Carsten Gericke
16. Mai 2007: Die Besondere Aufbauorganisation (BAO) Kavala, eine eigens für den G8-Gipfel errichtete Sonderbehörde bei der Polizeidirektion Rostock1, erlässt eine versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung, mit der sämtliche relevanten gipfelkritischen Versammlungen während des G8-Gipfels verboten wurden. Dieser sicherheitspolitische Paukenschlag folgte nur eine Woche, nachdem die Generalbundesanwaltschaft bei groß angelegten Razzien wegen angeblicher Bildung einer terroristischen Vereinigung nach § 129a StGB unter dem Namen „Militante Kampagne zur Verhinderung des G8-Gipfels“ zahlreiche Privatwohnungen, Arbeitsstätten und Projekte hatte durchsuchen lassen.2 Im Folgenden sollen einige der rechtlichen und politischen Implikationen der polizeilichen Verbotsverfügung und der sich daran anschließenden gerichtlichen Auseinandersetzungen nachgezeichnet und im Kontext aktueller versammlungsrechtlicher Entwicklungen bewertet werden.
Allgemeinverfügung contra legem?
Die Rechtmäßigkeit pauschaler Versammlungsverbote per Allgemeinverfügung ist generell umstritten und verfassungsrechtlich bislang nicht abschließend geklärt. Die juristischen Auseinandersetzungen hierum ziehen sich durch die letzten 30 Jahre: Bereits dem berühmten Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985 lag eine vom Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg bestätigte Verbotsverfügung zugrunde. Mit dieser waren alle gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf gerichteten Demonstrationen zwischen dem 27. Februar und 1. März 1981 am Baugelände sowie in einem etwa 210 qkm großen Gebiet in der Wilster Marsch verboten worden.3 Auch bei den mehrmals jährlich durchgeführten Castor-Transporten ins niedersächsische Wendland verbieten regelmäßig Allgemeinverfügungen alle öffentlichen Versammlungen entlang der Transportstrecke sowie rund um den Verladebahnhof und um das Zwischenlager in Gorleben.4
Die rechtliche Kritik an diesen präventiven Versammlungsverboten, die per Allgemeinverfügung für ein großräumiges Gebiet, einen mehrtägigen Zeitraum und eine unbestimmte Anzahl von Versammlungen und Aktionsformen erlassen werden, beruht im Wesentlichen darauf, dass § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersammlG) den zuständigen Behörden nur die Möglichkeit einräumt, „die Versammlung“ oder „den Aufzug“ zu verbieten. Das Gesetz kennt im Wortlaut also nur das individuelle Versammlungsverbot per Verwaltungsakt. Zumeist handelt es sich dabei um die Regelung eines konkreten Einzelfalls gegenüber dem Anmelder der Veranstaltung. Zwar werden die Möglichkeiten der Behörde durch § 35 S. 2, 1. Alt. Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) erweitert. U.a. wird dadurch der Erlass einer Verfügung erlaubt, deren Adressatenkreis nicht personell festgelegt, sondern nur von den Umständen her bestimmbar ist (sogenannte personenbezogene Allgemeinverfügung).5 Gleichwohl bleibt es dabei, dass nur ein konkreter Einzelfall geregelt werden darf. 6
Sofern eine abstrakte Regelung für einen unbestimmten Personenkreis im Raum steht, handelt es sich um einen Rechtssatz, für den ausschließlich der Gesetzgeber (Legislative), nicht aber die Versammlungsbehörde (Exekutive) zuständig ist. Doch während des G8-Gipfels wurde dieser Grundsatz der Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt. Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (OVG MV), das über die Versammlungsverbote beim G8-Gipfel entschied, opferte das Erfordernis eines konkret zu regelnden Einzelfalls zugunsten von sicherheitspolitischen Erwägungen. Nur durch die Auflösung der sachlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Allgemeinverfügung gelang es dem Gericht, das mehrtägige Gipfeltreffen, gegen das eine Vielzahl heterogener Akteure vielfältigste demonstrative Veranstaltungen an unterschiedlichen Orten durchführen wollte, unter den Anwendungsbereich von § 35 S. 2 VwVfG zu zwängen.7 Versammlungsrechtliche Totalverbote seien, so das Gericht, bereits zulässig, wenn ein „nach objektiven Merkmalen bestimmbares Gesamtgeschehen“ vorliege.8
Die in der Allgemeinverfügung festgelegten Verbotszonen, in denen während des G8-Gipfels ein generelles Demonstrationsverbot gelten sollte, umfassten zum einen den Großraum rund um den Flughafen Rostock-Laage, zum anderen ein ca. 40 qkm großes Gebiet rund um den Tagungsort Heiligendamm. Dieses großräumige Areal bestand wiederum aus einer inneren und einer äußeren Verbotszone. Die innere „Rote Zone“ – die sogenannte Verbotszone I – umfasste den gesamten Bereich innerhalb eines 12,5 km langen und 2,50 Meter hohen Stahlgitterzauns. Diese sogenannte „technische Sperre“ war bereits ab Ende 2006 in einem Radius von ca. 2,5 km rund um Heiligendamm errichtet worden. Die äußere Verbotszone – die sogenannte Verbotszone II – sollte ihrerseits zur Absicherung des Sicherheitszauns sowie des Wegenetzes rund um die „Rote Zone“ dienen und umfasste einen mehrere Kilometer breiten, vorgelagerten Bereich.
Versammlungsverbote für Rostock-Laage: Ein Missverständnis
In der Verbotszone um den Flughafen Rostock-Laage waren zahlreiche angemeldete Protestaktionen von dem generellen Versammlungsverbot betroffen, u.a. mehrere Kundgebungen am 5. Juni 2007, dem Tag der Ankunft der Staats- und Regierungschefs. In dem daraufhin angestrengten Eilrechtschutzverfahren konnten die Veranstalter einen Teilerfolg erzielen. Nachdem bereits das Verwaltungsgericht Schwerin die Allgemeinverfügung und das Versammlungsverbot teilweise außer Vollzug gesetzt und die Kundgebungsorganisatoren sich mit Kavala auf die Durchführung zweier Kundgebungen innerhalb der Verbotszone verständigt hatten, entschied das OVG MV, dass auch eine dritte, noch strittige Veranstaltung in der Nähe des Flughafens unter Auflagen durchgeführt werden könnte.9 Bemerkenswert war dabei die juristische Konstruktion des Gerichts: Obwohl alle drei angemeldeten Versammlungen in der ehemaligen Verbotszone stattfinden durften, behaupteten die Richter beharrlich, dass die Allgemeinverfügung, die alle Versammlungen verbot, trotzdem rechtmäßig sei. Zu diesem widersinnigen Ergebnis gelangte das Oberverwaltungsgericht durch eine „ermächtigungskonforme“ Auslegung des Bescheids.10 Dieser sei einschränkend dahingehend zu verstehen, dass die strittigen Versammlungen von der Allgemeinverfügung gar nicht umfasst seien. Rechtlich ist diese Argumentation unhaltbar, da sie im völligen Widerspruch zu den allgemein geltenden Auslegungsgrundsätzen steht. Regelungsinhalt und -umfang der Verfügung, nämlich das Verbot aller Versammlungen innerhalb der Verbotszone, waren von Sinn und Wortlaut eindeutig bestimmt und daher einer derart gegensätzlichen Auslegung nicht zugänglich. Die Ausführungen des OVG MV machen indes deutlich, wie sehr die Entscheidung von Gründen der Staatsräson geprägt war. Mit dieser argumentativen Nebelkerze konnte in der Öffentlichkeit verschleiert werden, dass das Ansinnen von Kavala unhaltbar war, per Allgemeinverfügung den globalisierungskritischen Protest fernzuhalten.
Während damit einzelnen Versammlungen im Bereich des Flughafens Rostock-Laage rechtlich nichts mehr im Wege stand, sollte hingegen die Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit nach dem Willen der Sicherheitsbehörden und Gerichte rund um Heiligendamm, d.h. innerhalb der dortigen Verbotszonen I und II, vereitelt werden.
Mahnwache nur mit Personalienkontrolle
Einen ersten Riss erhielt das allgemeine Versammlungsverbot rund um Heiligendamm allerdings bereits im Zuge eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens zum Verbot einer Mahnwache der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“. Die Veranstalter/innen wollten zum Jahrestag des Sechs-Tage-Krieges am 5. Juni 2007 innerhalb der Verbotszone II unmittelbar am Sperrzaun eine Kundgebung abhalten. Auch in diesem Verfahren kam das OVG MV letztinstanzlich zu dem Ergebnis, die grundsätzlich für rechtmäßig erachtete Allgemeinverfügung im Wege der „ermächtigungskonformen Auslegung“ dahingehend zu modifizieren, dass das konkrete Versammlungsverbot aufzuheben war. Ein Pyrrhussieg freilich, denn die gleichzeitig vom Gericht angeordneten Auflagen erinnern eher an die begrenzten Möglichkeiten in diktatorischen Regimen: Das Gericht ordnete an, dass ein Sicherheitsabstand von 200 Metern zum Sicherheitszaun eingehalten werden müsse und höchstens 15 Personen an der Kundgebung teilnehmen dürften. Zudem – und entscheidend – sollten diese Personen der Polizei 24 Stunden vor Beginn der Mahnwache namentlich benannt werden. Hier noch von Demonstrationsfreiheit zu sprechen ist Schönfärberei. Denn die Möglichkeit einer spontanen Beteiligung an kollektiver Meinungsäußerung war so ausgeschlossen und wurde nur unter dem Vorbehalt einer vorherigen „freiwilligen“ Datenerfassung durch die Sicherheitsbehörden gewährt.
Der Eilantrag, den die Anmelder/innen gegen diese Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (BVerfG) eingereicht hatten, wurde abgelehnt.11 Diese Entscheidung ist nicht nachvollziehbar, selbst wenn man die eingeschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle im Eilrechtsschutz hinsichtlich versammlungsrechtlicher Auflagen und die Notwendigkeit eines durch die Auflagen drohenden schweren Nachteils (vgl. § 32 BVerfGG) als Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht in Rechnung stellt. Denn der Anordnung, die Namen der Versammlungsteilnehmer/ innen vorab zu nennen, steht die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben.12 Angesicht der absehbaren Weigerung, die eigene Teilnahme an einer Versammlung durch die Abgabe der Personalien polizeilich registrieren zu lassen, führt sie zudem faktisch zur Vereitelung der Versammlung. Konsequenterweise lehnten die Organisator/innen es daher ab, ihre Gedenkveranstaltung unter diesen Bedingungen durchzuführen und sagten die Kundgebung ab.13
Den Protest nach Heiligendamm tragen ...
Zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der öffentlichen und der rechtlichen Auseinandersetzung um die Bedeutung der Versammlungsfreiheit beim Gipfelprotest und um die Verfassungswidrigkeit der durch die Polizei verordneten großräumigen Sonderrechtszonen14 entwickelte sich das Verbot der Großdemonstration „Den Protest nach Heiligendamm tragen“, zu der ein breites Bündnis für den 7. Juni 2007 aufgerufen hatte. Das ursprüngliche Konzept der bereits im Herbst 2006 – deutlich vor Errichtung des Sperrzauns – angemeldeten Versammlung sah einen Sternmarsch mit sechs Strahlen vor. Auf diese Weise wollten die Veranstalter die unterschiedlichen Facetten des Protests gegen den G8-Gipfel sichtbar machen. Die Abschlusskundgebung sollte in Heiligendamm in unmittelbarer Nähe zum Tagungsort der Regierungschefs im Hotel Kempinski stattfinden.
Im Eilrechtsschutzverfahren gegen das Verbot aller Versammlungen in den Verbotszonen I und II waren die Veranstalter/innen beim VG Schwerin zunächst teilweise erfolgreich. Zwar bestätigte das Gericht das Demonstrationsverbot in der Roten Zone. Aber es setzte das weitergehende Versammlungsverbot in der vorgelagerten Verbotszone II außer Vollzug. Das nachfolgend mit der Sache befasste OVG MV hob die Entscheidung jedoch vollständig auf und bestätigte das behördliche Versammlungsverbot in beiden Verbotszonen. Am 6. Juni 2007 lehnte das Bundesverfassungsgericht einen gegen diese Entscheidung gerichteten Eilantrag der Anmelder/innen auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Ermöglichung des Sternmarsches ab.15 Offensichtlich unter dem Eindruck der gewaltsamen Auseinandersetzungen am 2. Juni 2007 am Rande der Großdemonstration legte das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung eine von vielen Medien und den Sicherheitsbehörden verfälscht dargestellte Gefährdungslage zugrunde16 Mit teils falschen, teils überzogenen Behauptungen – wie etwa, dass es eine große Anzahl verletzter Polizeibeamter gäbe oder dass die Vertreter/innen der militanten Szene in den Protestcamps Schlagwerkzeuge und andere als Waffen geeignete Gegenstände horteten und ständig neue Personen rekrutierten, um „friedliche Demonstrationen für ihre gewalttätigen Aktionen zu nutzen“ – hatte Kavala argumentiert, es sei von einer großen Zahl von Störer/innen auszugehen, die mit „brutaler Gewalt“ vorgehen und die technische Sperre stürmen wollten.17 Diesen Ausführungen wollte sich das Bundesverfassungsgericht nicht verschließen und lehnte – wenig überraschend – den Eilantrag ab.
Für die weitere rechtliche Bewertung des Versammlungsverbots und der diesbezüglichen OVG-Entscheidung ist – auch mit Blick auf zukünftige demonstrative Großereignisse – jedoch die Art und Weise bedeutsam, in der das Bundesverfassungsgericht hierzu Stellung genommen hat. Zwar konnte sich das Gericht noch einer abschließenden Stellungnahme enthalten. Aber aus den Entscheidungsgründen ergibt sich, dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das auf die Allgemeinverfügung gestützte Demonstrationsverbot mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht vereinbar war.18 Das OVG MV sei, so die obersten Richter, bei der notwendigen Grundrechtsabwägung bereits von einem falschen rechtlichen Ausgangspunkt ausgegangen, denn es habe den Veranstalter/ innen eine Rechtfertigung für die Ausübung ihres Demonstrationsrechts in Heiligendamm abverlangt. Im Einzelnen setzt sich das Bundesverfassungsgericht kritisch bis ablehnend mit den zur Begründung des Versammlungsverbots durch das OVG herangezogenen Schutzgütern und dem „Sicherheitskonzept“ von Kavala auseinander. Zudem betont das Gericht in der Tradition des Brokdorf-Beschlusses das Recht auf friedlichen, öffentlichkeitswirksamen Protest in „wirklich sichtbarer Form“ und möglichst großer Nähe zum symbolträchtigen Ort.
Mach meine Staatsgäste nicht an!
Demonstrationen anlässlich der Besuche ausländischer Staats- und Regierungschefs scheinen regelmäßig in besonderem Maße die „Kreativität“ ordnungs- und sicherheitspolitischer Akteure herauszufordern, um Protest zu verhindern oder zumindest in seiner Öffentlichkeitswirkung zu minimieren. Das „Unerhörte“ – die in vielfachem Protest zum Ausdruck kommende Selbstermächtigung und die Ausübung des Rechts auf „ursprünglich-ungebändigte unmittelbare Demokratie“19– stört offenbar die autoritäre Selbstinszenierung und verlangt danach, herrschaftssicher geordnet und verwaltet zu werden.20 In der Praxis kann dies unterschiedliche Formen annehmen. Neben schikanösen Behinderungen von Demonstrationen21i gehört es zunehmend zum guten internationalen Ton, durch großflächige Sonderrechtszonen ein Aufeinandertreffen der Eliten mit dem Protest zu verhindern.22 Die restriktiven Eingriffsvoraussetzungen in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit drohen dabei weiter relativiert zu werden.
Eingriffe in die Versammlungsfreiheit müssen sich rechtlich daran messen lassen, ob zum Zeitpunkt des Erlasses der entsprechenden Verfügung nach „erkennbaren Umständen“ die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist (vgl. § 15 I VersammlG). Bloße Vermutungen einer Gefährdungslage reichen nicht aus. Verlangt wird eine Gefahrenprognose, die auf „tatsächlichen Anhaltspunkten“ und „nachweisbaren Tatsachen“ mit konkretem Bezug zur geplanten Veranstaltung beruht.23
Da ein Versammlungsverbot grundsätzlich nur auf eine unmittelbare Gefährdung der „öffentlichen Sicherheit“ zurückgeführt werden kann24, ist es von großer Relevanz, welche Rechtsgüter im Einzelnen hierunter zu subsumieren sind. Entscheidende Bedeutung messen die Allgemeinverfügung und das OVG MV zunächst den angeblich von den Protestveranstaltungen betroffenen „außenpolitischen Interessen“ zu. So sah das Oberverwaltungsgericht durch die gipfelkritischen Demonstrationen die guten „Beziehungen der Bundes zu auswärtigen Staaten“ in Gefahr. Soweit durch Demonstrationen und Kundgebungen die Beziehungen zu fremden Staaten belastet würden, die eine Duldung derartiger Vorgänge als unfreundlichen Akt empfinden, könnten die zuständigen Behörden eingreifen.25 Auch die persönliche Sicherheit der Staatsgäste zu gewährleisten zähle zu den zu berücksichtigenden außenpolitischen Gesichtspunkten. Dabei käme es nicht auf deren konkrete Gefährdung an. Entgegen des oben genannten Grundsatzes seien Einschränkungen der Versammlungsfreiheit daher auch im Vorfeld der konkreten Gefahr zu rechtfertigen. Darüber hinaus sollte nach Auffassung des OVG MV berücksichtigt werden, dass die ausländischen Delegationsmitglieder größten Wert auf ein uneingeschränktes Sicherheitsfeld ohne unüberprüfte Personen im Bereich der Roten Zone gelegt hätten.26
Das Bundesverfassungsgericht ließ bei der Beurteilung der Entscheidung des OVG MV offen, ob „das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland“ oder „die Beziehungen des Bundes zu auswärtigen Staaten“ überhaupt eigenständige Schutzgüter im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersammlG sind. Gleichwohl stellte das Gericht klar, dass diese jedenfalls nicht der „öffentlichen Sicherheit“ sondern allenfalls der „öffentlichen Ordnung“ zuzurechnen seien. Ein Versammlungsverbot ist mit derartigen Erwägungen daher nicht zu rechtfertigen. Wohl aber bleibt nach der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts offen, ob „außenpolitische Interessen“ gegebenenfalls zur Begründung von „kreativ“-schikanösen Beschränkungen durch versammlungsrechtliche Auflagen herhalten können.
Deutlichere Worte findet das Bundesverfassungsgericht dagegen für die Erwägung des OVG MV, eine hinreichende Belastung auswärtiger Beziehungen sei bereits mit zu befürchtenden Empfindlichkeiten ausländischer Politiker/innen zu begründen. Dies würde letztendlich bedeuten, dass grundrechtlich geschützter, die Demokratie maßgeblich konstituierender Protest den Befindlichkeiten undemokratisch oder völkerrechtswidrig agierender Staats- und Regierungsvertreter untergeordnet wäre, sofern „außenpolitische Interessen“ tangiert sind. Diese Argumentation weist das Bundesverfassungsgericht entschieden zurück. Es ruft in Erinnerung, dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit „gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen sind und darin unverändert ihre Bedeutung [finden]“. Leitsatzartig heißt es weiter: „Der verfassungsrechtliche Schutz von Machtkritik ist nicht auf Kritik an inländischen Machtträgern begrenzt.“
Wo Nato-Draht liegt, endet die Freiheit: zum Ausmaß der Verbotszonen
Trotz dieser entschiedenen Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts bleibt die in den letzten Jahren immer weiter perfektionierte internationale Übung im Kern unangetastet, die umstrittenen G8-Treffen unter großem Aufwand hinter martialisch abgesicherten Sperrzäunen zu verschanzen. Statt deren offenkundige Grundrechtsfeindlichkeit beim Namen zu nennen, versteckt sich das Bundesverfassungsgericht hinter tatsächlich wie rechtlich fragwürdigen Allgemeinplätzen. „Dass die Behörde einen entsprechenden Schutzraum in der Nähe des Ortes des G8-Gipfels geschaffen und mit dafür geeigneten Schutzvorkehrungen versehen hat, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden“, heißt es hierzu zunächst in den Entscheidungsgründen. Während das VG Schwerin in seiner Entscheidung immerhin noch monierte hatte, dass die „Rote Zone“ wohl zu groß ausgefallen sei, und eher hilflos feststellte, dass durch die (dreiste) Errichtung des Sperrzauns ein Faktum geschaffen worden sei, das „nicht unberücksichtigt bleiben könne“27, beanstandet das Bundesverfassungsgericht lediglich die Ausdehnung des Versammlungsverbots „bis an die Grenze der Verbotszone II“.
Gänzlich unter den Tisch fällt, dass es auch für die Einrichtung dieses „Schutzraums“ vor kritischen Demonstrant/innen einer tragfähigen Rechtfertigung bedarf. Auch hier gilt, dass die Versammlungsfreiheit nur dann zurücktreten muss, wenn aufgrund erkennbarer, dargelegter Erkenntnisse die unmittelbare und konkrete Gefahr einer Beeinträchtigung für gleichwertige Rechtsgüter – also Leib und Leben der Delegationsmitglieder – besteht. Lediglich für möglich gehaltene, abstrakte Gefahren und darauf aufbauende Vorsorgemaßnahmen können noch keinen Eingriff in die grundrechtliche Versammlungsfreiheit begründen. Gemessen an diesem Maßstab erweisen sich die Entscheidungsgründe der Richter als wenig überzeugend. Das Bundesverfassungsgericht übergeht zunächst, dass sich die „Rote Zone“ keineswegs auf die „unmittelbare Nähe zum Tagungsort“ beschränkte und die Entscheidung über das Ausmaß der „Roten Zone“ – markiert durch den Sicherheitszaun – bereits gefallen war, ohne dass überhaupt eine hinreichende Gefahrenprognose bezüglich konkreter Gefahren vorlag. Selbst in den quasi nachgeschobenen Gründen der Allgemeinverfügung wurden keine konkreten Gefahren für Leib und Leben der Staatsgäste benannt. Vielmehr ist die Allgemeinverfügung von dem Ansinnen abstrakter Gefahrenabwehr getragen. Unter Hinweis auf einen konstruierten „weltweiten Gefahrenraum“, zu dem aufgrund der versuchten Kofferbomben-Anschläge im Sommer 2006 auch die Bundesrepublik Deutschland zu zählen sei, begnügte sich die Allgemeinverfügung mit der Beschreibung einer „latenten Bedrohungslage“ für westliche Industrieländer und deren Vertreter/innen durch den internationalen Terrorismus. Angereichert wird das so beschriebene allgemeine Bedrohungsszenario durch einen Verweis auf Vorfälle bei anderen internationalen Protestveranstaltungen bis zum Jahr 2001. Aus dem Vorhandensein lediglich abstrakter Gefahren für die ausländischen Delegationen und dem unzulässig modifizierten Gefahrenmaßstab macht auch das OVG MV keinen Hehl28 und proklamiert in Ermangelung einer belegbaren konkreten Gefahr für Leib und Leben als Eingriffsvoraussetzung in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit eine aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) abgeleitete „unmittelbar verfassungsgeboten(e) (...) Gefahrenvorsorge durch Rechtssetzung und weitere Maßnahmen staatlicher Steuerung“. Sie erfordere eine ausreichende Vorsorge für die in der „Roten Zone“ präsenten Personen vor gewalttätigen Übergriffen und verlange das Vorhalten ausreichender Rettungswege. In der Entscheidung zur Mahnwache wird dieser falsche Maßstab geradezu zur Tugend erhoben, wenn es heißt: „Die von der Antragsgegnerin (Kavala, d. V.) dargelegten abstrakten Gefahren für die Staatsgäste sind für den Bereich der Zone I nachvollziehbar. Bei den oben angeführten Interessen der Bundesrepublik kommt es hierbei nicht darauf an, ob insoweit konkrete Gefahren nachweisbar sind. Aus den Darlegungen der Antragsgegnerin in der Allgemeinverfügung (...) ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass im Interesse der Sicherheit der Staatsgäste der Raum innerhalb des bereits errichteten Zauns zunächst einmal von einer großen Anzahl von Demonstranten freigehalten werden muss.“29 Diese offene Relativierung der im Versammlungsrecht bislang geltenden hohen Eingriffsvoraussetzungen verdeutlicht die im Polizeirecht allgemein zu verzeichnende Erosion des Gefahrenbegriffs und dessen Ersetzung durch Aspekte der Gefahrenvorsorge.30 Das Bundesverfassungsgericht versäumt es, zum Ausdruck zu bringen, dass der versammlungsrechtlich gebotene Maßstab grundlegend verfehlt wurde. „Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit gewalttätigen Protesten gegen G8-Gipfel und den vielen Aufrufen zur Blockade des Gipfels in Heiligendamm“, so auch das Bundesverfassungsgericht, „folge aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG, geeignete und verhältnismäßige Vorsorgemaßnahmen zum Schutz der Gäste und anderer Personen zu treffen.“ Eine sachgerechte oder nachvollziehbare Gefahrenprognose kann dem nicht entnommen werden. Zudem gerät mit dem lapidaren Verweis auf die „Erfahrungen mit gewalttätigen Protesten“ einseitig die Sicht der Sicherheitsbehörden zum Maßstab der verfassungsgerichtlichen Überlegungen. Die komplexen und lokal unterschiedlichen Szenarien und Akteure der jeweiligen Gipfelproteste wie auch die etwa beim G8-Gipfel in Genua 2001 in vielfacher Hinsicht nachgewiesene polizeiliche Brutalität und Eskalation der Ereignisse hat in der „Erfahrung“ des Bundesverfassungsgerichts keinen angemessenen Platz gefunden, sondern dient nur der Begründung neuerlicher Restriktionen.
Vollendete Tatsachen durch polizeiliche Gesamtkonzeption
In der Praxis sind gerade bei demonstrativen Großereignissen anlässlich von Staatsbesuchen oder ähnlichen staatlichen Veranstaltungen die sogenannten Sicherheitskonzepte von zentraler Bedeutung. Sie werden anlassbezogenen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und bar jeglicher Kontrollmöglichkeit im Vorfeld der Veranstaltung entwickelt. Selbst im Rahmen der regelmäßig erst kurz vor einer Demonstration stattfindenden Kooperationsgespräche zwischen Versammlungsbehörden und Veranstalter/innen besteht faktisch keine Möglichkeit der Einflussnahme, da die Details und Grundlagen der Sicherheitskonzeption nicht offengelegt und deren Ergebnis als unhintergehbares Faktum präsentiert werden. Der versammlungsrechtlichen Kooperationspflicht der Versammlungsbehörde, die einer verfahrensmäßigen Absicherung des Grundrechts dienen soll31, genügt ein solches Vorgehen freilich nicht. Eine vertrauensbildende Kooperation, die diese Bezeichnung verdient, verlangt neben umfassender Information auch die Möglichkeit, auf die Entscheidung der Behörde(n) Einfluss nehmen zu können. Anderenfalls droht der grundrechtliche Schutz leerzulaufen. Dies gilt umso mehr, weil die Versammlungsbehörden davon ausgehen können, dass Verwaltungsgerichte es scheuen, in der Kürze der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit und angesichts des allgegenwärtigen Sicherheitsparadigmas die als alternativlos dargestellten Sicherheitserwägungen grundlegend in Frage zu stellen.32
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht erfreulicherweise dem Ansinnen des OVG MV, unter bloßem Verweis auf das polizeiliche Sicherheitskonzept für den G8-Gipfel ein großräumiges und mehrtägiges Versammlungsverbot zu erlassen, eine deutliche Absage erteilt. Es rügt, dass „an keiner Stelle erkennbar [ist], dass in das Sicherheitskonzept auch Anliegen der Durchführbarkeit von Demonstrationen, insbesondere solcher mit einer inhaltlichen Stoßrichtung gegen den G8-Gipfel, eingeflossen sind“. Es handele sich vielmehr um ein „objektiv gegen die Durchführung von Versammlungen gerichtetes Konzept“, das der verfassungsrechtlich gebotenen Möglichkeit, in „wirklich sichtbarer Form“ öffentlichkeitswirksam gegen den G8-Gipfel zu protestieren, von vornherein keine Verwirklichungschance eingeräumt habe.
„Fünf Finger“ bewahren das Demonstrationsrecht
Eine Bilanz der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hinterlässt ein zwiespältiges Bild. Einerseits ist es Kavala weitgehend gelungen, ihr grundrechtsfeindliches Ansinnen durchzusetzen und insbesondere eine zentrale Protestveranstaltung gegen den G8-Gipfel in der Nähe des Tagungsortes vollständig zu vereiteln. Auch die öffentliche Wahrnehmung der Bundesverfassungsgericht-Entscheidung fokussierte auf die Ablehnung des Eilantrags, das heißt letztendlich auf das Verbot des Sternmarsches. Die bisweilen harsche Kritik hieran verhallte ungehört und blieb auch für die Verantwortlichen folgenlos.
Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht in der Begründung seiner Entscheidung deutlich die Verfassungswidrigkeit der ebenso maßlosen wie dreist begründeten Verbotszonen herausgestellt. Dies sollte für zukünftige rechtliche Auseinandersetzungen, insbesondere anlässlich von Großdemonstrationen und Staatsbesuchen, genutzt werden.
Die angemessene politische Antwort auf die versammlungsrechtlich paradoxe Situation während des G8-Gipfels konnten all diejenigen finden, die unter Anwendung der vielbeachteten „Fünf-Finger-Taktik“33 die tatsächlichen und rechtlichen Barrieren überwanden und auf legitime Weise ihrem Protest „am Ort des Geschehens“ nachhaltig Ausdruck verliehen.
Dieser Beitrag ist unter dem Titel: „Von Brokdorf nach Heiligendamm. Das Bundesverfassungsgericht und die Versammlungsverbote und -beschränkungen beim G8-Gipfel 2007“ zuerst erschienen in dem Buch „Feindbild Demonstrant. Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes“, das vom RAV und dem Legal Team herausgegeben wurde (siehe auch die Rezension in diesem Heft).
1 Vgl. Donat, U.: Sondereinheit für das Spezielle. Zur Rolle der Besonderen Aufbauorganisation Kavala. In: Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein/Legal Team: Feindbild Demonstrant. Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht der Anwaltlichen Notdienstes. Berlin, Hamburg 2008
2 Vgl Beck, M.: Aktion Wasserschlag. Razzien und Durchsuchungen im Vorfeld des Gipfels. In: Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein/Legal Team, a.a.O.
3 In der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 69, 315 ff.) wurde diese Frage nicht thematisiert. Auch über das großflächige Versammlungsverbot im Kreis Wilster traf das Gericht keine abschließende Entscheidung. Die Frage konnte aus innerverfahrensrechtlichen Besonderheiten offen bleiben. Ausgeführt wird jedoch, dass „erhebliche rechtliche Bedenken“ bestünden. Soweit vorinstanzlich das VG Schleswig das Versammlungsverbot „nur“ in einem Bereich von 4,5 bis 9 km rund um den Bauplatz aufrechterhalten hatte, sah das BVerfG keine verfassungsmäßigen Bedenken.
4 Vgl. hierzu Komitee für Grundrechte und Demokratie: Demonstrationsrecht. Köln 2005, S. 15 ff.. Die derzeit noch anhängige Verfassungsbeschwerde der BI Lüchow-Dannenberg gegen die Allgemeinverfügung beim Castor-Transport ist dokumentiert in: Zur Sache, Nr. 10, November 2005, Demokratiefreie Zone Gorleben, S. 15 ff.
5 Die weiteren Alternativen des § 35 S. 2 VwVfG sind für die vorliegende Konstellation bedeutungslos.
6 Kopp F./Ramsauer U.: Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). München 2005, § 35 Rn. 103.
7 Das Bundesverfassungsgericht hat nachfolgend hierzu ebenso wenig Stellung genommen wie auch zu dem weiteren Erfordernis für das Vorgehen per Allgemeinverfügungen, nämlich dem Vorliegen eines polizeilichen Notstands.
8 OVG MV, Beschluss vom 4.6.2007, Az. 3 M 59/07, S. 5.
9 Für eine am ursprünglichen Kundgebungsort unmittelbar am Fliegerhorst Laage geplante Veranstaltung beschränkte das OVG MV die zulässige Teilnehmerzahl auf 50 Personen. Im Übrigen wurde die geplante Kundgebung, für die 1.500 Teilnehmer/innen erwartet wurden, durch das OVG räumlich verlegt. Ein hiergegen gerichteter Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht blieb erfolglos, vgl. BVerfG, NJW 2007, 2172 f.
10 OVG MV, Beschluss vom 4.6.2007, Az. 3 M 59/07, S. 9.
11 BVerfG, NJW 2007, 2173.
12 Vgl. auch hierzu den Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69, 315, 349), demzufolge „exzessive Observationen und Registrierungen“ mit dem „staatsfreien und unreglementierten Charakter“ einer Versammlung unvereinbar sind.
13 www.gipfelsoli.org/Presse/Andere_Verbote/2673. html.
14 Der Begriff „Sonderrechtszone“ wurde in Zusammenhang mit den wiederkehrenden Auseinandersetzungen um Versammlungsverbote per Allgemeinverfügungen im Wendland anlässlich von Castor-Transporten entwickelt. Er beschreibt das von der Polizei beanspruchte, nach außen massiv abgeschottete Terrain, in dem Grundrechte faktisch nicht mehr zur Geltung kommen, weil sie per se den polizeilichen Bedürfnissen untergeordnet, d.h. geopfert werden. Vgl. Zur Sache, Nr. 10, November 2005, Demokratiefreie Zone Gorleben, S. 15 ff.
15 BVerfG, NJW 2007, 2167 m. Anm. Battis/ Grigoleit.
16 Vgl. den Artikel von Backmund M./Donat U./Ullmann K.: Feindbild Demonstrant. Polizeiliche Desinformationspolitik in Heiligendamm. In: Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein/Legal Team, a.a.O.
17 Alle Zitate entstammen der Stellungnahme von Kavala, zit. nach BVerfG, NJW 2007, 2167, 2171.
18 Noch deutlicher zeigt sich dies anhand des nachfolgenden Kostenbeschlusses. Nachdem die mit dem Eilantrag erhobene Verfassungsbeschwerde gegen die OVG-Entscheidung infolge des Zeitablaufs und der fehlenden Rechtswegerschöpfung durch ein Hauptsacheverfahren für erledigt zu erklären war, wurden die Kosten des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde der Landeskasse Mecklenburg-Vorpommern auferlegt. In der Begründung hält das BVerfG ausdrücklich fest, dass die Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Erledigung begründet gewesen sei, weil die vor den gewalttätigen Ereignissen in Rostock ergangene Entscheidung des OVG MV gegen Art. 8 GG verstoßen habe. BVerfG, Az.: 1 BvR 1423/07, Beschl. vom 19.7.2007, S. 3.
19 So die Umschreibung des BVerfG im Brokdorf-Beschluss, BVerfGE 69, 315, 347. Vgl. hierzu die prägnante Urteilsanmerkung von Narr, W-D.: Schöne neue Demonstrationswelt, in: DuR 1985, 380 ff.
20 An der dabei zum Ausdruck kommenden Missachtung der Öffentlichkeit können Pressetermine mit Vertreter/innen ausgewählter NGO ebenso wenig ändern wie außen- bzw. machtpolitisch motivierte Sonntagsreden von einzelnen Vertreter/innen der Bundesregierung. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen ihrer Kritik an der Menschenrechtssituation in Russland wider besseren Wissen am 18.5.2007 behauptete Möglichkeit, in Deutschland sei friedlicher und öffentlichkeitswirksamer Protest gegen den G8-Gipfel möglich, hatte, wie auch das BVerfG zutreffend festgestellt hat, in Heiligendamm angesichts der Allgemeinverfügung von vornherein keine Verwirklichungschance.
21 Die Münchner Polizei ließ angesichts des Staatsbesuches des chinesischen Ministerpräsidenten im Jahr 2002 das Polizeiorchester aufspielen und riegelte eine Kundgebung von amnesty international ab, um zu verhindern, dass der Staatsgast sie wahrnehmen musste. Auch die Berliner Senatsverwaltung achtete beim Staatsbesuch von Jiang Zemin im Jahr 2002 akribisch darauf, dass dieser im Umfeld des von ihm bezogenen, in der Berliner Innenstadt gelegenen Luxushotels den Protest weder zu hören noch zu sehen bekam. Vgl. Kaleck W.: Auflagen, Verbote, Schikanen, in: Cilip Nr. 72, 2/2002, 18, 20.
22 Ein bedeutsamer Meilenstein auf dem Weg zur Herausbildung räumlich zonierter, isolierter und martialisch gesicherter Gipfeltreffen stellt sicherlich der G-8 Gipfel in Genua dar: Im Vorfeld wurde das gesamte Stadtzentrum in einem Radius von 4 km mit hohen Eisengittern umzäunt und zur „Roten Zone“ erklärt. In einem Bereich von 2 km vor der „Roten Zone“ wurden alle Demonstrationen verboten („Gelbe Zone“). Für viele Demonstrant/innen wurden die Abschottungs- und Befestigungsmaßnahmen zum Symbol der Illegitimität internationaler Gipfel schlechthin. Vgl. Andretta M. u.a.: No global – New Global. Frankfurt/M. 2003, S. 128 f.
23 BVerfG, NVwZ 2001, 670; NJW 2000, 3051.
24 BVerfGE 69, 315, 352 f.
25 OVG MV, Az.: 3 M 53/07, Beschl. vom 31.5.2007, S. 15.
26 Im Erörterungstermin vor dem OVG MV erklärte Kavala, dass der US-amerikanische Präsident mit der Sicherheitsstufe 1 versehen sei. Diese Entscheidung sei vorgegeben und im Rahmen des Sicherheitskonzepts umzusetzen. Aus Sicht des Gerichts soll die Einschätzung der Sicherheitsstufe keiner – auch nicht mittelbaren –gerichtlichen Überprüfung unterliegen.
27 VG Schwerin, Az.: 1 B 243/07, Beschl. vom 25.5.2007, S. 24.
28 OVG MV, Az.: 3 M 53/07, Beschl. vom 31.5.2007, S. 10, 12. Auch der Bundesregierung lagen im Vorfeld des G8-Gipfels keine konkreten Erkenntnisse über etwaige Anschläge vor. Vgl. Bt-Drs. 16/5185, S. 2.
29 OVG Greifswald, 3 M 58/07, Beschl. vom 1.6.2007, S. 7.
30 Vgl. Singelnstein T.: Jeder ist verdächtig. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 178, Juni 2007, S. 118, 122.
31 Lisken/Denninger-Kniesel/Poscher: Handbuch des Polizeirechts, München 2007, Kap. J, Rn. 150.
32 Wenige Tage vor dem G8-Gipfel am 28.5.2007 fand in Hamburg eine ebenfalls lange geplante und angemeldete Demonstration gegen den EU-ASEM-Gipfel statt, bei der sich im Vorfeld Streit über die geplante Route entspann. Nachdem das VG Hamburg im einstweiligen Rechtsschutz die von den Veranstalter/innen avisierte Strecke in weiten Teilen bestätigt hatte, legte die Versammlungsbehörde im Beschwerdeverfahren einen Tag vor der Demonstration ein „Sicherheitskonzept“ für die Tagung vor. Das OVG Hamburg hob daraufhin die versammlungsfreundlichere Entscheidung der Vorinstanz auf.
33 „Fünf-Finger-Taktik“ beschreibt das im Rahmen der Block G8 ebenso medienwirksame wie effektive Vorgehen zur Überwindung von Polizeiketten, das im Rahmen von Blockadetrainings eingeübt wurde: Protestler/innen eines Demonstrationszuges bilden fünf Gruppen, jede entspricht dem „Finger“ einer „Hand“. Soll eine Polizeikette durchquert werden, spreizt sich diese auf ein vereinbartes Signal hin in die Breite, sodass die Polizeibeamten ihre Formation auflösen müssen. Es entstehen Lücken, durch die einzelne "Finger" hindurchschlüpfen können.