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2008-01-11

Immer die Stirn bieten

Plädoyer für eine stärkere Vernetzung der Sozialproteste: Der Filmemacher Martin Keßler beendet mit »Das war der Gipfel« die Trilogie »Neue Wut«

Von Gitta Düperthal

Ostseebad Heiligendamm, Juni 2007. 17000 Sicherheitskräfte »bewachen« das rituelle Treffen der »mächtigsten Frau und Männer der Welt«, den sogenannten Weltwirtschaftsgipfel der G 8. Doch Tausende Globalisierungskritiker blockieren die Zufahrtsstraßen, protestieren gegen ein »verbrecherisches Weltwirtschaftssystem«. Jetzt gibt es einen Film über den Sozialprotest in Rostock und Heiligendamm.

Bild: Rostock

Auszüge sind auf der von jW organisierten Rosa-Luxemburg-Konferenz an diesem Samstag in Berlin zu sehen. Am Montag wird das Opus um 20 Uhr im Kino Babylon in Berlin-Mitte uraufgeführt. Anschließend wird der Autor Martin Keßler mit dem neuen Werk seiner Film-Trilogie »Neue Wut« durch die Republik touren. »Das war der Gipfel« heißt der 90minütige Streifen, der die Geschichte einer vielfältigen Protestkultur nachzeichnet.

Darin schildert der unabhängige Frankfurter Dokumentarfilmer und Fernsehautor die Ereignisse im Frühsommer des vergangenen Jahres vorwiegend aus der Perspektive der Demonstranten. Diese kommen – wie er anschaulich verdeutlicht – aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Genau dieser Blickwinkel macht den Film spannend. Gewerkschafter sind dabei, Autonome, Studenten, Menschen aus der Hartz-IV-Protestszene, Anwohner in Heiligendamm, die sich durch das massive Polizeiaufgebot bedroht fühlen. Aber auch Leute, die einfach ihr handwerkliches Geschick beim Aufbau des Camps Reddelich zeigen. Und alle wollen nur eins: Ihren Widerstand zum Ausdruck bringen gegen die zunehmende Ausbeutung und Unterdrückung, die eine neoliberale Elite in allen gesellschaftlichen Bereichen zu etablieren versucht. Demonstriert wurde gegen Billiglohnjobs vor Lidl; gegen unmenschliche Lebensbedingungen der Flüchtlinge vorm örtlichen Asylbewerber-Wohnheim; aber auch gegen zunehmende Enteignung der Landarbeiter und den Hunger in der sogenannten dritten Welt; und gegen Demokratieabbau durch Sicherheitswahn und Überwachungsstaat.

Indem er den Fokus vorwiegend auf die Protestierenden richtet, bietet Martin Keßler eine erfrischend andere Sichtweise als im schnellen und überwiegend an einer herrschenden Machtriege orientierten Tagesgeschäft des Fernsehjournalismus üblich. Der Film kommt zur rechten Zeit. Im Vorfeld der »Perspektiventage« vom 17. bis 20.Januar in Berlin und des Global Action Day am 26. Januar, der den sozialen Protest gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos dezentral an verschiedene Orte tragen soll.

Martin Keßler beobachtet nicht nur intensiv politische Prozesse als Filmemacher, sondern mischt sich auch ein. »Ich sehe eine große gesellschaftliche Sensibilität, sich jenem neoliberalen Dogma entschieden entgegenzustellen, es gäbe zum herrschenden System angeblich keine Alternative«, konstatiert er. Wenn verschiedene Protestszenen aufeinander treffen, seien allerdings nicht alle in gleicher Weise politisiert, schließlich kämen sie aus unterschiedlichen Kulturen und Traditionen. Daher sei es ein mühsamer Prozeß, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und sich über strittiges auseinanderzusetzen, so Keßler. »Auch was die Frage nach dem zivilen Ungehorsam betrifft, oder mit welcher Konsequenz man sich mit Obrigkeiten anlegen soll.«

In seinem Film analysiert Martin Keßler allerdings nicht, er läßt einzelne Teilnehmer der G-8-Proteste ihre Sicht der Dinge darstellen. Ein senegalesischer Sozialarbeiter schildert die alltägliche Ausgrenzung von Asylbewerbern: Im Wohnheim auf engstem Raum leben zu müssen, nicht arbeiten zu dürfen, die Region nicht verlassen zu können, ständig mit Ämtern konfrontiert zu sein, immer von der Abschiebung bedroht – und das oft jahrelang. Oder Keßlers Kamera ruht auf dem erstaunten Gesicht einer Demonstrantin, die friedfertig mit anderen die Zufahrtsstraße nach Heiligendamm blockiert und unterdessen Bild-Schlagzeilen liest, in denen von »Chaos« im Ostseebad die Rede ist. Der Film zeigt auch, wie Keßler selbst von Polizisten bei seiner Arbeit behindert wird.

Mainstream-Medien hätten im Einklang mit bestimmten Politikern versucht, ein Bedrohungsszenario aufzubauen, das »von Bin Laden bis zum Abstempeln der G-8-Demonstranten als Terroristen reicht«, macht Keßler deutlich. Dies betrachteten sie offenbar als geeignetes Mittel, um bürgerliche Freiheiten einzuschränken. Dagegen helfe nur gesellschaftliche Gegenwehr und kritische Öffentlichkeit. Deshalb seien unabhängige Demobeobachter, Journalisten von Alternativmedien wie junge Welt, Indymedia und kleinen Lokalzeitungen oder Politiker wie Christian Ströbele von den Grünen so wichtig. Denn sie sorgten für Kontrolle staatlicher Macht durch »Hinschauen, Weitersagen, Sich-Einmischen«. So sei einer breiteren Öffentlichkeit erst deutlich geworden, daß Gewalt beim G-8-Protest durch gezielte Provokationen der Polizei verursacht worden ist, die mitunter willkürlich einzelne Leute verhaftet habe.

Eine Entscheidung wie die des Bundesgerichtshofs, daß ein Terrorismusverdacht bei den Globalisierungskritikern in Heiligendamm unrechtmäßig erhoben wurde, falle nicht vom Himmel, ist sich Martin Keßler sicher. In seinem Film zeigt er, in welchem Maß die Polizei ihre Kompetenzen überschritten hat – und er hofft, daß »Polizisten zukünftig Hemmungen haben, verfassungswidrig zu handeln«, wenn sie wissen, daß sie dabei beobachtet werden.

Weitere Informationen im Internet: www.neuewut.de

[http://www.jungewelt.de/2008/01-12/023.php]

Source: www.jungewelt.de