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2007-05-22

Popanz Grundgesetz - Die Unterdrückung von politischem Widerstand 1949 - 1983

Hermann L. Gremliza

Am 9. Mai 2007 durchsuchte die Polizei im Zusammenhang mit den Anti-G-8-Protesten bundesweit zahlreiche linke Objekte und Strukturen mit der Begründung des “Terrorismus”- Verdachts. Über das Verhältnis von Polizei- und Rechtsstaat schrieb Hermann L. Gremliza in Konkret-Extra 12/83

Bei Sonnenschein, sagte einst ein christlicher Bundesminister, sei es im Stadion von Santiago gut auszuhalten. Das hat die Fußballarena, in der Pinochet seine Gegner zusammentrieb, mit der Verfassung der Bundesrepublik gemeinsam. Bei günstiger Konjunktur wird liberaler Rechtsstaat gespielt. Meldet jedoch die Bundesanstalt für Arbeit(slosigkeit) Siebenstelliges, macht die “wehrhafte Demokratie” mobil – und aus ist’s mit Parteien-, Versammlungs-, Koalitionsfreiheit und ähnlichen Scherzen. Die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik zeigt, was die Friedensbewegung noch erwartet

“Seit den Tagen der Gestapo hatten wir das Haus nicht mehr so voll”

(Der stellvertretende Polizeipräsident von Wuppertal nach den Verhaftungen infolge der “Krefelder Krawalle”)

“Ich empfehle jedem, der friedlich demonstrieren will, daß er vorher zur Polizei geht und sich dort von erfahrenen Leuten schulen läßt”

(Der Polizei-Psychologe Salewski im ZDF)

Entweder es geht vorher zur Polizei zwecks Schulung in erlaubter Ausübung des Demonstrationsrechts, oder es geht hinterher zur Polizei zwecks erkennungsdienstlicher Behandlung und vorübergehender Festnahme. Das ist Demokratie – man hat immerhin die freie Wahl.

“Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln”, heißt es im Grundgesetz für die ’Bundesrepublik Deutschland, Artikel 8: “Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.” Doch keineswegs nach Belieben: “In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden” (Artikel 19). Das ist die rechtliche Grundlage. Sie ist nicht vom Himmel gefallen, entstammt nicht göttlichem Gnadenakt. Das Grundgesetz ist, wie jede Staatsverfassung, ein Kompromiß, auf den sich die gesellschaftlich stärksten Kräfte geeinigt haben. Präziser sagte es Rosa Luxemburg. Sie sprach von einem Waffenstillstandsvertrag im Kampf der Klassen. Das fast religiöse Tamtam, das den Auftritten der Karlsruher Verfassungsrichter anhaftet, soll den profanen Ursprung vergessen lassen. Und wenn einer, der weiß, wie diese Richter zu ihrem Amt kommen und ihre Entscheidungen finden, sie einmal “die acht Arschlöcher von Karlsruhe” nennt (so der Jura-Professor und ehemalige Minister Ehmke, SPD), wird er zu Recht nicht wegen Beleidigung belangt, sondern als Ketzer verschrien.

Die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland wird als die eines “demokratischen und sozialen Rechtsstaats” beschrieben. Während die Schmuckwörter “demokratisch” und “sozial” eher propagandistischen Wert haben und je nach der Interessenlage (Klassenzugehörigkeit) des Betrachters ganz unterschiedliche, oft gegensätzliche Vorstellungen provozieren, ist der Begriff “Rechtsstaat” historisch ziemlich klar bestimmbar. Rechtsstaat ist ein Staat, der sich an den einmal geschlossenen Verfassungskompromiß hält, seine in dem dort vorgegebenen Rahmen beschlossenen Gesetze achtet und dies juristischer Prüfung zugänglich macht. Das Prinzip des Rechtsstaats ist Legalität – im Gegensatz zu Willkür. Das bedeutet nicht, daß Gesetzgebung und Rechtsprechung im Rechtsstaat klassenneutral wären – wie der Krieg mit dem Waffenstillstand nicht endet, so geht der Kampf der Klassen auch nach dem Abschluß eines Verfassungsvertrags weiter. Aber das Prinzip der Legalität, das die Rechte der herrschenden Minderheit vor gesetzwidrigen Angriffen der beherrschten Mehrheit schützt, verlangt, daß die Allgemeinheit der Gesetze auch geachtet wird, wenn deren Text den gesellschaftlich Beherrschten Chancen bietet.

Wie lange die Bourgeoisie sich solche Rechtsstaatlichkeit leistet, die auch ihre Gegner nicht völlig entmachtet, hängt von der sozialen und ökonomischen Entwicklung ab, welche die Gesellschaft nimmt. Wirtschaftliche Krisen, deren Lasten im kapitalistischen Staat auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden und deren Kampfbereitschaft zu stimulieren drohen, veranlassen die herrschende Bourgeoisie zu Präventivschlägen, die den Rechtsstaat, ohne ihn zu beseitigen, so verändern, daß sich die Kampfbedingungen für die Beherrschten verschlechtern. Der Trick, mit dem dies geschieht, ist die Verdrängung des Prinzips der Legalität zugunsten der Legitimität: Nicht mehr der Text der Gesetze zählt, sondern ihre Absicht, ihr Sinn, ihr Wert, ihre Moral – ein Höheres, das ihre Auslegung bestimmt. Daß dieses Höhere die Ideale der Herrschenden sind, welche über die Verwaltungen und die Medien die Definitionsmacht ausüben, hat Marx zu dem Satz veranlaßt, die Bürokratie mache “den formellen Staatsgeist oder die wirkliche Geistlosigkeit des Staates zum kategorischen Imperativ”. Der Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Krisen und den bürgerlichen Angriffen auf das Legalitätsprinzip ist an der Geschichte der Bundesrepublik leicht nachzuweisen.

Die “streitbare Demokratie”

Schon kurz nach Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahre 1949, an dessen Beratung auch Mitglieder der Kommunistischen Partei teilgenommen hatten, verständigte sich der herrschende Bürgerblock unter der Kanzlerschaft Adenauers darauf, der Verfassung über ihren geschriebenen Text hinaus eine höhere moralische Absicht zu unterstellen. Das Grundgesetz, so hieß es, verlange eine “streitbare Demokratie”, die mit ihren “Feinden” kurzen Prozeß mache. Das dem französischen Revolutionär Saint Just zugeschriebene Wort “Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit” wurde zur Über-Verfassung erklärt. Denn noch war keineswegs entschieden, ob Marshallplan und Rekonstruktion des Kapitalismus zu wirtschaftlichem Aufschwung und zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit (1950 noch 1,7 Millionen) führen würden. Und so war die KPD mit ihren 300.000 Mitgliedern eine Gefahr.

Am 19. September 1950 faßte die Bundesregierung einen Beschluß über die “Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung”, in dem es hieß: "Wer als Beamter, Angestellter oder Arbeiter im Bundesdienst an Organisationen oder Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Staatsordnung teilnimmt, …macht sich einer schweren Pflichtverletzung schuldig. Zu den Organisationen, deren Unterstützung mit den Dienstpflichten unvereinbar sind, gehören insbesondere: 1. Die Kommunistische Partei Deutschlands mit allen ihren Unterorganisationen … " In der Diskussion um dieses erste Berufsverbot taucht zum ersten Mal der Begriff “verfassungsfeindlich” auf. Was ist das? Im Grundgesetz, Artikel 21, steht: “Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei … Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.” Und sonst niemand. Da Regierung und Verwaltung so kurz nach Verabschiedung des Grundgesetzes noch keinen Verbotsantrag beim Verfassungsgericht stellen und damit das Demokratische an der neu gegründeten Republik in Verruf bringen wollten, umgingen sie die grundgesetzliche Legalität – wie zwanzig Jahre später noch einmal – durch den rechtlich nicht faßbaren Wertbegriff “verfassungsfeindlich”, der das verfassungswidrige Berufsverbot politisch moralisch im Sinne der “streitbaren Demokratie” legitimieren sollte.

Am 27. Februar 1951 beschloß die Bundesregierung: “Wirtschaftliche Unternehmungen, die verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützen, verdienen nicht, durch Aufträge der öffentlichen Hand gefördert zu werden … Firmen, die nach Erlaß dieser Warnung verfassungsfeindlichen Organisationen wirtschaftliche Vorteile durch Leistung von Beiträgen, Aufgabe von Werbeanzeigen oder in sonstiger Weise zuwenden, können in Zukunft bei Aufträgen der Bundesbehörden … nicht mehr berücksichtigt werden. Als verfassungsfeindlich sind die Organisationen anzusehen, die von der Bundesregierung öffentlich als solche bezeichnet werden.” Mit dieser Formulierung wurde auch die Fiktion, die Qualifizierung “verfassungsfeindlich” habe irgendetwas mit Rechtsnormen zu tun, aufgegeben. Was jedoch Justiz und Verwaltung nicht daran hinderte, den Begriff als Legitimationsgrundlage für Polizeieinsätze und Verurteilungen heranzuziehen. Nach dem Grundgesetz gab es eine legale kommunistische Partei, aber für die Kommunistische Partei gab es das Grundgesetz nicht mehr.

Das Versammlungsrecht wurde Kommunisten durch Polizei und Gerichte aberkannt. Am 1. Oktober 1950 hatte die FDJ, Jugendorganisation der KPD, im ganzen Bundesgebiet zu Kundgebungen aufgerufen. Die Konferenz der westdeutschen Innenminister beschloß, diese Veranstaltungen zu verbieten. Die Demonstrationen fanden dennoch mit großer Beteiligung statt, und es kam zu einer Serie von Strafverfahren. Während einige untere Gerichte, noch am Legalitätsprinzip der Verfassung orientiert, die Rechtmäßigkeit der Demonstrationsverbote verneinten, entschied der Bundesgerichtshof, die Verordnungen seien rechtmäßig gewesen, weil die Kundgebungen angesichts der verfassungsfeindlichen Zielsetzung der FDJ auf eine Störung “des staatsbürgerlichen Friedens in der Bevölkerung überhaupt gerichtet” gewesen seien. Der damalige Bundesinnenminister Lehr, der jetzt einen Nachfolger hat, rechtfertigte das Vorgehen der Polizei gegen die kommunistischen Demonstranten vor dem Bundestag so: “Wegen des Widerstands gegen die Staatsgewalt ist dann entsprechend eingeschritten worden, und die Unruhestifter haben die gebührenden Prügel bekommen.” Unruhestifter, Störer – Begriffe, die in keiner Strafvorschrift (geschweige denn in der Verfassung) vorkommen – legitimieren die illegale Unterdrückung verfassungsmäßiger Rechte. Polizeiordnung geht vor Grundgesetz. Am 11. Mai 1951 erschießt die Polizei den 21jährigen FDJler Philip Müller bei einer Demonstration in Essen.

“Verfassungsfeinde” (und das waren, wie gesagt, Leute, “die von der Bundesregierung öffentlich als solche bezeichnet” wurden), durften sich weder unter freiem Himmel noch im Saal versammeln, sie durften keine Plakate und Flugschriften verteilen, sie wurden – wie auf dem Kirchentag 1950 in Essen – verhaftet, wenn sie für ihre Ziele werben wollten, ihnen wurden – wenn sie in die DDR reisen wollten – die Pässe verweigert, oder sie wurden – aus der DDR kommend wie die 10.000 Teilnehmer des Pfingsttreffens 1951 – an der Zonengrenze von westdeutschen Polizisten anderthalb Tage lang aufgehalten, bis sie sich registrieren und “gesundheitsamtlich” untersuchen ließen. Artikel 1 (“Die Würde des Menschen ist unantastbar”), Artikel 2 (“Die Freiheit der Person ist unverletzlich”), Artikel 3 (“Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”), Artikel 5 (“Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten”), Artikel 8 (Versammlungsfreiheit), Artikel 9 (Vereinsfreiheit), Artikel 12 (Berufsfreiheit) – den “Verfassungsfeinden” blieb kein Verfassungsrecht mehr. Wie verkommen das Prinzip Legalität, der Rechtsstaat, knapp zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik schon war, belegt die Begründung des hessischen Innenministers für sein Verbot aller Werbung für die Weitjugendfestspiele: Diese Veranstaltung verfolge das Ziel, “die Jugend der Bundesrepublik auf einen Irrweg zu führen und sie der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik zu entfremden”.

1951 verabschiedete der Bundestag ein neues politisches Strafrecht, über das die “Welt” damals schrieb: “Mit den Bestimmungen über den Kalten Krieg erhebt sich das Gesetz auf die Höhe der Zeit.” Und der “liberale” Bundesjustizminister Thomas Dehler berief sich in der ersten Lesung des Gesetzes ausdrücklich auf den äußeren Feind: “Wir brauchen ja nicht in die koreanische Ferne zu schweifen, denn das Böse liegt so nah. Für uns genügt das, was in der Ostzone vorgeht. Von dort aus wird mit allen Mitteln der Propaganda, der Wühlarbeit, der Zersetzung der Bundesrepublik gearbeitet, um sie zu Fall zu bringen. Ich glaube, wir können dem nicht tatenlos zusehen. Der Kampfruf ist ja nicht: Hannibal ante portas!, sondern das Trojanische Pferd ist in unserer Mitte und wir müssen uns dagegen zur Wehr setzen.” In den folgenden Jahren wurden von Justiz und Polizei alle kommunistischen oder den Kommunisten nicht feindlichen Organisationen und Publikationen zerschlagen und verboten, ihre Mitglieder und Mitarbeiter wurden verhaftet und abgeurteilt. Bestraft wurde nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch, wer sich in kommunistische Bestrebungen “einordnete”, indem er Bündnisse einging, an denen Kommunisten beteiligt waren.

Am 17. August 1956 verbot das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Bundesregierung die KPD. Kern der Begründung: “Die KPD bestreitet und gefährdet die Legitimität dieser Grundordnung gerade auch dann, wenn sie zugleich betont, man könne und solle diese Grundordnung als Mittel, als Übergangsstadium, als Brücke zum Fernziel ausnutzen und deshalb für die Zeit ihrer formalen Geltung aufrechterhalten. Denn darin kommt zum Ausdruck, daß die KPD während der Geltungsdauer des Grundgesetzes die in ihm verkörperte freiheitliche demokratische Grundordnung nicht um ihrer selber willen erhalten will.” Eine Partei, die die herrschende Verfassungsordnung nur achtet, aber nicht liebt, und sie nicht für das Ende der Menschheitsgeschichte hält, ist verfassungswidrig. Die “streitbare Demokratie” hat das Legalitätsprinzip des Rechtsstaats ausgehebelt.

“Gemeinsamkeit der Demokraten”

Nach dem Urteil wurde das Vermögen der KPD eingezogen; Mitglieder, die nicht abschwören wollten, wurden – oft schubweise vom Arbeitsplatz weg, wie Betriebsräte im Ruhrgebiet – verhaftet, verurteilt und eingesperrt. Die Beiseitigung der Kommunisten aus dem öffentlichen Leben und der wirtschaftliche Aufschwung ließen danach die sechziger Jahre in der Bundesrepublik zu einem Jahrzehnt wachsender Liberalität werden. Die gesellschaftliche Herrschaft der Bourgeoisie war so gefestigt, daß die Restaurierung des der Kommunistenverfolgung geopferten Rechtsstaats erträglich schien. Nach Übernahme der Bundesregierung durch die sozialliberale Koalition wurde das politische Strafrecht reformiert. Es gab sogar Ansätze zur Kontrolle und Beschneidung der geheimen Dienste, die sich unter der CDU/CSU-Herrschaft zu einem Staat im Staate entwickelt hatten.

Schon 1968, zur Zeit der Großen Koalition, durfte wieder eine kommunistische Partei, die DKP, gegründet werden. Die Zustimmung der Bundesregierung zu diesem Akt (d.h. ihre Erklärung, ob und unter welchen Bedingungen sie weder einen neuen Verbotsantrag in Karlsruhe stellen noch die zum sofortigen Verbot führende Feststellung treffen werde, die DKP sei eine “Nachfolgeorganisation” der KPD) war freilich mehr an außen- und vor allem wirtschaftspolitischen Interessen (Osthandel) orientiert als an rechtsstaatlichen. Denn kaum begann die DKP, vorwiegend unter Studenten, Fuß zu fassen, da wurde das Berufsverbot der frühen fünfziger Jahre wiederbelebt. Denn die Bundesrepublik steuerte in die erste ernsthafte Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, ein Jahrzehnt lang ein bundesdeutsches Fremdwort, begann sich auszubreiten, der “soziale Verteilungskampf” nahm an Härte zu.

“Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinsamen Geschäfte der Bourgeoisklasse verwaltet”, schrieb Marx im Kommunistischen Manifest. Nachdem die langjährige linke Oppositionspartei SPD nun einen Teil dieser Staatsgewalt übernommen hatte, mußte sich der Widerstand gegen die Geschäfte der Bourgeoisklasse andere politische Ausdrucksformen suchen. Neben der DKP waren dies vor allem die radikalsten Teile der Studentenbewegung, die sich nicht zur angebotenen Integration “in den Staat” bewegen ließen. Gegen diese beiden machte die Staatsgewalt Front.

Es begann 1972 mit dem Ministerpräsidenten-Beschluß: “Der Bundeskanzler (Brandt) und die Ministerpräsidenten der Länder haben über Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen Grundsätze verabschiedet. Nach den Beamtengesetzen … sind die Angehörigen des öffentlichen Dienstes verpflichtet, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes positiv zu bekennen … Verfassungsfeindliche Bestrebungen stellen eine Verletzung dieser Verpflichtung dar … Die Einstellung in den öffentlichen Dienst setzt nach den genannten Bestimmungen voraus, daß der Bewerber die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Bestehen hieran berechtigte Zweifel, so rechtfertigt dies in der Regel eine Ablehnung.”

Wieder, wie schon in den fünfziger Jahren, genügte es nicht mehr, das geschriebene Gesetz zu achten – verlangt wurde “positives Bekennen”, und zwar “jederzeit”, bis daß der Tod euch scheidet. Die Anklänge an Beteuerungen aus dem Liebesleben sind unüberhörbar, und das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 22. Mai 1975 noch einen Ton zugelegt: Der Beamte habe gegenüber dem Staat eine “Treuepflicht”, die mehr bedeute als nur eine formal korrekte Haltung gegenüber dem Staat; der Beamte müsse sich “in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlen”. Die Rechtsprechung auf dem Weg vom Legalitätsprinzip zum Stimmungsbarometer.

Nach diesen politischen und “rechtlichen” Kriterien überprüften die Ämter für Verfassungsschutz allein zwischen Januar 1973 und Juni 1975 nicht weniger als 454.585 Bewerber und legten 5.687 “Erkenntnisse” vor. Was “verfassungsfeindlich” ist, bestimmt der Verfassungsschutz, der bei seiner Gründung nur die Aufgabe hatte, “Informationen über Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung von Bund und Ländern” und “auf eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern verfassungsmäßiger Organe von Bund und Ländern richten”. Erst 1972, unter sozialliberaler Regierung, wurden die Aufgaben des Verfassungsschutzes ausgeweitet auf Gebiete, die er zuvor – illegal – bearbeitet hatte: Ausländerüberwachung, Spionageabwehr, Geheimschutz und Sicherheitsüberprüfung. Dazu darf sich der Verfassungsschutz “nachrichtendienstlicher Mittel” (Observation, Einsatz von V-Leuten, Abhören von Telefonleitungen) bedienen. Daß dabei Geräte verwendet werden, deren Benutzung des Strafgesetz ausdrücklich jedermann verbietet, gilt – da es doch ums Ganze, um die Grundordnung geht – zwar nicht gerade als legal, aber als legitim. Sogar der Einsatz von Agents provocateurs, die eine oppositionelle Gruppe erst zu strafbaren Handlungen anleiten, findet weder bei Politikern noch bei Richtern Anstoß. “Erschwerend kommt hinzu”, hat das Russell-Tribunal festgestellt, “daß eine beachtliche personelle Kontinuität der Geheimdienstapparate des Dritten Reichs mit dem Verfassungsschutz besteht”. Entsprechend ist der Sicherheitsbegriff dieses Dienstes: Es genügt, daß ein Manager aus der Atomindustrie eine in diesem Milieu unüblich legere Kleidung trägt, um einen Lauschangriff zu rechtfertigen (Fall Traube). Es genügt, daß ein Reisender die Zeitschrift KONKRET mit sich führt, um ihn am Grenzübergang zu registrieren.

Selbstverständlicher als jeder Theoretiker des “staatsmonopolistischen Kapitalismus” setzen die Verfassungsschutzämter die Interessen der Bourgeoisklasse mit denen des Staates gleich und liefern ihre Erkenntnisse deshalb auch direkt bei privaten Arbeitgebern ab – mitunter selbst an die Geschäftsleitungen von Warenhäusern (im sozialdemokratisch regierten Hamburg). Und sie haben was zu melden: Rund zwei Millionen Bürger der Bundesrepublik sind in den Personalzentraldateien (PZD) der Verfassungsschutzämter erfaßt. Außerdem sind alle Behörden des Bundes und der Länder verpflichtet, dem Verfassungsschutz Amtshilfe zu leisten. Aber gibt es denn ein solches Heer von “Verfassungsfeinden”, ein solches Reservoir an Revolutionären in der doch eher friedhofsruhig scheinenden Bundesrepublik? Es muß sie geben: Denn gerade die, die so unschuldig tun, gegen kein Gesetz verstoßen und womöglich noch das Grundgesetz unterm Arm tragen, sind für einen rechten Verfassungsschützer die Allergefährlichsten.

Liegt bei den Schlapphüten das Fehlen rechtsstaatlicher Vorstellungen sozusagen in der Natur der Arbeit, so ist die Feilheit, mit der sich die Justiz den aktuellen politischen Bedürfnissen der Staatsgewalt hingab, auch dann bemerkenswert, wenn man sie weniger als unabhängige “Dritte Gewalt” denn als Klassenjustiz versteht. Denn daß Gerichte die Sorge um die nächste Krise des Kapitals oder der auswärtigen Beziehungen höher bewerten als das geschriebene Recht, machte ihre Tätigkeit eigentlich überflüssig und durch Verwaltungsakte ersetzbar. Da beschließt das Verwaltungsgericht Ansbach ein Berufsverbot gegen einen Mann, dem es ausdrücklich bestätigt, daß er kein Kommunist und kein Verfassungsfeind sei. Da ihm aber eine antikommunistische Gesinnung fehle, stelle er in Krisensituationen ein Risiko dar. Denn schließlich arbeite er in der Deutschen Friedens-Gesellschaft (DFG-VK) neben Kommunisten – und das sei eine “Kontaktschuld”.

Aber auch das Bundesverfassungsgericht hat formuliert, daß sich der Staat “in Krisenzeiten” jederzeit auf seine Bediensteten müsse “verlassen” können. Und in einem Beschluß des Berliner Verwaltungsgerichts heißt es: "Namentlich bei Berücksichtigung politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Krisen, deren Eintritt nie ausgeschlossen werden kann, erweist sich die Forderung nach Verfassungstreue der öffentlich Bediensteten als notwendig … Denn gerade in derartigen Situationen muß Verlaß darauf sein … "

Das Treusein, so sprach er, ich kann es versuchen, ich wars zwar noch nie. Ist’s ein Knabe, so nenn’ ihn Johannes. Ist’s ein Mädchen, so nenn’ es Marie … Dem Hans Albers bzw. der von ihm so Angesungenen antwortet das Bundesverfassungsgericht: “Zweifel an der Verfassungstreue hat hier nur den Sinn, daß der für die Einstellung Verantwortliche im Augenblick seiner Entscheidung nicht überzeugt ist, daß der Bewerber die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten … Es handelt sich um ein prognostisches Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers, nicht lediglich um die Feststellung einzelner Beurteilungskriterien (Äußerungen, Teilnahme an Demonstrationen, politische Aktivitäten, Zugehörigkeit zu irgendwelchen Gruppen, Vereinigungen oder politischen Parteien).” Familienberatung oder Rechtsfindung? Zwar unterscheiden die acht Ehepartner von Karlsruhe (ob in Erinnerung an häusliche Gebräuche oder ob in einem Anflug von Jurisprudenz, ist unbekannt) zwischen einem möglicherweise erlaubten “Haben” von Meinungen und einem möglicherweise verbotenen “Äußern” derselben. Dafür verpflichten sie aber den Bewerber zur aktiven Äußerung bestimmter Meinungen, zum öffentlichen Bekenntnis einer staatstragenden Gesinnung. Zur Erinnerung an die Verfassung, mit deren Namen sich dieses Gericht schmückt: “Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern … Niemand darf wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.”

Was gilt, wo die Bourgeoisklasse über den Staat indirekt regiert, gilt umso mehr, wo sie direkt regiert, im Betrieb. So entschied das Bundesarbeitsgericht 1953 im Fall eines Arbeitnehmers, der der noch nicht verbotenen KDP angehörte und Flugblätter im Betrieb verteilt hatte: Das Grundrecht der Meinungsfreiheit finde seine Grenzen in den Grundregeln des Arbeitsverhältnisses, zu denen die Verpflichtung gehöre, sich so zu verhalten, daß der “Betriebsfrieden” nicht gestört werde. Es sei unerheblich, daß sich die Kollegen am Arbeitsplatz nicht gestört gefühlt hätten, denn es komme nicht nur auf die Einstellung der Arbeitnehmerschaft, sondern auch auf die des Arbeitgebers an, “der genauso zum Betrieb gehört wie der Arbeitnehmer” (Es ist dies das schönste “Genauso” der Weltliteratur). Der “Betriebsfrieden” ist also nicht etwa bestimmt durch die zur ungestörten Produktion erforderliche Ruhe und Ordnung, sondern durch das Wohlbefinden des Arbeitgebers, der nach diesem höchstrichterlichen Urteil frei darüber verfügt, welche Meinung seine Arbeiter und Angestellten äußern dürfen. Weit mehr als das, denn er erfährt ja vom Verfassungsschutz auch die nicht im Betrieb geäußerten Meinungen – Zitat aus einer Aktennotiz des Werkschutzes der Kölner Ford-Werke: “Streng vertraulich. Betr. … geb. 12.5.1949 in Köln, Personalnummer: 1115, tätig im WVG 166 … ist bei den Abwehrstellen bekannt. Er ist jetzt Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands. Als Student an Aktionen teilgenommen, Flugblätter verteilt, Informationsstände besetzt, KPD-Zeitungen verkauft … war Sekretär der Ortsleitung … Nicht vorbestraft. Bezüglich eines Verhaltens in der Universität folgt weiterer Bericht.” Ein besonders gelungenes Beispiel für die “streitbare Demokratie” und die “Gemeinsamkeit der Demokraten” bei der Abschaffung des Rechtsstaats.

Parallel zu den Berufsverboten, die der rechtsförmigen Ausschaltung der legalen Opposition galten, eröffnete die Staatsgewalt eine Front gegen “die terroristische Bedrohung”. Einige in den Untergrund gegangene oder dorthin getriebene Gruppen wurden in bewußt geschürter öffentlicher Hysterie zu der “Herausforderung des Staates” erklärt, die abzuwehren die “streitbare Demokratie” vieler neuer Waffen bedurfte, wortwörtlicher für die Polizei, den Grenzschutz, das BKA, die Generalbundesanwaltschaft und die Dienste, und rechtlicher für die justizielle Verfolgung.

Im Verlauf dieser Kampagne erhielten bis dahin als rechtswidrig angesehene Methoden polizeilicher und geheimdienstlicher Arbeit ohne Änderung des geschriebenen Gesetzes die höheren Weihen staatssicherheitlicher Legitimität: Der gezielte Todesschuß, der mit Versprechungen gekaufte Zeuge, der anonyme Zeuge aus dem Geheimdienstbereich, die endlose Untersuchungshaft (bis zu sieben Jahren). Gegen die Terroristen, die alle zusammen weniger Gewalttaten begangen hatten, als alljährlich etwa im Frankfurter Bahnhofsviertel registriert werden können, war jedes Mittel recht und damit auch rechtens.

Wie wenig die Staatsgewalt selbst an ihre Reden von der “terroristischen Bedrohung” glaubte, wie zynisch sie den funktionalen Charakter dieser “Lebensfrage” begriff, zeigte die Sonthofener Rede des CSU-Vorsitzenden Strauß: “Hier sammelt sich ein solcher Zorn in unserem Volke an. Und jetzt hier in demokratischer Gemeinsamkeit zu sagen, wir Demokraten in SPD/FDP und CDU/ CSU, wir halten also jetzt nun zusammen in dieser Situation, hier müssen wir den Rechtsstaat retten – das ist alles blödes Zeug. Wir müssen sagen, die SPD und die FDP überlassen diesen Staat kriminellen und politischen Gangstern… Und wenn wir hinkommen und räumen so auf, daß bis zum Rest dieses Jahrhunderts von diesen Banditen keiner es mehr wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen.”

Rechtsstaat retten? Alles blödes Zeug. In Wahrheit ging es darum, den “Zorn in unserem Volk” so zu entfachen, daß sich gegen polizeistaatliche Auf- und rechtsstaatliche Abrüstung kein Widerstand mehr zu regen wagte. Insbesondere sollte der kleinen Zahl qualifizierter linker Anwälte, die den Gerichten in politischen Verfahren Schwierigkeiten bereiteten, die Verteidigung so erschwert werden, daß sie entweder resignierten oder sich aus Solidarität mit ihren Mandanten in die Illegalität begaben. Die berüchtigten “Anti-Terror-Gesetze” der Jahre 1974/ 75 verboten die gleichzeitige Verteidigung mehrer Angeklagter durch einen Anwalt, erleichterten den Ausschluß von Anwälten, ermöglichten die Überwachung des Anwaltsverkehrs. Strafverteidiger, die sich davon immer noch nicht kleinmachen ließen, wurden im Bundestag wie in den Medien als “sogenannte Anwälte” oder “Linksanwälte” denunziert, oder gar, in den Worten von Strauß: “Das sind reine Verbrecher, diese Anwälte”.

Genosse Wachtmeister

Mitte der siebziger Jahre hatte die Staatsgewalt so ziemlich alles beieinander, um gut gerüstet den erwarteten wirtschaftlichen und sozialen Krisen zu begegnen. Die legale Ordnung des Grundgesetzes war auf den Kampfbegriff der “streitbaren Demokratie”, die “freiheitlich-demokratische Grundordnung” reduziert; die legalen Parteien waren in legitime, zur “Gemeinsamkeit der Demokraten” zählende, und “verfassungsfeindliche” aufgeteilt, deren Anhängern die Ausübung von Grundrechten nach Belieben verwehrt werden konnte; die Gegner der staatlichen Verfolgungspolitik konnten als “Kontaktschuldige” und “Sympathisanten” verfolgt werden (denn wenn eine staatliche Ordnung schon Liebe zum System verlangen kann, warum dann nicht auch Haß auf die Gegner des Systems und alle, die der Staat dafür hält?); die legale, aber für illegitim erklärte Opposition war namentlich erfaßt; die geheimen Dienste und die Polizei personell und technisch auf den gewalttätigen Aufstand Zigtausender vorbereitet; die Kampfmittel der Arbeitnehmer waren durch Rechtsprechung auf den “legitimen” Streik begrenzt, politischer Streik als verfassungsfeindlich gebrandmarkt. Man war für den Fall, daß die ökonomische Entwicklung an den Legitimationsreserven des “sozialen Staates” zehren würde, gewappnet.

Die erwartete Krise setzte Ende der siebziger Jahre ein und verschärfte sich seitdem. Zugleich erhielt sie eine von vielen, insbesondere von den Vertretern der derzeitigen “legitimen” Opposition, der Sozialdemokratie, unerwartete Dimension. Die Vormacht der kapitalistischen Welt zeigte sich entschlossen, ein für allemal Remedur zu schaffen und den globalen Gegner, die Sowjetunion und den Kommunismus, “auf den Misthaufen der Geschichte” (Reagan) zu befördern: durch Drohung mit atomarem Krieg, Totrüsten oder tatsächlich durch die Führung eines auf Europa begrenzten Atomkriegs. Gegen diese Politik, der sich die Bundesregierung anschloß, formierte sich Widerstand in einer Zahlenstärke, wie die Bundesrepublik ihn seit den fünfziger Jahren nicht mehr erlebt hatte. Diese Friedensbewegung setzte es sich zum Ziel, die Stationierung der in der neuen US-Strategie so bedeutenden neuen atomaren Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in der BRD zu verhindern.

Wenn auch die bunte Breite des Bündnisses den meisten Beteiligten den Klassencharakter der Auseinandersetzung nicht erkennbar werden ließ – der in Bonn inzwischen wieder ungebremst regierende Ausschuß der Bourgeoisie begriff sofort: Dieser Widerstand muß gebrochen werden. Denn hätte er Erfolg, wäre die Bundesrepublik nicht wiederzuerkennen. Zum ersten Mal hätte eine außerparlamentarische Massenbewegung das etablierte System bürgerlicher Herrschaftssicherung durchbrochen.

In der Auseinandersetzung mit oppositionellen Bewegungen hat die Staatsgewalt im Prinzip zwei Möglichkeiten, die sie nie rein, sondern stets in unterschiedlicher Mischung nutzt: Integration oder Repression. Während die sozialdemokratische Variante die Integration bevorzugt (ohne auf Repression aller Art zu verzichten), greift die Reaktion sicherheitshalber erst mal zum Knüppel. Nicht zufällig übernahmen die CDU und die CSU zu einem Zeitpunkt die Staatsmacht, als die Wirtschaftskrise den Staat außer Stand gesetzt hatte, materiellen Lohn für reuige Widerständler in Aussicht zu stellen. Das brotlose Werben um Integration wurde als Sonderschicht für die Fa. “Gemeinsamkeit aller Demokraten” den Sozis zugewiesen.

Friedrich Zimmermann, interpret und politischer Vollstrecker der neuen Regierungspolitik, machte sich ein ebenso schlichtes wie zynisches Konzept: Die Friedensbewegung muß unter Druck gesetzt und gespalten werden. Das geschieht am wirkungsvollsten dadurch, daß ein möglichst großer Teil kriminalisiert wird. Die Zahl der Friedenskämpfer, die mit den bisher geschaffenen Gesetzen gepackt werden können, ist zu klein. Es müssen also neue Gesetze her. Angesichts der Orgien von Gewaltfreiheit und Friedfertigkeit, die die großen Veranstaltungen der Friedensbewegung ausgezeichnet hatten, mußte die gesetzliche Neuregelung es erlauben, daß Massen von Leuten, die nachweislich keinem anderen auch nur ein Haar gekrümmt haben, als Gewalttäter verfolgt werden können. Das geschieht durch eine Verschärfung des Strafgesetzbuch-Paragraphen 125 (“Landfriedensbruch”), wonach jeder, der sich nach polizeilicher Aufforderung nicht aus einer Demonstration entfernt, aus der “Gewalttätigkeiten” begangen werden, mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht wird. Auszüge aus einem "Spiegel"Interview mit dem Bundesinnenminister:

Spiegel: Im übrigen wollen Sie Unbeteiligte nur straffrei laufen lassen, wenn sie erweislich andere von Gewalttätigkeiten abzuhalten versuchen…

Zimmermann: Ich lege Wert auf “ausschließlich” und auf “erweislich”, auf beide Begriffe. Ich möchte nämlich nicht, daß sich die betreffenden Berufsdemonstranten gegenseitig bestätigen, daß sie alle Abwiegler gewesen sind.

Spiegel: Wie kann ein normaler Bürger beweisen, daß er als Abwiegler tätig war?

Zimmermann: Wenn der örtliche Polizeieinsatzleiter sagt: Bitte, entfernen Sie sich, und er entfernt sich nicht, dann ist er schon kein normaler Bürger.

Spiegel: Eine kühne Definition.

Zimmermann: Er ist jedenfalls kein friedlicher Bürger.

Spiegel: Nach den Grundprinzipien des Strafverfahrens muß der Staat dem Täter nachweisen, daß er sich strafbar gemacht hat …

Zimmermann: Richtig. Die Beweislast soll aber hier umgekehrt werden, denn wer nach Aufforderung der Polizei eine gewalttätige Demonstration nicht verläßt, hat sich bereits strafbar gemacht.

Spiegel: Das gibt es im ganzen Strafgesetzbuch nicht …

Zimmermann: Man soll nie vor Neuerungen zurückschrecken, wenn sie notwendig sind.

Das Selbstbewußtsein, mit dem Zimmermann hier eines der ehrwürdigen Prinzipien des Rechtsstaats, die Beweislast des Anklägers, vom Tisch wischt, nötigt fast schon Bewunderung ab. Souverän auch die Definition des “normalen” oder “friedlichen Bürgers” als eines Menschen, der selbstverständlich und sofort auf ein verfassungsmäßiges Recht verzichtet, wenn die Polizei ihn dazu auffordert. Da die Regierung und ihre Justiz auch die friedlichen und gewaltlosen Formen von Widerstand und bürgerlichem Ungehorsam, wie sie von der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung geübt wurden, als Nötigung und damit “Gewalttat” deklarieren, müssen zur Aufbewahrung der Straftäter demnächst wohl Fußballstadien genutzt werden. Es sei denn, die Friedensbewegung ließe sich von Zimmermanns Gewaltpolitik spalten und einschüchtern, um bei Erwägungen zu landen, wie sie des Kapitals Vademecum “FAZ” anstellt: “Daß aber Menschen bösen Willens versuchen werden, bei den Veranstaltungen dieses Herbstes so viel Schrecken, Unordnung und gegenseitige Feindseligkeit zu erzeugen wie möglich, darüber sind sich fast alle einig … Aber ist Unberechenbarkeit ein Wert, ein einzusetzendes Gut, das Demonstranten als unerklärten Teil des Demonstrationsrechts für sich verbuchen können? Gewiß, es gibt keine gesetzliche Vorschrift, die sie verpflichtete, berechenbar zu sein. Die Forderung nach Wahrung der Unberechenbarkeit von Protestaktionen provoziert Mutmaßungen über eine diffuse Zone zwischen Demonstrationen und Gewalt: Liegt das, was unter dem Wort , gewaltfrei’ vorbereitet wird, so weit weg von der Gewalt wie die Demonstration, über deren Ablauf man reden kann, von der Demonstration, über deren Charakter man sich aus naheliegenden Gründen ausschweigen will?”

Das ist die Stunde der Integrationspolitiker, der Sozialdemokraten inner- und außerhalb der SPD. im Gefolge der propagandistischen Ausschlachtung der “Krefelder Krawalle”, wo sich der sozialdemokratische Innenminister von Nordrhein-Westfalen der Festnahme von “sechs Personen aus dem terroristischen ‘Umfeld’ und zahlreichen bekannten ‘Sympathisanten’” rühmte, meldete sich der Bundestagsabgeordnete Duve zu Wort: “Gespräche mit der Polizei und den Polizisten über Ziele und Aktionen der Friedensbewegung gehören ebenso in unsere Demokratie wie das strikte moralische Verbot für alle, Stimmungen anzuheizen und Feindgruppen zu bestimmen.” Unsere Demokratie! “Das ist mein Haus”, sagte der Untermieter. Oder: ein sozialdemokratischer Revolutionär beim Lösen der Bahnsteigkarte. Weniger komisch als widerwärtig und ganz auf der Linie der regierenden Zimmermänner ist die moralische Disqualifizierung aller, die ihren Widerstand gegen die Vorbereitung des Atomkriegs nicht als ein politisches Spiel nach Regeln verstehen können, die sich die Staatsgewalt ausgedacht hat, um dem Protest die Wirkung zu nehmen. Zu Recht fragt ein Diskussionspapier autonomer Gruppen: “Wie kann es angehen, daß die Aktionen vorher mit Bullen abgesprochen werden und die Friedensbewegung sich so mit dem Toleranzspielraum des Staates immer mehr identifiziert, sich somit in die Rolle des unterdrückten, wehrlosen, abhängigen, also handlungsfremdbestimmten Spielballes bullentaktischer und politischer Entscheidungen versetzt? Das was als friedlich und gewaltfrei definiert wird, ist doch nicht unsere Definition, sondern die des Staates.”

Doch das sind “Störer”, Erfüller eines kriminellen Tatbestandes, der zwar in keinem Paragraphen des Strafgesetzbuches vorkommt, aber zur am Ort vollzogenen Prügelstrafe durch Polizisten berechtigt. Denn Polizeigesetz geht, wie wir gesehen haben, vor Grundgesetz. Was in drei Jahrzehnten Bundesrepublik aus dem einfachen Grundrechtssatz der Verfassung: “Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln” geworden ist, hat Karl-Heinz Hansen beschrieben:

“Die Verfassungswirklichkeit sieht so aus: Im Prinzip hat jeder das Recht, sich friedlich zu versammeln, aber ob überhaupt und wann und wie zu welchem Anlaß und in welcher Kleidung und auf welchen Wegen und Plätzen, bestimmt die Polizeivorschrift. Ausländern steht die Versammlungsfreiheit ohnehin nicht zu (Bonn ist schließlich nicht Washington, wo Bonns grüne Abgeordnete am Zaun vorm Weißen Haus Transparente ausrollen durften). Im Versammlungsgesetz von 1953 sind Anmeldepflicht, Auflagen und polizeiliche Verbote im einzelnen und aufs Feinste geregelt. Und neben dem Paragraphen 125 des Strafgesetzbuchs gibt es ein reiches Instrumentarium anderer Strafparagraphen, an denen entlang sich die Benutzer des Artikels 8 des Grundgesetzes bewegen müssen: Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (Paragraph 103), Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten (Paragraph 104), Nötigung von Verfassungsorganen (Paragraph 105, zuletzt angewandt gegen Alexander Schubarth), Nötigung des Bundespräsidenten und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans (Paragraph 106), Bannkreisverletzung (Paragraph 106a), Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans (Paragraph 106b), Hausfriedensbruch (Paragraph 123) usw. … Zwar ist in den meisten Strafbestimmungen ‘Gewalttätigkeit’ vorausgesetzt, aber … schon nach dem 1970 reformierten Paragraphen 125, Absatz 1 reicht ein Sitzstreik auf einer Fahrbahn aus, um wegen Gewalttätigkeit bestraft zu werden. Was ‘friedliche’ Versammlungen sind, wird im Zweifelsfall durch die ‘polizeiliche Gewaltklausel’ entschieden, nach der schon ‘vorbeugend’ verboten werden kann. Für welche Schäden man zu haften hat, ist dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu entnehmen (Paragraph 830), ganz abgesehen von den in einigen CDU-Ländern eingeführten ‘Demonstrationsgebühren’ für Polizeieinsatz. Über allem schwebt dazu noch der fast vergessene, nach der Stationierung bald wieder aktuelle ‘Notstands’-Artikel 91 des Grundgesetzes. Danach können nicht nur die Polizeikräfte anderer Bundesländer, sondern auch der Bundesgrenzschutz an Brennpunkten eingesetzt werden, wenn ‘Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes’ droht.”

Wie gesagt: “In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden”, lautet Artikel 19 der Verfassung. Es sei denn, die “Essenz der Verfassung” stünde auf dem Spiel. Als 1973 Pinochet gegen die demokratisch gewählte chilenische Regierung Allende putschte, “rettete” er nach Ansicht der “Welt” die “Essenz der Verfassung”: Die gesellschaftliche Herrschaft der Bourgeoisie. Das war nicht legal. Aber legitim. Denn man soll nie vor Neuerungen zurückschrecken.

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