Eskalation von Anfang an
Von Sebastian Wessels
»Vor Wut und Empörung war ich kurz davor, einem der Polizeibeamten eine zu knallen.« Spontaner Applaus macht deutlich, daß diese Äußerung des Rechtsanwalts Alexander Hoffmann den Versammelten aus der Seele spricht. Für rund sechs Stunden folgen sie am Dienstag abend Redebeiträgen von Augenzeugen, Anwälten und Organisatoren, die in der einen oder anderen Weise an den G-8-Protesten vom 2. bis 8. Juni beteiligt waren, und allzuoft bleibt als Reaktion auf die Berichte nur Sprachlosigkeit. Von »erschreckenden Grund- und Bürgerrechtsverletzungen« spricht in seinem Eingangsstatement Sven Giegold von ATTAC, von einem »Angriff auf die Verfassung« Ulrike Donat vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV). Etwas akademisch, aber wohl am treffendsten charakterisiert Werner Rätz, Mitglied des ATTAC-Koordinierungskreises und der Demoleitung vom 2. Juni, das Repressionskonzept von Polizei und Behörden als »Situation systematischen präventiven Rechtsbruchs«.
»Lust, reinzugehen«
»Was geschah in Heiligendamm?« – Unter diesem Motto hatten ATTAC, die Gipfelsoli-Infogruppe, das Netzwerk Friedenskooperative, der RAV und die Rote Hilfe am Dienstag ins Gebäude des ver.di-Bundesvorstands in Berlin eingeladen. Etwa hundert Interessierte folgten der Einladung und hörten Augenzeugenberichte über eine Polizeigewalt und -willkür, die vielen bislang unvorstellbar gewesen war. Unter dem Eindruck der Rostocker Krawalle vom 2. Juni waren zunächst auch Vertreter aus dem linken Spektrum auf den Propagandazug aufgesprungen, den die zuständige Polizei-Sondereinheit Kavala und Teile der bürgerlichen Medien befeuerten, und hatten in einer »Pauschaldiffamierung der Autonomen« – so Rätz in der taz vom 13. Juni – Zuflucht gesucht.
Hier hingegen richtete sich das Augenmerk auf die systematischen, oft ungesetzlichen, willkürlichen und gewaltsamen Repressionsmaßnahmen von Behörden, Polizei und anderen Staatsorganen. Manfred Stenner, Mitglied der Demoleitung und Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative, resümierte, der Polizeieinsatz scheine »von Anfang an auf Eskalation angelegt gewesen zu sein«, und betonte: »schon am Samstag waren wir es, die deeskaliert haben«.
Wollte man die Rechte aufzählen, die während der G-8-Proteste systematisch außer Kraft gesetzt waren, käme eine lange Liste zusammen. Weit oben erschiene das Demonstrationsrecht; Paradebeispiel wäre die von der Polizei schikanierte, bedrohte, angegriffene und letztlich spontan verbotene Demonstration am Montag, den 4.Juni. »Kavala« behauptete, 2000 der 8000 Demonstrationsteilnehmer seien vermummt und einige hätten »Steine aufgenommen«, obwohl der Einsatzleiter der Polizei vor Ort wiederholt bestätigte, daß er weder Vermummte gesehen noch etwaige Straftaten beobachtet habe. Die Anwältin Christina Klemm (RAV) berichtete, derselbe Einsatzleiter habe ihr gegenüber nicht für die Friedfertigkeit seiner Truppe garantieren können; »die Berliner« hätten »Lust, reinzugehen«, also Demonstranten anzugreifen. Nach Stunden des Gezerres löste sich die Versammlung freiwillig auf. Klemm hob die Besonnenheit der Demonstranten hervor, die »viele Gründe« gehabt hätten, »sehr wütend zu sein«.
Gewollter Rechtsbruch
Das Recht von Polizeimaßnahmen Betroffener auf anwaltlichen Beistand sei »konstant und ständig verweigert worden«, so Hoffmann. Die Polizei habe offenbar unter Ausschluß von Anwälten agieren wollen, erklärte Ulrike Donat (RAV), und das sei ihr auch weitgehend gelungen. Während es den Insassen der »Gefangenensammelstellen« (»Gesas«) verweigert worden sei, Anwälte anzurufen, hätten diese vor der Tür gestanden und seien nicht eingelassen worden. Einen Eindruck sowohl von der Praxis willkürlicher Verhaftungen als auch von den menschenrechtswidrigen Zuständen in den »Gesas« vermittelte der von Jan Steyer (Rote Hilfe) verlesene Bericht des Berliner Arztes Michael Kronawitter, der zur medizinischen Versorgung von Protestlern vor Ort war und verhaftet wurde – die Polizei warf ihm vor, Demonstranten durch eine Polizeisperre geführt zu haben. Kronawitter hockte rund 36 Stunden in der Rostocker Industriestraße im Polizeikäfig aus scharfkantigem Draht, bei unzureichender Nahrungsversorgung und grellem Licht rund um die Uhr, ohne Waschmöglichkeit und ohne Sichtschutz. Vorher hätte er »so etwas in Deutschland für unvorstellbar« gehalten; viele Insassen hätten sich an Berichte aus Guantánamo erinnert gefühlt und aus Protest gebellt und geknurrt.
Und immer wieder handelten die Berichte von nackter Gewalt. Von der gezielten, geplanten Gewalt durch Wasserwerfer, die blockierte Straßen freiräumten, was mindestens einen Aktivisten ein Auge kostete, bis zur chaotischen Gewalt durch von der Leine gelassene Polizeibeamte. Ein eingespielter Film zeigt eine Szene während der Rostocker Krawalle: Ein Demonstrant sitzt verletzt auf dem Boden, ein anderer steht daneben. Ein Polizist kommt ins Bild gerannt, täuscht einen Tritt an, als er den am Boden Sitzenden überspringt, versetzt dem Stehenden einen Schlag gegen den Kopf und läuft weiter – man sieht, der Mann hat Spaß.
Ob man gegen die zahllosen eklatanten Rechtsbrüche nicht vorgehen könne, wurden die Anwälte immer wieder gefragt. Oft können diese jedoch nicht viel tun; die verantwortlichen Beamten sind über alle Berge, und auch Betroffene sind nur schwer ausfindig zu machen, zumal sie oft weitere Repressionen fürchten. Und letztlich sind die Juristen sich einig mit den Veranstaltern: Eine planmäßige Außerkraftsetzung des Rechtsstaats im großen Maßstab, wie man sie bei den G-8-Protesten erleben konnte, ist eine politische Erscheinung, gegen die auch politisch gekämpft werden müsse. »Wenn man einen solchen Einsatz von der Polizei verlangt«, so Stenner abschließend mit Blick auf die beabsichtigte Unterbindung großangelegter politischer Proteste, »dann verlangt man, das Gesetz zu brechen«.
* Eine Video-Dokumentation der Veranstaltung soll in den nächsten Tagen im Internet bereitgestellt werden; siehe z.B.: gipfelsoli.org, attac.de
[http://www.jungewelt.de/2007/06-28/015.php]