsprozess, in dessen Verlauf sie dem Ziel zu einer wirklichen ‚Bewegung der Bewegungen’ zu werden entscheidend näher kamen. Ein breites Spektrum von Gruppen – von der autonomen radikalen Linken bis hin zu Menschen, die ökumenische Gebetsstunden gegen Armut organisierten – entwickelte eine gemeinsame ‚Choreographie des Widerstandes’. Während radikalere Gruppen versuchten, die Rahmenbedingungen der Koalition zu bestimmen (Delegitimierung der G8 sowie Toleranz verschiedener Aktionsformen), gab es trotzdem eine allgemeine Bereitschaft zu Kompromissen und gemeinsamen Absprachen in Bezug darauf, welche Aktionsformen wo und wann angemessen seien. So ging Heiligendamm über das Prinzip der ‚Vielfalt der Taktiken’, welches mittlerweile zum Allgemeinplatz geworden war, hinaus und kehrte zum ursprünglichen Prinzip der gegenseitigen Befruchtung zurück. Statt dass verschiedene politische Milieus verschiedene Aktionsformen anwendeten – solidarisch miteinander, aber ohne ihre eigenen Identitäten zu gefährden – ging es in Heiligendamm eher um ein ‚Zusammen-anders-Werden’. Es ging darum, gemeinsam Aktionsformen zu entwickeln und durchzuführen, die für alle Beteiligten neu waren, es ging um Aktionen und Bündnisse, welche die daran teilnehmenden AktivistInnen aus ihrer gewohnten Umgebung herausführten, in Richtung der praktischen Konstitution neuer Gemeinsamkeiten und somit neuen gemeinsamen Potenzials.

Wie steht’s?

Heiligendamm war zwar kein quantitativer Höhepunkt in der Geschichte der Bewegung für eine andere Globalisierung (sowohl in Genua als auch Gleneagles waren ungefähr vier Mal so viele Menschen versammelt), aber in qualitativer Hinsicht schien ein neuer Höhepunkt in der Tat erreicht worden zu sein. Es war ein ‚Sieg’, weil es ein Moment der Wieder- und Neuzusammensetzung war, nicht nur für die Linke in Deutschland. Gleichzeitig fehlte aber auch etwas an diesem Sieg: das Gefühl, die andere Seite besiegt zu haben. Natürlich konnten unsere Massenblockaden einige Erfolge gegen die Polizei und die GipfelorganisatorInnen erzielen. Angela Merkel aber konnte an Legitimität dazugewinnen, indem sie den ‚widerspenstigen Amis’ eine Vereinbarung zum Klimawandel aufzuzwingen schien. Und die G8? Die feiern den Gipfel in Heiligendamm als einen ihrer bisher erfolgreichsten. Dort vermochten sie den Eindruck zu erzeugen, dass die Mächtigen der Welt wirklich die ‚globale Herausforderung’ des Klimawandels zu meistern suchen.

Als die G8 gegen Ende der 80er Jahre zum ersten Mal das Ziel massiver Proteste wurden, war es noch verhältnismäßig leicht, die Illegitimität ihrer Aktivitäten aufzuzeigen. Noch 1999, als sie bei ihrem Gipfel in Köln etwas unbeholfen auf Aktionen sozialer Bewegungen im globalen Süden (und einiger nördlicher NGOs) reagierten, indem sie Schuldenerlassprogramme verabschiedeten, nahm kaum jemand sie ernst. Aber die G8 definierten sich und ihre Rolle neu: Sie präsentierten sich nicht mehr nur als eine Arena, in der die kapitalistischen Großmächte ihre Differenzen austragen konnten, sondern nun auch als den einzigen Ort, an dem globale Herausforderungen gemeinsam angepackt werden können. Anders ausgedrückt: aufgrund der Angriffe auf ihre Legitimität wurde die Relegitimierung ihrer weltweiten Autorität zum Hauptziel. Und dies gelang prächtig. Im schottischen Gleneagles brachte eine groß angelegte und von der britischen Regierung geförderte NGO-Mobilisierung ca. 300.000 Leute auf die Straße. Aber nicht um gegen die G8 zu demonstrieren, sondern um sie willkommen zu heißen und sie freundlich um mehr Schuldenerlasse und Entwicklungshilfe für Afrika zu bitten.

Die in Schottland aufgrund der Vereinnahmung der Proteste durch eine effektive PR-Offensive verlorene Initiative wurde in Heiligendamm erfolgreich zurück gewonnen: alle großen Aktionen hatten sich das ausdrückliche Ziel gesetzt, die G8 zu delegitimieren. Das Problem war allerdings, dass die G8 sich schon wieder weiterbewegt hatten und jetzt versuchten, Legitimität aus dem Anschein zu schöpfen, sie hätten sich des weithin Besorgnis erregenden Problems des Klimawandels angenommen. Und auf eben diesem Feld wurden wir besiegt. Unsere Aktionen in Heiligendamm waren nicht in der Lage, die Relegitimierung der G8 durch das Thema ‚Klimawandel‘ in Frage zu stellen, und agierten somit an einem neuen politischen Schlüsselthema vorbei.

Wie konnte das passieren? Ein Grund dafür ist, dass wir noch kein Projekt entwickelt haben, das eine Alternative zur neuen, ‚ökologischen’ globalen kapitalistischen Agenda darstellen könnte: wie schlecht ihr Projekt auch sein mag, momentan haben wir ihm nichts entgegenzusetzen. Aber das Problem geht tiefer. Die angeblichen ‚Lösungen’ der G8 für den Klimawandel sind reine Fiktion, genau wie ihr Versprechen, die Armut aus der Welt zu verbannen (‚Make Poverty History’). Trotzdem ist es nicht genug, dieser Fiktion einfach nur unsere eigene entgegensetzen. Wir wissen einfach nicht, wie das Problem ‚Klimawandel’ zu ‚lösen’ ist. Niemand von uns kann so weit, oder so klar sehen. Wir können uns nur von einem Lichtkegel zum anderen bewegen.

Wo sind die Grenzen? Kapital, Krise, Klimawandel

Es ist kein Zufall, dass wir von den G8 direkt zum Klimawandel übergehen, der mittlerweile zu einem zentralen Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden ist. Sozialen Bewegungen eröffnet dies die Möglichkeit der Entstehung eines neuen politischen Handlungsschwerpunkts. Ereignisse wie das Climate Action Camp in England, das massiv Aufmerksamkeit erregte und 2008 in Deutschland, den USA, Schweden und anderswo wiederholt werden soll, belegen dies auf eindrucksvolle Weise. Für Staat und Kapital wird der Klimawandel zu einem Schlüsselelement im Management des globalen Systems, sowohl auf der Ebene konkreter Entscheidungen, als auch der Ebene politischer Legitimation (von der Schaffung neuer Märkte ganz zu schweigen). Im Raum zwischen Bewegungen und Staaten verdeutlicht er die Unklarheit und Komplexität der Frage von Sieg und Niederlage. Insofern der Umweltaktivismus der vergangenen Jahre darauf abzielte, Bewusstsein für die Gefahren des Klimawandels zu schaffen, muss 2007 als das Jahr angesehen werden, in dem ‚wir gewannen’. Alle, einschließlich der PolitikerInnen und großen Unternehmen, reden davon.

Aber gerade dieser Sieg kann sich am Ende als Niederlage herausstellen. Die weltweite Sorge über den Klimawandel muss sich anders ausdrücken als bisher, wenn sie tatsächlich den Lauf der Dinge beeinflussen, d.h. Kohlenstoffemissionen schnell und radikal reduzieren will. Einerseits heißt das, einen neuen Diskurs zu entwickeln, der verhindert, dass der Klimawandel einfach nur zu einer neuen Profitquelle für das Kapital gemacht wird. Allzu leicht kann es sonst passieren, dass das Thema Klimawandel dazu benutzt wird, den Beherrschten einmal mehr Verzicht zu predigen sowie verschärfte ‚Sicherheitsmaßnahmen’ und, im Kontext steigender geopolitischer Spannungen, neue Grenzkontrollen zu legitimieren. Wenn es aber um mehr gehen soll als nur eine Auseinandersetzung um die ‚öffentliche Meinung’ – denn in solchen Auseinandersetzungen sind wir immer in der Defensive – dann muss der Kampf auch auf dem Feld der Produktion und der gesellschaftlichen Reproduktion geführt werden.

Der Klimawandel wird gemeinhin als ökologisch-technisches Problem betrachtet, das ökologisch-technischer Lösungen bedarf. Problem: es wird zu viel Kohlenstoffdioxid ausgestoßen; Lösung: die Verminderung dieser Emissionen auf ein ‚akzeptables’ Niveau mittels technologischer Innovation, neuer Gesetze und dadurch, dass wir alle ‚unseren Beitrag leisten’. Dies birgt aber zwei Probleme. Erstens sind wir in fast allem, was wir tun, auf fossile Brennstoffe angewiesen und erzeugen daher CO2-Emissionen, egal ob wir zur Arbeit fahren, oder dort anrufen um krank zu feiern und DVDs zu schauen. Zweitens sind die notwendigen Verminderungen derart weitreichend (zwischen 60 und 90% bis 2050), dass sie einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel nötig machen, welcher kaum dadurch zustande kommen wird, dass sich die Umweltministerien der Welt zusammensetzen.

Der Klimawandel kann aber auch anders verstanden werden, und zwar indem wir die Welt als einen Stoffwechselkreislauf betrachten. Der Stoffwechsel der Erde, also ihre Fähigkeit Kohlenstoff zu verarbeiten, ist langsamer als der ‚Stoffwechsel’ des zeitgenössischen Kapitalismus. Die Ökonomie befindet sich auf Kollisionskurs mit der Biosphäre. Klimawandel bedeutet hier also eine Grenze der Ausdehnung des Kapitals und impliziert daher eine mögliche Akkumulationskrise.

Im Kapitalismus sind Grenzen aber etwas Merkwürdiges. Das Kapital hat eine interne Expansionsdynamik. Damit diese befriedigt werden kann, müssen Grenzen ignoriert, untergraben, umgangen oder sonstwie überwunden werden. Das Geheimnis der Langlebigkeit des Kapitals liegt gerade in seiner Fähigkeit, Grenzen und die Krisen, die sie produzieren, als Anfangspunkt einer neuen Runde der Akkumulation und Ausdehnung zu benutzen. Ein gutes Beispiel ist die Entstehung der so genannten keynesianischen/fordistischen Phase des Kapitalismus. Der hohe Organisationsgrad der industriellen ArbeiterInnenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht nur in der russischen Revolution, sondern darüber hinaus in hart geführten Kämpfen auf der ganzen Welt – erschien als eine Grenze der Ausdehnung des Kapitalismus und drohte, eine Akkumulationskrise auszulösen und das System zu zerstören. Der Wohlfahrtsstaat war die direkte Folge dieser Kämpfe, aber er war auch ein Weg, diese Bedrohung zu neutralisieren. Das größte Kunststück des Kapitals war es, mit den ArbeiterInnen einen Produktivitätskompromiss abzuschließen, wodurch aus einer Grenze der Motor einer neuen Phase kapitalistischen Wachstums wurde.

Was können wir hieraus über die wahrscheinlichen Reaktionen auf den Klimawandel lernen? Der Klimawandel ist ohne Zweifel eine Grenze, die für das Kapital ebenso viele Möglichkeiten wie Gefahren birgt. Viele versuchen jetzt, diese Grenze, diese potenzielle Krise in einen neuen Akkumulationsmotor zu verwandeln. Ein Beispiel dafür ist das Aufhebens, dass um den neuen Markt für Kohlenstoffemissionsrechte gemacht wird: Kohlenstoffsenken, Emissionszertifikate, Emissionsguthaben, Emissionsderivate, usw. Außerdem gibt es noch den ‚ökologischen Konsum’: Ökoautos, Solarbatterien, ökologischer Hausumbau. Könnte der Klimawandel der globalen Ökonomie einen neuen Anstoß, eine neue Dynamik geben? Steht uns eine neue ‚grüne’ Phase des Kapitalismus bevor, in welcher die Atmosphäre die Rolle spielt, die der ‚Cyberspace’ in den 90er Jahren innehatte? Möglich ist’s. Und es ist offensichtlich, dass Kohlenstoffemissionen dabei kaum radikal reduziert würden!

Eine kapitalistische Lösung wird natürlich nichts anderes tun, als den Kapitalismus zu reproduzieren. Die Effekte des Klimawandels sind ungleich verteilt und sehr viel schlimmer für die Armen, wie zum Beispiel Hurrikan Katrina in New Orleans oder der Tsunami in Aceh zeigten. Und die bisher gehandelten ‚Lösungen’ werden bestehende Hierarchien nur verfestigen. Die meisten ‚Ökosteuern’ führen zu höheren Preisen für Güter und Dienstleistungen und begrenzen dadurch Mobilität oder den Zugang zu Nahrungsmitteln und Heizung. Dass Reisen, Essen und Komfort abhängig sind von der persönlichen finanziellen Lage, ist natürlich nicht neu, sondern folgt den altbekannten Spielregeln. Aber jetzt werden diese Regeln damit begründet, dass sie zur Rettung der Erde notwendig seien. Der ‚grüne Kapitalismus’ wird also voraussichtlich ein neues Spar- und Disziplinarregime sein, das im Namen des ‚Gemeinwohls’ den Armen mehr abverlangt als den Reichen.

Das Auge des Sturms

Aber der Kapitalismus ist weder allmächtig noch unverwundbar. Wenn der Klimawandel tatsächlich eine Krise auslöst, macht es Sinn, darüber nachzudenken, was deren Dynamiken sein könnten.

Ein zentraler Aspekt, in zweierlei Hinsicht, ist die zeitliche Dimension. Erstens im Bezug auf das Problem der zeitlichen Verzögerung. Entscheidungen, die wir jetzt im Bezug auf den Klimawandel treffen, produzieren erst Jahrzehnte später spürbare Resultate. Aufgrund der thermischen Trägheit des Klimasystems besteht eine massive Verzögerung zwischen Ursache und Wirkung. Sollten die Auswirkungen des Klimawandels also außer Kontrolle geraten, kann es sein, dass dies mehrere Jahrzehnte lang so bleiben wird. Zweitens weisen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Dringlichkeit des Problems hin. Wenn wir verhindern wollen, dass die so genannten ‚Kipppunkte’ erreicht werden, an denen der Klimawandel potenziell unumkehrbar wird – mit katastrophalen Auswirkungen auf einen Großteil der Menschheit (zum Beispiel das Absterben des Regenwaldes im Amazonas) – müssen Emissionen innerhalb des nächsten Jahrzehnts drastisch reduziert werden.

Dieser Zeitdruck hat seine Vorteile. Ein Grossteil der ‚Bewusstseinsbildung’ der letzten zehn Jahre hat diese zeitliche Dimension ignoriert, und sich auf eine ‚Öffentlichkeit’, auf eine allgemeine ‚Andere’ bezogen, die über etwas informiert werden musste. Deshalb gab es keine Fristen, keinen allgemeinen Zeitplan, kein Bewusstsein der Verschärfung des Problems und keine klaren Ziele; wenn alles immer ‚gerade jetzt’ passiert, gibt es überhaupt keine Zeit. Die Dringlichkeit des Klimawandels aber stellt Fragen, die überhaupt nur aufgrund der Zeitvariable existieren, und zwar Fragen der Strategie und der Taktik.

Dies bringt uns zurück zur Frage nach dem ‚Gewinnen’. Manche sagen zum Beispiel, dass nichts so Großes in so kurzer Zeit geschafft werden kann, und dass wir uns deshalb am Besten schon jetzt auf das Schlimmste vorbereiten sollten. Lasst uns einfach das Licht ausschalten und uns fröhlich in die Dunkelheit aufmachen! Andere meinen, das Problem sei so massiv und dringend dass nur eine zentralisierte Institution wie der Staat in der Lage wäre, es effektiv anzugehen. Vor dem Abgrund des Unbekannten stehend ist es immer leicht, der Versuchung nachzugeben, in das sichere Licht des Staates zurückzukehren. Aber dieses gleißende Licht erhellt nicht nur, es macht auch blind.

Zum Beispiel Flugreisen: Das Wachstum des Flugverkehrs ist ein massives Umweltproblem, was uns leicht dazu verführen kann, neue Steuern auf Flugreisen zu unterstützen, oder gar die Menschen, die fliegen, als das eigentliche Problem zu betrachten. Sich vor allem auf dieses Thema zu konzentrieren könnte es aber schwieriger machen, die anderen Dynamiken zu erkennen, die hier ebenfalls am Werk sind. Insofern sie unsere Autonomie einschränken und kapitalistische oder staatliche Institutionen stärken, können bestimmte ‚Lösungen’ des Klimawandelproblems andere Kämpfe behindern und es schwerer machen, die tiefer liegenden Ursachen des Klimawandels zu bekämpfen. Notwendig ist ein Blickwinkel – eine Einstellung oder eine Ethik – der es uns erlaubt zu fragen, wie Klimapolitik Widerhall bzw. Resonanzen in anderen Kämpfen erzeugen kann. Nicht weil Bewegungen eine explizite, bewusste Verbindung bräuchten, um miteinander zu schwingen – das brauchen sie nicht. Aber Resonanzen und Dissonanzen müssen sichtbar gemacht werden. Wenn wir die Pfade sehen können, ist es leichter, ihnen zu folgen.

Wir dürfen uns also vom gleißenden Licht des Staates nicht blenden lassen – aber gleichzeitig können wir auch nicht einfach unsere Augen vor ihm verschließen. Wie also sollen wir uns gegenüber institutionalisierten Formen verhalten? Vielleicht können uns die jüngsten Ereignisse in Lateinamerika einige Hinweise geben.

Die Welt verändern, indem man die Macht übernimmt?

In den letzten Jahren erlebte Lateinamerika die Entstehung und Etablierung von Regierungen in verschieden Rottönen. Chavez in Venezuela, Morales in Bolivien und Lula in Brasilien riefen dabei am meisten internationale Diskussion hervor. Zu nennen sind aber auch Rafael Correa in Ecuador, Tabaré Vasquez in Uruguay, die Rückkehr Daniel Ortegas in Nicaragua und, wenn auch weniger eindeutig in der Zuordnung, Michelle Bachelet in Chile und die Kirchners in Argentinien. Diese nationalen Prozesse verlaufen nicht unabhängig voneinander, sondern haben zwei miteinander verwandte Motive gemeinsam: erstens ist das neoliberale Modell in der Region auf Grund gelaufen; zweitens hat die Bewegung der Bewegungen es geschafft, auf der institutionellen Ebene Spuren zu hinterlassen.

Sind diese institutionellen Erfolge also Anlass zur Freue, oder eher zur Trauer? Manche sehen diese Wahlerfolge als die einzigen konkreten Resultate der Jahre nach Seattle. So gesehen wären solche ‚Siege’ auch gleichzeitig Niederlagen der Bewegungsfixiertheit dieser Jahre: Beweise dafür, dass es unmöglich ist, ‚die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen’. Folgen wir dieser Logik, bliebe uns nur sicherzustellen, dass die Parteien und Gruppierungen, die von einer Welle des Widerstandes an die Macht getragen wurden, auch in der Lage sind, sozialen Wandel innerhalb ihrer institutionellen Schranken zu erzeugen. Außerdem müssten diese Parteien und Gruppierungen gezwungen werden, dort, wo es möglich ist, die Institutionen dergestalt zu verändern, dass sie durchlässiger für ‚Druck von unten’ werden. Hier wird als gegeben angenommen, dass solcher Druck seine Rolle nur erfüllen kann, wenn er in institutionelle Formen übertragen werden kann.

Obwohl wir die Fortschritte, die an so vielen Orten in Lateinamerika gemacht werden, nicht unterschätzen sollten, ist es doch sinnvoll, sich einmal die Implikationen dieses Verständnisses von gesellschaftlichem Wandel zu vergegenwärtigen.

Zuerst einmal dürfen wir nicht die bedeutenden Unterschiede zwischen den genannten Ländern vergessen. Einzig und allein Morales’ Fall entspricht ziemlich genau dem Bild einer immer stärker werdenden Welle des Widerstandes, die letztendlich zum Wahlsieg führt. In den letzten zehn Jahren gab es in Bolivien immer wieder Momente der Radikalisierung, die stets ins existierende politische System reintegriert wurden, wo sie dann unaufgelöst blieben. Als diese Momente des Widerstandes jedoch immer häufiger und kraftvoller wurden, erzwangen sie einen Umbau des Systems, infolgedessen schließlich Morales’ MAS (Movimiento al Socialismo) an die Macht kam. Im Falle Brasiliens fand eine ähnliche Welle in den 80er Jahren statt, scheiterte aber drei Mal an der Wahlurne, bevor Lula im vierten Versuch gewann. Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeiterpartei (PT) aber nur mehr die Übersetzung einer alternden und geschwächten Bewegung (mit einer möglichen Ausnahme, der Landlosenbewegung MST) in die Formen der Parteipolitik. In Venezuela wiederum gab es überhaupt keine wirkliche Bewegung, trotz einer weit verbreiteten diffusen Wut gegen die Undurchdringlichkeit der Institutionen und gegen die Politiken der 80er und 90er Jahre. Chavez war hier der Katalysator einer verstärkten politischen Mobilisierung und Partizipation, wie sie in der Geschichte Venezuelas einzigartig ist. Es bleibt abzuwarten, ob er nur der Katalysator war, oder ob er mittlerweile die Stütze geworden ist, ohne die Alles in sich zusammen stürzt.

Vor allem aber ist die Behauptung, dass diese Wahlsiege die einzigen konkreten Resultate der globalisierungskritischen Politik des letzten Jahrzehnts seien, in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens geht sie davon aus, dass Politik nur in den institutionellen Räumen stattfindet, in denen wir normalerweise nach ihr suchen. Dadurch übersieht sie eine ganze Reihe von Netzwerken, Infrastrukturen, Kulturen, Wissensformen usw., welche zusammen ein diffuses Netz kollektiver Intelligenz und kollektiver Erinnerungen konstituieren, das in unterschiedlichen Formen stets aktiv ist, Veränderung produziert und sich in entscheidenden Augenblicken als antagonistische Kraft kristallisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verschärfung der Kämpfe in Bolivien vor dem Sieg der MAS. Das, was nach jedem Aufblitzen zu verschwinden schien, kam immer größer und stärker zurück. Das war nur möglich, weil es nie wirklich verschwunden war.

Zweitens wird so übersehen, dass Bewegungen, solange sie in Bewegung bleiben, über Mittel und Wege verfügen, sozialen Wandel zu produzieren, die nicht die Sphäre der institutionellen Politik durchlaufen, oder gar von dieser anerkannt werden müssen. Zum Beispiel indem sie öffentliche Diskurse verändern, die Einführung neuer Gesetze verhindern, oder einfach mittels ihrer Fähigkeit zu Autonomie und Selbstverwaltung.

Was wäre, wenn es schon einen neuen Zyklus der Kämpfe gäbe – und niemand hätte uns eingeladen?

Die Frage nach der transformativen Kraft sozialer Bewegungen bringt uns zurück zu unserem Ausgangspunkt. Es gab für uns drei Hauptgründe, die erste Ausgabe von Turbulence für den G8-Gipfel in Heiligendamm zu produzieren. Der erste, sehr pragmatische, war, dass es dort recht einfach sein würde, eine breite LeserInnenschaft zu erreichen. Zweitens sind unserer Erfahrung nach Gipfelmobilisierungen Räume, in denen Leute offener für neue Ideen sind als sonst.

Der dritte Grund ist etwas komplizierter. Seit Seattle waren Gipfelmobilisierungen die sichtbarste Ausdrucksform der Bewegung der Bewegungen. In ihnen manifestierte sie sich am deutlichsten als globaler Machtfaktor, und sie boten außerdem die Gelegenheit, Stärke und Positionen der Bewegung zu beurteilen. Gleichzeitig zeigten sich hier aber auch ihre potenziellen Grenzen. Unsere Frage war also dieselbe, die sich viele in und um Heiligendamm stellten: wie groß und transformativ wird dieses Ereignis werden und wie wird es um seine gesellschaftliche Relevanz bestellt sein? Wird es ein letztes Aufbäumen, ein neuer Anfang oder etwas ganz anderes werden? Und vor allem: wie werden wir erkennen, was es ist?

Wenn wir diejenigen kritisieren, die sozialen Wandel nur auf der Ebene von Institutionen erkennen möchten, könnte dann den Bewegungsfixierten nicht ebenso vorgeworfen werden, immer nur an den selben alten Orten nach Veränderungsprozessen zu suchen? Schon wieder reden wir hier über Gipfelproteste und Gegengipfel. Vielleicht steckt die Bewegung seit ein paar Jahren gerade deshalb in einer Sackgasse, weil an den üblichen Orten keine Antworten zu finden waren und niemand woanders gesucht hat. Möglicherweise haben wir uns zu sehr in unser eigenes Spiegelbild verliebt, um uns einfach mal umzuschauen. Was wäre, wenn es schon einen ‚neuen Zyklus der Kämpfe’ gäbe – und niemand hätte uns eingeladen?

Erinnern wir uns an die Ereignisse in den französischen Banlieues im Herbst 2005. Die gesamte ‚etablierte’ Linke – die Parteien, Gewerkschaften, ‚aktivistischen’ Gruppen (wenn du weißt, wovon wir reden, gehörst du in diese Kategorie!) – die behauptet, dass diejenigen, die sich in Frankreich erhoben, in irgendeiner Art und Weise ‚mit uns’ seien, macht sich durch diese Fehldarstellung der Vereinnahmung der Kämpfe Anderer schuldig. Zwar wurde dort gegen vieles gekämpft, das auch wir ablehnen. Wenn wir uns aber die Reaktion der etablierten Linken anschauen, lässt sich diese auf drei Argumentationslinien reduzieren. Entweder werden die Ereignisse in den Banlieues als Beweis einer vorgefertigten Theorie über irgendeine ‚neue Phase des Kapitalismus’ benutzt. Oder sie symbolisieren die Schrecken gesellschaftlicher Auflösung, die wiederum staatliche Intervention notwendig macht, um langfristig Wohlstand und Lebenschancen umzuverteilen (möglicherweise aber auch, um sie kurzfristig zu unterdrücken und einen BürgerInnenkrieg zu verhindern). Oder die Banlieues repräsentieren ein romantisches abstraktes ‚Anderes’, dessen harte, kompromisslose und gängigen Revolutionsklischees entsprechende Radikalität mit einer ebenso abstrakten Solidarität vergolten wird.

Wenn das alles ist, was ‚wir’ – Parteien, Gewerkschaften, ‚Bewegungsfixierte’ – anzubieten haben, müssen wir uns eingestehen, dass wir selbst ein Teil des Problems sind. Sogar die ‚radikalsten’ Mitglieder der etablierten Linken konnten in den Banlieues nur einen Ausbruch purer Negativität sehen, eher eine ‚Naturgewalt’ als die Aktionen wirklicher Menschen. Für die PolitikerInnen des Mainstream waren sie die Fratze der Angst: wir stehen am Abgrund eines BürgerInnenkrieges! Für Andere waren sie an sich Nichts, aber als unbekannte Größe konnten sie in jede Theorie eingepasst werden: ‚Seht, sie bestätigen unsere Prophezeiungen!’ Diese letzte Position negiert einfach das Ereignis; jeder andere Handlungsverlauf würde genau das Selbe bedeuten. Die ersten beiden erkennen das Ereignis als solches an, sehen es aber als etwas, das so fern jeder Erklärung liegt, dass es nur ein Vorbote des Endes der Welt sein kann, was dann je nach Geschmack als Grund zur Freude oder Trauer gewertet wird.

Aber sofern die Banlieues ein Problem darstellen, so ist es eins aus Fleisch und Blut. Dies übersehen die drei genannten Positionen. Die Banlieues weisen auf eine Lücke in unserem Wissen hin, und solange diese Lücke nicht von den Banlieusards selbst gefüllt wird – und zwar in ihrer eigenen Sprache und unter von ihnen gewählten Bedingungen – dann spielen ‚wir’ nur das Spiel weiter, das ‚sie’ ausschließt. Schlimmer noch, wenn wir uns als ÜbersetzerInnen derjenigen ausgeben, mit denen wir selbst nicht sprechen, dann reproduzieren ‚wir’ ganz aktiv dieses Spiel. Sogar noch das marginalste linke Grüppchen kann politisches Kapital daraus schlagen, dass es vorgibt, für diejenigen zu sprechen, die außerhalb der Tore stehen. Die wirkliche Herausforderung liegt deshalb darin, diese Tore für sie zu öffnen oder besser noch: die Mauer selbst einzureißen. Aber dies kann nur durch echte Kooperation mit echten Menschen geschehen. Wir werden nur wenig ausrichten, wenn wir uns weiter an dem Gedanken erfreuen, dass unsere abstrakte ‚Solidarität’ in irgendeiner Form relevant sei.

Ein weiteres Beispiel: seit über einem Jahr entwickelt sich in mehreren Städten Spaniens eine einzigartige Bewegung, angetrieben von der Frustration vieler Menschen darüber, dass die Zunahme von Immobilienspekulation ‚menschenwürdiges Wohnen’ (Vivienda Digna) immer schwerer macht. Die Bewegung begann, als auf der Höhe der Proteste gegen das CPE in Frankreich eine anonyme Email herumgeschickt wurde, die zu einem Aktionstag für ‚menschenwürdiges Wohnen’ aufrief. Diese Email wurde weitergeleitet, und am vorbestimmten Tag gingen Hunderte Menschen – TaxifahrerInnen und FriseurInnen ebenso wie ‚AktivistInnen’ – auf die Straße. Beim zweiten selbst ausgerufenen Aktionstag waren schon Tausende dabei. Seitdem wurde eine Vielzahl lokaler Versammlungen ins Leben gerufen, von denen viele noch aktiv sind.

Die Reaktionen der ‚AktivistInnen’ auf diesen sozialen Kampf ums Wohnen waren aufschlussreich. Sie reichten von Verwirrung (‚Wie, da ist ‚ne Demo und ich weiß nicht, wer sie arrangiert hat?’), über den Wunsch, im Hintergrund zu bleiben (‚In der Versammlung sind alle gleich, die Leute sollten nicht erwarten, dass wir irgendwas Besonderes zu sagen haben’), bis zur Anerkennung der Tatsache, dass ihr Wissen und ihre Erfahrung nützlich sein könnten (‚Ich hab schon mal ne Demo organisiert, und glaube, es könnte besser funktionieren, wenn wir es folgendermaßen machen…’). Die Reaktionen derjenigen, die weniger Erfahrung mit politischer Arbeit hatten, gingen oft in eine ganz andere Richtung. Auf einer Versammlung in Madrid, so wird berichtet, kam es zu einer Diskussion darüber, ob die TeilnehmerInnen eine Demo unterstützen sollten, die sie nicht selbst organisiert hatten: ‚Jetzt sind wir der Raum, in dem die Bewegung organisiert ist, also sollten wir über diese Dinge entscheiden’ – ‚Aber fing nicht alles mit einer spontanen Demo an? Warst du nicht da?’ – ‚Ja, aber das war, bevor es die Versammlung gab!…’

All dies beweist, dass ‚wir’, trotz des anscheinend alles umfassenden Labels ‚Bewegung der Bewegungen’ (wie auch immer es im Einzelnen interpretiert werden mag) und trotz ‚Seattle’‚Cancun’ oder ‚Heiligendamm’, nicht die einzigen sind, die sozialen Wandel verursachen. Es ist nicht einmal klar, dass ‚wir’ überhaupt existieren. Und so zu tun, als ob Geschichte ausschließlich von uns gemacht wird, muss uns gegenüber der Einsicht blind machen, wo wir eigentlich hineinpassen – und wenn wir irgendwo hineinpassen, können wir logischerweise nicht das Ganze sein.

Ins Licht hinein?

Der gedankliche ‚Reisebericht’, den wir hier zu schreiben versucht haben – von Heiligendamm nach Lateinamerika, von der Politik des Klimawandels zu den Banlieues, zur Bewegung der Bewegungen und wieder zurück – begann mit einer Frage und ein paar tausend Zeitungen, und brachte uns immer wieder zu ganz bestimmten Themen und Problemen zurück, die partout nicht verschwinden wollten.

Wir fingen mit dem Motiv der Sichtbarkeit an, weil es die Beziehung zwischen Bewegungen und den Dynamiken ihrer Reproduktion verdeutlicht. Es ist relativ leicht, über das Verhältnis von Bewegungen und institutioneller Politik nachzudenken, etwa anhand der Beispiele der wahlpolitischen Experimente in Lateinamerika, den Sozialforen, oder den in jüngster Zeit gemachten Versuchen, die sozialen Zentren in Europa einander wieder näher zu bringen. Je nach Perspektive sind das Beispiele für den Ausverkauf einer Bewegung, für ihren Reifungsprozess oder ihre politische Vereinnahmung. Alle drei Positionen begehen jedoch denselben Fehler, nämlich institutionelle Formen und Bewegungen als grundlegend verschieden zu betrachten. Sie sehen Bewegungen als klar umrissene Einheiten, mit einem ‚Drinnen’ und einem ‚Draußen’, anstatt sie als das endlose Bewegen sozialer Beziehungen zu verstehen.

Wenn Bewegungen sich bewegen, produzieren sie immer wieder neue Formen der Organisation und Praxis, die sich wiederum verstetigen und konsolidieren. Dies kann natürlich auch Probleme mit sich bringen. Sind sie einmal etabliert, können Identitäten und Rituale dem sozialen Wandel als massive Hindernisse entgegenstehen. Das bedeutet aber nicht, dass Bewegungen sterben, sobald sie Wurzeln schlagen oder sich im hellen Licht präsentieren. Dieser Prozess ist für Bewegungen auch eine Art und Weise, ihr eigenes Licht auszustrahlen. Die ‚Bewegung der Bewegungen’ ist zum Beispiel selbst die Institutionalisierung eines bestimmten Moments der Kämpfe, deren Höhepunkt Seattle war. Sie hat außerdem dazu beigetragen, eine ganze Reihe anderer Institutionen hervorzubringen, die wiederum eigene Dynamiken entfaltet haben. Gipfelproteste zum Beispiel fanden überall in der Welt statt, wobei jeder auf den vorhergehenden aufbaute und die Aktionsform mal mehr, mal weniger weiterentwickelte. Als dieser Protestzyklus abzuflauen schien, begann der Sozialforums-Prozess, der wiederum eine andere Art von Experiment konstruierte. Nach dem Weltsozialforum 2007 in Kenia, welches zum Grossteil von NGOs gesponsert und kontrolliert wurde, hatten viele das Gefühl, dass dieser Prozess nun auch sein Ende erreicht habe. Aber nur wenige Monate später demonstrierte das US-amerikanische Sozialforum, dass es weiterhin möglich ist, etwas zu organisieren, das nicht nur ein paar Tage anhält, sondern in der Lage ist, weit darüber hinaus Effekte und Resonanzen erzeugen und verschiedene Kämpfe mit einander in Verbindung zu bringen.

Die kürzlich von den ZapatistInnen veranstalteten Encuentros stellten dies noch einmal deutlich unter Beweis. Dort trafen aus den Bewegungen kommende Visionen von Autonomie, Horizontalismus und herrschaftsfreier Praxis auf einen tatsächlichen Versuch, diese Visionen umzusetzen – unter ständiger Bedrohung durch paramilitärische Gruppen und umzingelt von feindlichen Truppen. Viele BewegungsaktivistInnen konnten sich dort über die ‚Juntas der guten Regierung’ informieren, ein langfristiges Experiment in der Selbstverwaltung der autonomen zapatistischen Kommunen. Ein verblüffender Aspekt des Ganzen war die Erfahrung, in einem Raum zu sein, wo die Bewaffneten – die EZLN – auf der eigenen Seite sind! Wenn wir aber wirklich sicht- und greifbaren sozialen Wandel bewirken wollen, stellt sich die Frage, wie das ohne den Aufbau neuer Institutionen überhaupt geschehen kann. Wie sonst sollen wir denn diese ‚anderen Welten’ erschaffen?

Aber das Motiv von Licht und Sichtbarkeit hatte auch noch eine zweite Bedeutung. Als wir fragten, ‚Was würde es bedeuten, zu gewinnen?’, ging es uns nicht um so etwas wie ein Zehn-Punkte-Programm. Wir wollten keine ‚Erleuchtung’, sondern eine Politik machen, die anerkennt, dass niemand die Lösung hat, dass ‚die Welt zu verändern’ immer auch, zumindest teilweise, ein Prozess des gemeinsamen Suchens ist, und dass ein erster Schritt darin bestehen könnte, dieselben Fragen zu stellen. Das ist weit entfernt von der altbackenen Politik der Eindeutigkeit, die von polemischen Konfrontationen bestimmt wird, in der sich unterschiedliche politische Identitäten und Ansätze gegenüber stehen und identitäre und ideologische Nischen immer wieder reproduziert werden.

Die Idee der totalen Erleuchtung ist natürlich ein Fantasiegebilde, aber ein sehr verlockendes, das wiederum mit dem Mythos des totalen Wissens zusammenhängt. Wenn man lange genug in die Sonne starrt, brennt das Bild sich für einige Zeit in die Augen ein und hinterlässt eine Art visuelles Echo. Nachdem die G8 das Thema Klimawandel vereinnahmt hatten, meinten einige, dass wir jetzt einfach nur das richtige Projekt brauchen, um zu zeigen dass nur wir ‚die Antwort’ haben. Anstatt aber diesem Vorschlag, mit all seinen Anklängen von Doppelmacht und Gegenhegemonie, zu folgen, scheint es uns produktiver, eine andere Lehre aus Heiligendamm zu ziehen. Als wir uns auf die Blockade der Zufahrtswege zum Gipfelzentrum vorbereiteten, machte ein letzter guter Tipp die Runde: „Wenn ihr euch den Polizeiketten nähert, schaut nicht auf die Bullen – schaut auf die Lücken zwischen ihnen.“

Schließlich gibt es noch einen dritten Aspekt, der die Motive Licht und Sichtbarkeit zusammenführt. In diesem ganzen Text bedeutete die Metapher des ‚ins Licht gehen’ ein sich selbst sichtbar machen, eine Art ‚coming out’, mit dem wir Raum einnehmen können. In so genannten ‚Nahtod-Erfahrungen’ hat der Ausdruck aber noch eine andere Bedeutung: du siehst ein Licht, und eine Stimme lädt dich ein, ins Licht zu gehen. Denn irgendwie bedeutet Wandel auch Tod. Er bedeutet, seine gewohnte Umgebung zu verlassen, einen Teil seiner selbst sowie alte Routinen und Sicherheiten aufzugeben. So gesehen müssen Bewegungen auch immer wieder an ihren eigenen Tod denken, an die Möglichkeit, dass sie aufhören müssen, zu sein, damit etwas anderes geboren werden kann. Haben wir den Mut, uns darauf einzulassen? Wagen wir diesen Sprung ins Unbekannte? Wagen wir es, durch diese Lücken zu springen, ins Ungewisse hinein, ins Licht?

Dezember 2007

Turbulence: Ideas for movement ist eine unregelmäßig erscheinende Veröffentlichung, die Raum dafür bieten soll, Ideen und Praktiken unserer Bewegungen zu reflektieren. Turbulence besteht aus David Harvie, Keir Milburn, Tadzio Müller, Rodrigo Nunes, Michal Osterweil, Kay Summer, Ben Trott und David Watts.

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Source: www.turbulence.org.uk