Kampf um das Recht
Michael Plöse 14.06.2007
Polizeilicher Notstand in Heiligendamm: Warum Protestkultur ohne Rechtskultur nicht auskommt
Es war ein historisches Unternehmen: Erstmals in der Geschichte der G8-Gipfel konnte sich die Protestbewegung auf ein gut organisiertes internationales Team von Anwältinnen und Anwälten verlassen. Während die G8-Kritiker kämpferisch und farbenfroh mit ihren Demonstrationen, Veranstaltungen und Aktionen für die [extern] globalen Rechte aller Menschen stritten und ihren Protest gegen ungleiche Ressourcenverteilung und die Armut auf der Welt vor den Wohlstandsangstzaun um Heiligendamm trugen, bemühten sich die [extern] Legal Teams und der [extern] Anwaltliche Notdienst darum, auch in Zeiten des "polizeilichen Notstands" rechtsstaatliche Standards zu verteidigen.
Juristisches Geschick und groteske Genauigkeit war in diesen Tagen wenigstens ebenso erforderlich wie steinharte Nerven und viel Beharrlichkeit. Die Aufgaben der Legal Teams waren vielfältig: Angemeldete Demonstrationen mussten gegen die Sicherheitsbedenken der Polizei vor den Gerichten erstritten, die Rechte von Beschuldigten oder in polizeiliches Gewahrsam verbrachten Demonstranten verteidigt, an der Seite der Organisatoren die Demos am Laufen gehalten und Übergriffe dokumentiert werden. Rund um die Uhr waren über 100 Anwälte im Einsatz. Dabei gingen sie nicht nur in den Instanzenzügen bis an die Grenzen des Möglichen. Am Montag zogen der [extern] Republikanische Anwältinnen und Anwaltverein (RAV) und die Strafverteidigervereinigung Mecklenburg-Vorpommern auf ihrer Pressekonferenz Resümee.
Rostock-Laage, Dienstag, 5.6.07, 13:30 Uhr: Als Daniel Becker mit dem Auto unterwegs auf der A 19 am Flughafen Rostock-Laage vorbeikommt, traut er seinen Augen nicht. Die hohe Polizeipräsenz war ihm bereits auf der Autobahn aufgefallen, teilweise waren ganze Busse von der Polizei angehalten, von Beamten umringt und die Reisenden zum Aussteigen veranlasst worden. Durchsuchungen hatten sich angeschlossen. Ein Bus durfte die Fahrt nur im polizeieskortierten Konvoi fortsetzen. Hier am Flughafen Rostock-Laage – wenige Stunden bevor die Airforce One auf dem Rollfeld aufsetzen würde – erscheint ihm die Situation jedoch völlig skurril:
"Als Berliner ist man ja an einige Polizeieinsätze gewöhnt, aber was hier abgeht, ist echt krass. So was habe ich im Leben noch nicht gesehen", staunt der wissenschaftliche Mitarbeiter von der Universität Rostock auf seinem Weg zur Arbeit beunruhigt.
Mehrere Kampfhubschrauber der Bundeswehr stehen in der Luft und verursachen ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Vor dem Sicherungszaun des Flughafens sind olivgrüne Schützenpanzerfahrzeuge der Bundeswehr aufgefahren. Die Crashtore werden von Räumpanzern der Polizei gesichert. Im nahegelegenen Kiefernwäldchen suchen Polizeibeamte mit Minensuchgeräten den Boden ab. Alle paar hundert Meter säumen Polizisten die Straße. Hinter seinem Steuer winkt Becker einem besonders missmutig dreinguckenden Beamten zu, der daraufhin zurücklächelt – immerhin.
Demonstrationsrecht am Flughafen?
Polizeikommissar Christian Zimmer von der Pressestelle der Polizeieinsatzleitung Kavala versicherte, dass die polizeilichen Maßnahmen notwendig seien, "um den ungestörten Ablauf der Konferenz sowie die Unversehrtheit von Leib und Leben ihrer Teilnehmer sicher zu stellen." Die Besondere Aufbauorganisation [extern] BAO Kavala der Polizeidirektion Rostock, von Polizeieinsatzleiter Knut Abramowski nach einer nordgriechischen Stadt benannt, die ebenso wie Heiligendamm als weiße Stadt am Meer bezeichnet wird, koordinierte den gesamten Polizeieinsatz im Rahmen der G8-Konferenz.
Mit einer [extern] Allgemeinverfügung hatte sie am 15. Mai 2007 wesentliche Protestaktionen für die Dauer des G8-Gipfels untersagt und eine weitere Sperrzone um die ohnehin schon ausgedehnte und mit einem Sperrzaun gesicherte so genannte Rote Zone rings um Heiligendamm verfügt. Damit waren 50 der insgesamt 60 teilweise seit Monaten angemeldeten und geplanten Protestaktionen faktisch verboten worden ([local] Die "internationalen Interessen" Deutschlands gegen die der Demonstranten). Davon betroffen waren auch die für die Ankunft des US-amerikanischen Präsidenten geplante Demonstration und Protestkundgebungen am Flughafen Rostock-Laage. Nun herrschte polizeilicher Notstand am Flughafen, denn die BAO Kavala rechnet mit Blockadeversuchen der Zufahrtswege.
Gegen die Allgemeinverfügung der Polizei waren zwei Anmelder der Flughafenproteste vor das Verwaltungsgericht gezogen. Der Deutsche Friedensrat e.V. und der Europaparlamentsabgeordnete Tobias Pflüger wollten mit verschiedenen Kundgebungen vor den Toren und Flughafengebäuden auf die Verantwortung der G8-Staaten für weltweite Kriege aufmerksam machen. Sie wandten sich an den Rechtsanwälte [extern] Eberhard Schultz und [extern] Claus Förster, die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Verwaltungsgericht Schwerin zunächst einen Teilerfolg gegen die polizeiliche Untersagung erringen konnten ([local] "Die rechtlichen Argumente sind auf unserer Seite"). Doch die BAO Kavala legte Beschwerde gegen den Beschluss ein. Nun wurde der Flughafenprotest vom OVG Greifswald verhandelt. Jedoch nicht in Greifswald: Drei Tage vor den geplanten Kundgebungen luden die Richter des 3. Senats des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern zum Ortstermin ins ehemalige Amtsgebäude nach Laage.
Amtsgebäude Laage, Samstag, 2.6.07, 10:08 Uhr: Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage begeben sich die drei Richter mit den Demoanmeldern, deren Rechtsanwälten, den Vertreter/innen der BAO Kavala sowie einem Oberstleutnant der Luftwache zu den umstrittenen Kundegebungsorten, um sich die Sicherheitserwägungen der Polizei vor Ort erläutern zu lassen. Diese macht vor allem die Unübersichtlichkeit des Geländes geltend und erklärt, dass für den Bereich des Flughafens von einem Fehlbedarf an Einsatzkräften auszugehen sei, weswegen Versuche von Demonstranten, auf die Rollbahn des Flughafens vorzudringen, nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnten.
Die Anwälte der Anmelder wollen das nicht so recht glauben; schließlich müssten dazu zwei Sperrzäune überwunden werden. Ihnen ist vor allem wichtig, dass die Kundgebungen in Sicht- und Hörweite des Flughafens abgehalten werden können, damit der Protest auch seine Adressaten, die ankommenden Konferenzteilnehmer erreiche. Auch davon machen sich die drei Richter ein Bild.
Zurück in der Stadtverwaltung drängt der Vorsitzende die Streitparteien zu einer einvernehmlichen Einigung. Immer wieder müssen die Anwälte mit den Organisatoren Rücksprache halten. Zahlreiche Details werden besprochen. Z.B., dass die Polizei die Sichtbarkeit der Kundgebung vom Flughafen her nicht mit ihren Fahrzeugen verstellt. Doch der Vergleich gelingt nur teilweise. Die Polizei weigerte sich, die Kundgebung in Kronskamp in die Nähe des Zaunes kommen zu lassen.
Am Montag, einen Tag vor der geplanten Demonstration, bestätigte das OVG mit seinem Beschluss die polizeiliche Prognose und ordnete die Verlegung des Protests vom Zaun weg in den Dorfkern an. Um 14:00 Uhr lief der Beschluss des Gerichts im Rostocker Büro des Anwaltlichen Notdienstes über das Fax – genau 27 Stunden vor Beginn der Demonstration. Den Rechtsanwälten Schultz und Förster blieben noch drei Stunden für ihren [extern] Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht – es ging um jede Stunde.
Nun ging alles sehr schnell. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) prüfte über Nacht den Eilantrag nur summarisch und [extern] lehnte ihn – wohl trotz massiver Vorbehalte gegen das Urteil des OVG – sieben Stunden vor Beginn der Kundgebung ab, da sich ein schwerer Nachteil, den es abzuwenden gelte, nicht feststellen lasse ([local] Versammlungsverbote verfassungswidrig, aber notwendig?).
In einem anderen Fall drei Tage zuvor hatte das BVerfG sich schlicht außer Stande gesehen, "in der zur Verfügung stehenden Zeit eine verantwortliche Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vorzunehmen", weil das OVG seine Entscheidung erst [extern] nach Mitternacht vor dem Beginn der Demonstration verkündet hatte. "Diese häufig zu beobachtende Praxis stellt eine nicht hinzunehmende Verkürzung des Rechtsweges dar", kritisierte der Prozessbevollmächtigte der Anmelderin, Rechtsanwalt Rechtsanwalt Sven Adam.
Auch Rechtsanwalt Förster kann ein Lied davon singen: Ein ihm von der BAO Kavala per Telefon angekündigtes Verbot einer für 7 Uhr morgens geplanten Demonstration außerhalb der Sperrzonen wurde ihm trotz mehrerer Nachfragen erst 5,5 Stunden vor ihrem Beginn, also um 1:30 Uhr schriftlich übermittelt. Als Förster gegen 7:40 Uhr endlich jemanden beim zuständigen Schweriner Verwaltungsgericht erreichte, sah dieses sich außer Stande, in so kurzer Zeit in der Sache zu entscheiden. Die Demonstration blieb verboten, ein verwaltungsgerichtlicher Notdienst hatte nie existiert.
Rostock-Laage, Dienstag, 5.6.07, 17:05 Uhr: Als die antimilitaristische Kundgebung in Weitendorf – zeitgleich mit denen in drei anderen Orten rund um den Fliegerhorst der Bundeswehr – startet, wird sie augenblicklich von Polizeikräften umringt. In Sichtweite stehen weitere Beamte mit Maschinenpistolen und vermummte GSG9-Kräfte. Vor den Toren des Flughafens sind Schützenpanzerwagen aufgefahren. Zwei große Polizeifahrzeuge versperren am Kundgebungsort Weitendorf die Sicht zum Flughafen.
Rechtsanwalt Schultz, der die Anmelderin vor Ort unterstützt, verweist gegenüber dem Einsatzleiter auf die vom OVG bestätigte Einigung mit der Polizeiführung, wonach der ungehinderte Blick auf den Flughafen und damit die Sichtbarkeit der Demo für die landenden Staatsgäste gewährleistet würde. Der aber winkt ab. Er habe hier nichts zu entscheiden, die Anweisungen kämen von der Kavala aus Rostock.
Was sollten wir da machen, wenn sich die Polizei nicht an ihre eigenen Absprachen hält? Einen einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht erwirken, wäre in dieser Situation zwar notwendig, aber kaum sinnvoll gewesen. Das ist nur ein krasses Beispiel für viele andere, in denen die Polizei ihre Zusagen bewusst und rechtswidrig gebrochen hat. Die Polizei vergisst, dass sie nicht zur Festnahme von vermeintlich Vermummten da ist, sondern zum Schutz und zur Durchsetzung des Demonstrationsrechts.
Rechtsanwalt Eberhard Schultz, Bremen
Auch nach Beendigung der Kundgebung gehen die Schikanen weiter. Als abziehende Versammlungsteilnehmer kurzfristig eine Kreuzung an der B 103 blockieren, werden sie von einem massiven Polizeiaufgebot in die Böschung neben der Straße abgedrängt und über eine Stunde durch ein massives Polizeiaufgebot mit Polizeihunden usw. am Weggehen gehindert. Die Straßen sind damit für den Durchgangsverkehr praktisch gesperrt.
Wieder versucht Rechtsanwalt Schultz zu vermitteln. Der Einsatzleiter garantiert schließlich den ungehinderten Abzug der Versammlungsteilnehmer. Doch die Einsatzkräfte der Polizei riegeln die Straße weiterhin ab. Ein Wegkommen ist nicht möglich. Derweilen [extern] ertönt über den Lautsprecher eine letzte Aufforderung der Polizei an die Versammlungsteilnehmer zum Verlassen des Ortes und eine Androhung polizeilicher Maßnahmen, insbesondere körperlichen Zwangs, im Falle des Verweilens.
Das internationale Legal Team
Erfahrungen wie diese machten in der letzten Woche Anwältinnen und Anwälte aus ganz Europa. Wie Schultz und Förster waren sie dem [extern] Aufruf des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) sowie der örtlichen Strafverteidigervereinigung gefolgt, ließen den Kanzleibetrieb für eine Woche ruhen und schlossen sich auf eigene Kosten dem Legal Team an. Mit der Gründung des Legal Teams sollte auf die rechtsstaatlichen Missstände und schlechten Erfahrungen mit der anwaltlichen Vertretung anlässlich der Großdemonstrationen wie Göteborg und Genua reagiert werden.
Meinungs-, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit werden zunehmend beschränkt, erleichtert nun noch durch die europäischen und nationalen Anti-Terror-Gesetzgebungen. Es besteht die dringende Notwendigkeit auf Seiten der Verteidigung grenzübergreifend zusammenzuarbeiten. Polizei und Staatsanwaltshaft sind bereits seit Jahren dabei, europaweit ihre Zusammenarbeit auszubauen bis hin zur Einrichtung eines europäischen Staatsanwalts. Mit dem europäischen Haftbefehl werden die Auslieferungen vereinfacht und beschleunigt. Die Beschuldigtenrechte und die Möglichkeiten der Verteidigung sind sehr beschränkt. Gleichzeitig findet ein reger, weitgehend unkontrollierter europäischer Datenaustausch statt. Unter der Sonderdatei "Gipfelgegner" werden Daten von potentiellen DemonstrantInnen an die teilweise eigens eingerichteten Grenzkontrollen vorab bereits geliefert.
Um also europaweit den Repressionsmaßnahmen gegen Anti-Globalisierungsgener/innen etwas entgegenzusetzen ist die Einrichtung eines funktionsfähigen europäischen Legal Teams von Anwältinnen und Anwälten erforderlich.
Rechtsanwältin Silke Studzinsky, RAV schon 2002
Pro Schicht arbeiteten während des G8-Gipfels bis zu 40 Anwält/innen vor Ort auf den Demonstrantionen, als Berater der Veranstalter, als Bereitschaftsdienst in den Gefangenensammelstellen (GeSa) und den Amtsgerichten sowie als Rechercheure und Chronisten des Polizeieinsatzes. "Die Kolleginnen und Kollegen kamen aus der ganzen Bundesrepublik mit einem Schwerpunkt aus Hamburg und Berlin sowie einige Anwälte aus Griechenland, Belgien, Spanien und Italien", erinnert sich Rechtsanwalt [extern] Sönke Hilbrans.
Auf der Etage eines ehemaligen Industriegebäudes nahe des Rostocker Hafens drängten sich Anwälte, Mitarbeiter sowie einige Dolmetscher, verfassten Schriftsätze, schrieben Anträge, ließen Verhaftungen dokumentieren und empfingen Mandanten aus aller Welt. Niemand wurde abgewiesen, alles wurde bearbeitet und "das Erstaunlichste war, dass niemand angefangen hat herumzuschreien", berichtet der Berliner Strafverteidiger.
Aufklärung vor Ort
Wie viele seiner Kollegen war auch Rechtsanwalt Thomas Moritz aus Berlin in den sieben Tagen seines Einsatzes für das Legal Team mit den verschiedensten Aufgaben konfrontiert worden. Begonnen hatte er schon in Berlin, dort informierte er auf einer Veranstaltung in der Humboldt-Universität über das eigens für den Gipfel [extern] verschärfte Polizeigesetz von Mecklenburg-Vorpommern. Wie alle Mitglieder des Legal Teams war er mit einer kanariengelben Weste mit der Rückenaufschrift Legal Team gekennzeichnet, wenn er in Rostock Demonstrationen begleitete, Gefangene vertrat oder die Rechtsmissbräuche der Behörden dokumentierte.
Rostock, Dienstag, 5.6.07, nachmittags: Im Büro des Anwaltlichen Notdienstes ruft jemand vom Telefondienst nach einem Anwalt mit Kenntnis im Presserecht. Rechtsanwalt Moritz übernimmt. Schnell stellt sich heraus, hier geht es nicht um Presserecht, es geht wie so oft um die Frage danach, wie weit die Polizei gehen darf. Ein Kamerateam ist dran, es hat die Ankunft der US-amerikanischen Delegation gefilmt und war sofort von einer Polizeieinheit zur Herausgabe des Materials sowie der Technik gezwungen worden, weil sie mit ihren Filmaufnahmen die Sicherheit des Gipfels gefährden würden.
Während am anderen Ende der Leitung der Kameramann den Polizisten davon abhalten will, auch noch das Stativ zu beschlagnahmen, versucht Moritz dem Redakteur Argumente für dessen Auseinandersetzung mit dem Einsatzleiter zu liefern. Nach einigem Hin und Her wird den Journalisten die Kamera samt den Aufnahmen zurückgegeben. Nicht immer läuft alles so glimpflich ab in diesen Tagen.
Verhalten der Polizei
Von Anfang an stand die Polizei dem Engagement des Legal Teams skeptisch gegenüber. Allerdings hatte sie vorab z.B. einen freien Zugang der Anwälte zu ihren Mandanten zugesagt. Im Laufe der Tage und insbesondere nach den Ausschreitungen vom Samstag spitzte sich die Konfrontation zu.
"Die Polizei wirkt im Detail sehr professionell, aber auch sehr aggressiv. Insgesamt gesehen scheint sie jedoch unkoordiniert, weil es einfach zu viele Beamte sind, die nicht wissen, was sie machen sollen. Das führt u.a. dazu, dass Versammlungsteilnehmer auf 500 Metern bis zu drei Mal komplett durchsucht werden, weil alle paar Hundert Meter eine Einheit aus einem anderen Bundesland steht," berichtet einer der RAV-Organisatoren des Legal Teams, Rechtsanwalt Peer Stolle. Und Hilbrans ergänzt: "Die Polizei weiß gar nicht, wohin mit ihrer Power. Sie sind im Einsatz unberechenbar und arbeiten mit extrem niedriger Reizschwelle." Polizeikommissar Christian Zimmer von der Pressestelle der BAO Kavala dementiert: "Die eingesetzten Kräfte sind professionell auf ihre Aufgaben vorbereitet worden und erfüllen sie vorbildlich. Wenn die Polizei gelegentlich einen ungeordneten Eindruck macht, so liegt dies zweifellos daran, dass sich Beobachtern das taktische Vorgehen der Polizei in seiner Gänze nicht erschließen kann, weil sie immer nur Ausschnitte des komplexen Einsatzgeschehens erleben."
Deutlich wurde das insbesondere auf der Sonntags-Demonstration, deren Verlauf offensichtlich nicht in das Regieprogramm der BAO Kavala passte. Hauptproblem schien, dass es friedlich blieb, Kavala die Demonstration aber unbedingt verbieten wollte.
Rostock, Montag, 4.6.07, nachmittags: Mehrere Anwälte des Legal Teams begleiten die Organisatoren der "Demonstration für globale Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte in Rostock". Die Polizei hat acht Wasserwerfer und Räumfahrzeuge aufgefahren. Statt der angemeldeten 2000 Teilnehmer strömen 10.000 Demonstranten auf den Platz. Sie müssen intensive und wiederholte Durchsuchungen über sich ergehen lassen. Wer auch nur den Anschein erweckt, sich vermummen zu wollen, wird sofort in Gewahrsam genommen. Mitunter kann für diesen Verdacht bereits das Mitführen einer Sonnenbrille genügen.
Die Demonstration kommt nicht voran, zwei Stunden stehen die Menschen in der prallen Sonne und werden von der Polizei eingekreist. Mitten durch sie hindurch führt ein Gleisbett der Straßenbahn mit vielen, vielen Steinen. Doch nichts passiert; selbst dann nicht, als ein bayerisches Unterstützungskommando (USK) in schwarz entlang der Bahnschienen Aufstellung nimmt und den verwunderten Demonstranten zuraunt: "Heut abend gibt's Rache für gestern."
Als der Demonstrationszug sich endlich in Bewegung setzt, wird er schon bald wieder gestoppt. Dem Nürnberger Polizeieinsatzleiter vor Ort, der sich über den Verlauf der Versammlung mit den Anwälten abspricht, wird von Seiten der BAO Kavala erklärt, die Demonstration dürfe nicht in die Rostocker Innenstadt, weil die Anzahl der angemeldeten Teilnehmer weit überschritten sei. Weder die Anwälte noch den Polizeiführer vor Ort überzeugt das Argument, er fragt nach. Wenig später heißt es aus der Pressestelle von Kavala, die Demonstration sei aufgehalten worden, da sich darin 2.500 vermummte, gewaltbereite Teilnehmerbefänden. Vor Ort erklärt jedoch der Gesamteinsatzleiter vor laufender Kamera, dass es zu keinerlei Straftaten gekommen sei und sich in der Demonstration kein einziger Vermummter befinde. Seine Remonstration bei der Dienststelle hat keinen Erfolg. Gegen 17.15 Uhr muss er Anwälten und Anmeldern mitteilen, dass die genehmigte Route auf Anordnung der Versammlungsbehörde verboten sei. Auch die angebotenen Ersatzrouten werden nicht gestattet. Statt dessen sollen sich die Demonstrationsteilnehmer/innen in Zwei- bis Dreiergruppen vom Versammlungsort entfernen. Nicht nur angesichts der Masse an Menschen eine unerhörte Provokation, sondern weil sich unter ihnen viele Migrant/innen mit ungesichertem Aufenthaltstitel befinden, die nur im Schutz der Demonstration vor einer drohenden Abschiebung sicher sein können.
Wir haben die Demonstration daraufhin für beendet erklärt. Die von der Polizei vorgeschlagenen Ausweichrouten haben wir nicht akzeptiert, denn wenn es Schule macht, dass die Polizei genehmigte Demonstrationen nach Belieben verbieten oder abändern kann, wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einem dauerhaften Prozess der Aushöhlung ausgesetzt.
Rechtsanwalt Peer Stolle, RAV
Der Gesamteinsatzleiter gibt auf, er fühlt sich von der BAO Kavala entmachtet. Jetzt könnte es knallen. Doch es bleibt ruhig. Die Demonstrant/innen umgehen die Polizeisperren und setzen ihren Weg zunächst in kleineren Gruppen, schließlich als Demonstrationszug vereint auf verbotenem Wege fort. Es bleibt friedlich. Ein erschöpfter Polizeibeamter telefoniert mit seiner Freundin und macht seinem Unmut Luft: "Erst lassen sie die Leute hier alle auf den Platz marschieren und dann geht's nicht los. Klar, dass die sich verarscht vorkommen. Die Einsatzleitung geht voll auf Konfrontation und wir müssen den Kopf hinhalten."
Die Polizei hat keine Deeskalationsstrategie gefahren, sie hat nur nicht gleich angefangen zu prügeln. Es ist allein dem besonnen Verhalten der Demonstranten zu verdanken, dass das konfrontative Verhalten der Polizei nicht zu einer gewalttätigen Eskalation geführt hat.
Rechtsanwalt Eberhard Schultz, Bremen:
Auch die Mitglieder des Legal Teams waren vor Übergriffen durch die Polizei keinesfalls sicher. Neben verbalen Attacken und wiederholten Gewaltandrohungen, kam es zu Platzverweisen, Verhaftungen und Übergriffen gegen Anwälte. So berichtete der RAV am 2. Juni, dass in Rostock auf dem Parkplatz Fischerstraße eine Anwältin bei dem Versuch, Kontakt zu einem verletzten, festgenommenen Mandanten aufzunehmen, von einem Beamten zu Boden gestoßen und ihr mit weiteren Schlägen gedroht wurde. Einer Prügelorgie durch bayerische Polizeibeamte konnten vier Anwälte am Sonntag früh vor dem Ausländeramt Rostock nur deswegen entgehen, weil sich diesen Berliner Polizisten in den Weg stellten.
Nach Angaben des RAV wurde am Nachmittag des 7.6. am Blockadepunkt Hinter Bollhagen ein gekennzeichneter Anwalt bei dem Versuch, den Namen eines Festgenommen zu erfragen, von Polizeibeamten mehrfach körperlich attackiert und 75 Meter über den Boden geschleift. Zuvor hatte ein Polizeibeamter den Mund des Festgenommenen zugehalten, so dass dieser nicht antworten konnte, ihn mit fünf weiteren Beamten zu Boden geworfen und gefesselt. Insbesondere auf den ortsansässigen Rechtsanwalt Dietmar Sasse hatte es die Polizei abgesehen. Er hatte auch die Infrastruktur für das Legal Team beschafft. Drei Mal wurde er bedroht und sein Auto mehrfach gezielt durchsucht. Am Donnerstag wurden zwei Anwälte in ihrem Pkw zunächst von einem Wagen der 23. Einsatzhundertschaft aus Berlin verfolgt und schließlich angehalten. Nachdem sie sich als Anwälte zu erkennen gegeben hatten, rissen die Beamten zu dritt die Wagentür auf. Ein Polizeibeamter packte den am Steuer sitzenden Anwalt am Kragen, riss ihn rücklings aus dem Auto und warf ihn auf die Straße. Anschließend hielten die Beamten die Anwälte weitere 20 Minuten für eine Fahrzeugkontrolle fest.
Man ist ja als Jurist bemüht, solche Konflikte mit der Polizei auf eine sachliche Ebene zu heben, aber was man teilweise erleben musste, bringt einen echt an die Grenzen des Erduldbaren. Man hatte das Gefühl, für die Polizei geht die größte Gefahr von den Anwälten und der Presse aus.
Rechtsanwalt Claus Förster, Berlin
Rechtsanwalt Moritz meint dennoch, dass sich die Anwesenheit von Mitgliedern des Legal Teams insgesamt deeskalierend auf die Ausübung staatlicher Gewaltmaßnahmen ausgewirkt habe. Zwar musste auch er hilflos zusehen, als ein Polizist aus Schleswig-Holstein mit schwingendem Knüppel (Tonfa) hinter einem Demonstranten herrannte und dabei schrie: "Ich hau dir den Schädel ein." Auch erlebte er kurze Zeit darauf , wie ein schwarz-uniformierter Beamter einer anderen Einheit mit voller Ausholbewegung einem zu Boden gestolperten Demonstranten mit dem Knüppel mehrfach von hinten auf den Kopf schlug und den benommen am Boden Liegenden sodann mit dem Fuß in den Straßengraben beförderte. Da der Polizeibeamte unter seinem Helm vermummt war und wie alle eingesetzten Beamten keine Dienstnummer an der Uniform trug, könne diese schwere Straftat mangels Erkennbarkeit des Beamten jedoch nicht verfolgt werden, so Moritz.
Dennoch hätten die Legal Teams ihre wesentliche Funktion erfolgreich erfüllen können: "Der Exekutive auf den Demos auf die Finger zu gucken und auch im Anschluss an Verhaftungen nicht wegzusehen." So konnte zum Beispiel am Montag vor der Rostocker Ausländerbehörde durch die beharrliche Präsenz des Legal Teams verhindert werden, dass eine Berliner Einsatzhundertschaft in die friedliche Kundgebung stürmte.
RAV sucht Zeug/innen dieses Vorfalls: Das Foto entstand am Nachmittag des 2. Juni gegen 17:30 Uhr auf der Straße am Warnowufer in Höhe des Aufgangs Kanonenberg. Ein junger Mann wird von einem Polizisten mit einem Schlag zu Boden gebracht und sein Kopf von dem Beamten mehrfach mit der Hand auf den Boden gestoßen, während ein anderer Polizist das weiße T-Shirt um den Hals des Betroffenen wrang und zuzog.
Das Drama der Gefangenen
Und Verhaftungen gab es jede Menge. 1.057 Gefangene zählte die Polizei, zwischen 1.100 und 1.200 der Anwaltliche Notdienst. Wie Rechtsanwältin Verina Speckin auf der Abschlusskonferenz des RAV in Berlin verkündete, habe das System der Ermittlungsausschüsse gut funktioniert, wo sich Demonstrant/innen hinwenden konnten, um beobachtete Verhaftungen zu melden. Lediglich die Polizei habe Stunden gebraucht, um die Namen zu bestätigen, die von den Ermittlungsausschüssen bereits kurze Zeit nach der Festnahme an den Anwaltsnotdienst weitergegeben wurden.
Überwiegend handelte es ich um Gewahrsamnahmen nach dem Polizeigesetz. Danach dürfen Personen, von denen zu erwarten ist, dass sie in unmittelbarer Zukunft Straftaten begehen, für einen bestimmten Zeitraum, in dem die Polizei die Begehung der Straftaten zum Beispiel aus Anlass einer Demonstration erwartet, in Haft gehalten werden. Bis zu zehn Tage ist dies in Mecklenburg-Vorpommern möglich (zum Vergleich: in Berlin sind es bis zu zwei Tage).
Der Grund für eine Festnahme konnte lapidar sein. So genügte bereits das Mitführen eines Tuchs oder einer Sonnenbrille aus, um in den Verdacht des Begehens von Straftaten zu kommen. In anderen Fällen wurden ganze Reisebusse oder aber Fahrgäste der Deutschen Bahn, die mutmaßlich zu einer verbotenen Demonstration unterwegs waren, verhaftet. Während der Blockaden umstellte die Polizei ganze Waldgebiete und nahm die dort vorgefundenen Personen in Gewahrsam (am Donnerstag waren es an der Bundesstraße 105 nach Aktenlage 150 Personen und an der Landstraße 111 waren es 193 Personen), weil sie diese für die Errichtung der Blockaden verantwortlich machten.
Solch diffuse Vorwürfe genügen selbst nach dem geänderten Polizeigesetz von Mecklenburg-Vorpommern nicht den tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Gewahrsamnahme, weswegen die Gerichte bei angemessener Prüfung der Haftgründe die Gefangenen oftmals wieder auf freien Fuß setzten. Das Problem war nur, dass die Gefangenen in der Regel sieben Stunden darauf warten mussten, überhaupt einem Richter vorgeführt zu werden, nicht selten waren es jedoch auch zwölf Stunden. Wurden sie endlich vorgeführt, unterzeichneten die Richter nicht selten ohne genauere Prüfung die formalisierten Haftbeschlüsse. Daher wurden viele Beschlüsse erst im Zuge einer Haftbeschwerde vom Landgericht Rostock kassiert, das den größten Teil der Inhaftierten nach teilweise mehreren Tagen Haft mangels Rechtmäßigkeit der Gewahrsamnahme entließ. Rechtsanwältin Speckin schätzt die "Rechtswidrigkeitsquote" bei Festnahmen auf über 90%.
In den meisten Fällen kam es dem Landgericht jedoch auf die Haftgründe und die ihr zugrundeliegenden Gefahrenprognosen gar nicht an, um die in Polizeigewahrsam gehaltenen Demonstranten zu entlassen. Meist genügte den Gerichten bereits die Feststellung, dass es der Polizei nicht gelungen ist, für eine angemessene Unterbringung der Gefangenen und eine unverzügliche richterliche Vorführung zu sorgen. Die Vorwürfe sind gravierend ([local] Viele offene Fragen nach dem Ende des G8-Gipfels).
Insbesondere in der Gefangenensammelstelle (GeSa) in der Industriestraße in Rostock-Schmarl waren die Festgenommen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Metallkäfigen untergebracht. In einer großen Industriehalle waren auf dem Firmengelände von Siemens käfigartige Zellen errichtet, in denen jeweils bis zu 20 Menschen festgehalten wurden. Die provisorischen Zellen von ca. 25qm Größe waren von allen Seiten sowie von oben einsehbar und videoüberwacht. Das Licht brannte Tag und Nacht, als Verpflegung wurde trockenes Brot mit einer Scheibe Wurst gereicht – was angesichts der Tatsache, dass es in den Camps nur veganes Essen gab, eine zusätzlich Zumutung darstellen musste. Wasser wurde nur auf Verlangen ausgegeben.
Den Festgehaltenen ist es nicht möglich, zu duschen. Die Beamten müssen nicht nur jeden Gang zur Toilette, sondern auch jeden Schluck Wasser protokollieren. Dem Legal Team/Anwaltsnotdienst liegt der Fall eines belgischen Staatsbügers vor, der zum Zeitpunkt dieser Meldung seit dem 6. Juni, also über 24 Stunden und eine Nacht, unter diesen Bedingungen festgehalten wird. "Wie im Zoo", so bezeichnet der Mann die Art seiner Unterbringen. Gegen ihn wird nicht strafrechtlich ermittelt.
RAV-Pressemitteilung vom 7.6.2007
In ihrer [extern] Einsatzbilanz erklärte die BAO Kavala, dass in den Gefangenensammelstellen (GeSa) die geltenden Standards zu jedem Zeitpunkt gewährleistet worden seien, im Übrigen die Einrichtung in der Industriestraße vor der Inbetriebnahme von amnesty international begutachtet und für menschenrechtskonform befunden worden sei. Was Kavala dabei jedoch unterschlägt, ist die Information, dass amnesty der Unterbringung in der GeSa lediglich unter der Maßgabe zugestimmt hat, dass die Ingewahrsamgenommenen dort nur vorübergehend festgehalten werden. Denn nach den gesetzlichen Bestimmungen müssen sie innerhalb von vier Stunden dem Amtsrichter vorgeführt werden. Bestätigt dieser die Ingewahrsamnahme, sollten die Gefangenen aus der GeSa in die Haftanstalten Bützow, Rostock-Waldeck oder Lübeck überführt werden.
Vor allem die Arbeit der Verteidiger wurde systematisch von der BAO Kavala sabotiert. Ein zunächst zugesichertes Anwaltszimmer stellte sich als kleines Kabuff heraus, in denen mindestens neun Anwälten gleichzeitig, denn so viele Richter arbeiteten hier parallel, teilweise mit Übersetzer unter polizeilicher Aufsicht vertrauliche Gespräche mit ihren Mandant/innen hätten führen sollen. Von einem Anwaltszimmer im eigentlichen Sinne, in dem es den Anwälten möglich ist, ungehindert ihre Unterlage auszubreiten, Laptops und Drucker anzuschließen, Anträge zu schreiben sowie Mandantengespräche zu führen, konnte also nie die Rede sein. Als sich die Anwälte über diese Zustände beschwerten, wurde ihnen auch der viel zu kleine Raum von der Kavala entzogen.
Die Zustände in der Gefangenensammelstelle Industriestraße waren geradezu kafkaesk. Von außen keinesfalls als Behörde gekennzeichnet, war es uns Anwälten nur sehr erschwert möglich, überhaupt Einlass zu bekommen, gar nicht möglich war es, zu den Inhaftierten vorzudringen, weil auch die Polizei keine Auskunft geben konnte, wer sich wo befand. Der Zugang zum "Gericht", wo wir Anträge stellen und mit den Richtern den Verfahrtensablauf besprechen wollten, wurde uns verweigert. Zunächst wurden wir bereits vor dem Industriekomplex, in dem die GeSa untergebracht war, von Beamten der Bundespolizei registriert, ohne dass eine Rechtsgrundlage für diese Datenspeicherung ersichtlich wäre.
Vor der inneren Zugangskontrolle erhielten wir von einer Anwaltsbetreuerin einen Ausweis mit der Aufschrift "Kavala – Anwalt", den wir nach jedem Verlassen der GeSa abzugeben und neu zu beantragen hatten. Weder in ein Anwaltszimmer noch zu den Richtern wurden wir vorgelassen. Statt dessen hieß man uns, die Anträge auf Freilassung an die in der GeSa – samt eigener Geschäftsstelle zur Ausfertigung der Beschlüsse – untergebrachten Amtsrichter der Polizei zu übergeben.
Alle Richter und auch die Geschäftsstellenbeamten trugen jeweils ein Schild "Kavala -Justiz", die Richter waren in ihrer Funktion nicht erkennbar. In den Gerichtsräumen hielten sich mindestens drei mal so viele Polizeibeamte auf wie Justizangehörige. Die Polizei wies uns an, abwechselnd ein Zimmer für Gespräche mit Mandanten zu nutzen, während neun Richter parallell arbeiten sollten.
Dieses Verfahren war so offensichtlich ungleichgewichtig, unfair und von der Exekutive dominiert, dass von einem ordentlichen Gericht nicht mehr die Rede sein konnte. Die Judikative hat sich hier ohne weiteres zum Anhängsel der Exekutive degradieren lassen.
Rechtsanwalt Thomas Moritz, Berlin
Rostock, Industriestaße, Donnerstag, 7.6.07, 10:04: Erst nach einem Schlagabtausch mit der Bundespolizei werden Rechtsanwalt Thomas Moritz und sein Kollege zum [extern] Eingang der Gefangenensammelstelle vorgelassen, das durch ein Drehkreuz gesichert ist und über der in großen Buchstaben die Firmennamen Sirius und Simens pranken. Die Anwälte versuchen, zum Anwaltszimmer zu gelangen, werden aber darüber informiert, dass ein Anwaltszimmer nicht mehr zur Verfügung stünde. Daraufhin breiten sie ihre Aktenordner unter der gleißenden Sonne vor den Stufen der provisorischen GeSa aus. Immer wieder begehren sie Einlass, um für ihre Mandanten Anträge auf Freilassung beim Gericht abzugeben.
Die Anwaltsbetreuer sind verwundert. Ein Gericht gebe es hier nicht. Die neun Richter würden lediglich die Räume der GeSa für die Vorführungen nutzen, damit die Gefangenen nicht zum Amtsgericht gebracht werden müssen. Die Anträge würden ausschließlich durch die Polizei an die Richter weitergegeben. Die Anwälte weigern sich, die Schriftstücke herauszugeben, fragen statt dessen nach der Rechtsgrundlage und verunsichern die Beamten mit Ausführungen zur Gewaltenteilung und zur Unabhängigkeit der Justiz, die es gebiete, dass Anwälte jeder Zeit bei Gericht ihre Anträge abgeben dürften. Schließlich müsse es sich doch auch um ein Gericht handeln, wenn es dort eine Geschäftsstelle gebe, die Beschlüsse nicht nur entgegennehme, sondern auch ausfertige.
Die Beamten sind verwirrt. Die Anwälte machen Druck. Mit den Anträgen in der Hand versuchen sie sich an den Beamten vorbeizuschieben, werden aber mit Gewalt zurückgedrängt. Ein Anwalt erhält Hausverbot, als er versucht, im "Gerichtsflur" die Tür der Geschäftsstelle des Gerichts zu öffnen, um sich über die Bedingungen vor Ort zu beschweren. Bevor er die Klinke herunterdrücken kann, wird er von Beamten umringt, die je zu zweit die Türen der Richterbüros bewachen, und abgeführt.
Nach einiger Zeit kommt ein Mann mit nordrhein-westfälischem Wappen auf dem Arm zu den Anwälten herüber, dessen Namenskärtchen ihn als Verantwortlichen kennzeichnet. Die Anwälte sind verblüfft, wie es sein könne, fragen sie, dass er hier das Kommando führe. Ob es dafür eine Rechtsgrundlage gäbe, ob er ihnen etwa das Amtshilfeersuchen der Rostocker Polizeidirektion vorlegen könne. Der Beamte ist irritiert, weiß selbst nicht, auf welcher Rechtsgrundlage er tätig ist und ob es überhaupt eine gibt. Er holt zum Gegenschlag aus und verlangt die Akkreditierungsausweise der Anwälte. Als sich diese weigern, erklärt er sie schlichtweg für ungültig. Dann geht er.
Schließlich erscheint doch noch ein Richter vor dem Haus. Verspricht, sich für die Belange der Anwälte einzusetzen und nimmt die Anträge entgegen. Er teilt mit, dass die Polizei den Richtern bisher noch nicht mal eine Liste mit den Namen der Inhaftierten übergeben konnte – sechs Stunden nach der Aufnahme in der GeSa. Man müsse sich gedulden, denn nur ein Beamter sei dafür zuständig. Derweilen treffen immer wieder Sammeltransporte mit mehreren Hundert Verhafteten ein. Dass unter diesen Bedingungen eine unverzügliche Vorführung der Gefangenen vor den Richter gewährleistet werden kann, wird immer unwahrscheinlicher. Die Anwälte fordern daher ein Ende der nach ihrer Ansicht extralegalen Gerichte, die gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstoßen und für die keine Rechtsgrundlage ersichtlich sei, sowie die Schließung der GeSa.
Als die Anwälte sich noch nach dem Unterbringungsbedingungen in der GeSa erkundigen, räumt der Richter die Existenz der Käfige ein. Sofort werden einige umstehende Journalisten hellhörig, stellen Nachfragen und machen sich hektisch Notizen. Kurze Zeit später diktieren sie, zwei Handys am Ohr, den Redaktionen ihre Sensationsmeldung. Es sollte nicht die letzte bleiben. Gegen 15:00 Uhr kommt Verstärkung für die Anwälte vor Ort. Aus dem Büro des Anwaltsnotdienstes eilen Kollegen herbei. Sie haben ein Transparent gefertigt, auf dem sie freien Zugang zu ihren Mandanten fordern. Wenig später [extern] demonstrieren 16 Mitglieder des Legal Teams vor der GeSa für die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Standards.
Die Strategie der Anwälte zielte klar auf eine Delegitimation der extralegalen Gerichte, ein Ende der polizeilichen Willkür bei der Unterbringung der Gefangenen und auf die Durchsetzung originärer Prozessgrundrechte. Einen Tag später wurde die GeSa in der Industriestraße tatsächlich geschlossen, die verbliebenen Gefangenen verlegt. Die meisten von ihnen waren jedoch auf Drängen der Anwälte bereits von den Amtsrichtern auf freien Fuß gesetzt worden, nachdem sie mit siebenstündiger Verzögerung endlich vorgeführt wurden. In anderen Fälle hatte die Polizei nach über zehnstündiger Haft die Haftanträge zurückgezogen und die Gefangenen selbständig entlassen – nicht ohne weitere zeitliche Verzögerungen, was juristisch als Freiheitsberaubung bewertet werden muss.
Unsere Argumente haben gegenüber dem Gericht und der Polizei Wirkung gezeigt, weil es von Anfang an überhaupt keinen Grund gab, die Menschen in Gewahrsam zu halten. Das ist um so schlimmer als die Rechte der Betroffenen von dem Gericht, das sich mir als judikatives Anhängsel der Kavala darstellte, erst nach über zwölf Stunden in Betracht gezogen wurden, ohne dass das Gericht darauf hingewirkt hätte, dass die von ihm verfügten Entlassungen auch tatsächlich unverzüglich und nicht erst zwei oder drei Stunden später erfolgten.
Rechtsanwalt Thomas Moritz, Berlin
Protest, Recht und Medien
Der Einsatz des Legal Teams wurde von der Presse nicht immer wohlwollend bedacht. Waren sie bereits von den Hausdurchsuchungen des BKA im Vorfeld der G8-Proteste nicht verschont worden, wurden die Anwälte auch in den Medien schnell als Rückzugsraum der Randalierer gebrandmarkt. Vor allem im Hause Springer:
Immer können sich die Gewalttäter auf ein legales, ebenfalls hoch politisiertes Umfeld verlassen, das Demonstrationen nicht nur organisiert, sondern im Ernstfall auch gleich sympathisierende Rechtsanwälte vermittelt. Biedermänner und Brandstifter arbeiten eng zusammen.
[extern] Berliner Morgenpost vom 4. Juni 2007
Auch die BILD-Zeitung fiel durch ihre verleumderische Berichterstattung auf. So wurde ein [extern] Foto, auf dem eine Anwältin zu sehen ist, wie sie einen als Autonomen getarnten Zivilbeamten ihre Hilfe anbietet und ihn aus der Blockade heraus zur Polizeikette zurückgeleitet, mit der Erklärung untertitelt: "Aufgebrachte Schläger versuchen, einem Zivilpolizisten die Kapuze vom Kopf zu reißen." Tatsächlich verdankte der Beamte seine Unversehrtheit jedoch dem umsichtigen Einschreiten der Anwältin. Er hatte sich am 5.6.2007, gegen 19.00 Uhr mit vier weiteren Polizeibeamten in Zivil bei der Blockade am Osttor des Sicherheitszaunes eingeschlichen und versucht, die anwesenden Demonstranten zu Straftaten anzustacheln, war aber erkannt worden. ([local] Nach dem Gipfel).
Auch im Nachhinein erscheinen die Anwälte in den Medien eher als Sprachrohr der Randalierer denn als Organe der Rechtspflege. Das wurde insbesondere in der sonntäglichen Talkshow-Runde von [extern] Sabine Christiansen deutlich.
Berlin, 10.6.07, ARD: Zum Thema "Die Polizei – Prügelknaben der Nation" diskutieren der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU), der ehemalige FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum, der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, die Bundesvorsitzende der Grünen Claudia Roth, der Polizeiwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Feltes und die Hamburger Rechtsanwältin Karen Ullmann vom Anwaltsnotdienst des RAV. Während der rechtspopulistische zweite Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft mit seinen verbalen Entgleisungen gegen die Menschenwürde und das Demonstrationsrecht selbst noch dem Maßnahmenpolitiker Beckstein linksliberale Reflexe unterstellt, hat Rechtsanwältin Ullmann alle Mühe, in der Diskussion auf die Berücksichtigung der Faktenlage zu bestehen. Von Anfang an wird sie von Christiansen stellvertretend für Attac als die Globalisierungskritikerin schlechthin vorgestellt, nur am Rande ihre Funktion als Anwältin des Legal Teams erwähnt. Sie schlägt sich hervorragend, interveniert, wenn sie unterzugehen droht, schwafelt nicht nur daher wie diejenigen, die bei Frau Christiansen nicht ins Wort fallen müssen, um zum Reden zu kommen.
Am Ende muss sogar Beckstein zurückrudern und leise Zweifel an der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards während der G8-Proteste einräumen, während er am Anfang noch zu berichten wusste, er kenne niemanden, der unrechtmäßig verhaftet worden sei. Auf Ullmanns Frage, ob er den Gerichten in Rostock Linksradikalismus unterstellen wolle, weil diese mit ihren Beschlüssen die Rechtswidrigkeit der Inhaftierungen festgestellt hatten, bleibt er lange Zeit sprachlos, was nicht häufig vorkommt an diesem Abend.
Auch die Funktion der Medien für die Arbeit der Anwälte insgesamt muss als sehr ambivalent eingeschätzt werden. Zum einen trugen sie mit ihren Nachfragen und Recherchen, letztlich auch mit der Skandalisierung von Rechtsverletzungen, entschieden dazu bei, dass die Polizei ihr Vorgehen revidierte oder zumindest der öffentliche Druck wuchs, den Forderungen der Anwälte nachzukommen. Andererseits griffen sie jedoch auch die gezielten Falschmeldungen und Übertreibungen der BAO Kavala ohne eigene Prüfung auf, prägten damit das Bild vom permanenten Ausnahmezustand und nährten die unreflektierte Angst vor der Randale ([local] Opferzahlen der Randale in Rostock weit übertrieben?).]
Auf der Pressekonferenz des RAV sieht Rechtsanwalt Ullrich von Klinggräff vor allem in den gezielten Falschmeldungen der BAO Kavala eine wesentliche Behinderung der anwaltlichen Arbeit und einen Widerspruch zu der von der Polizei verkündeten Deeskalationsstrategie. Die maßlosen Übertreibungen bei den Verletztenzahlen nach der Randale in Rostock, die lancierten Meldungen über Messerstiche auf Polizeibeamte, Säureangriffe durch Clowns oder angebliche Vermummung in Demonstrationszügen, könnten nicht mehr als Versehen gewertet werden, sondern als bewusste Delegitimationsstrategie gegen die Proteste, so Klinggräff.
Die Polizei erzeugte so das Bild von der permanenten politischen Ausnahmesituation, die jederzeit in äußerste Gewalt umschlagen kann. Dieses Bild hat sich verheerend auf die Funktionen des Rechtsstaats ausgewirkt. Aus generalpräventiven Erwägungen heraus, wurden in Schnellprozessen Leute zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt, wo – das Ergebnis der beschleunigten Beweisaufnahme als wahr unterstellt – die Voraussetzungen für eine Bewährung unproblematisch gegeben waren, wurden Demonstrationen verboten, wurden Hunderte von Demonstranten in Gewahrsam genommen und getraute sich nicht mal das Bundesverfassungsgericht, dem [local] Maßnahmestaat Einhalt zu gebieten.
Rechtsanwalt Thomas Moritz, Berlin
Immerhin bewiesen neben vielen Haftrichtern auch die Verwaltungsgerichte Augenmaß. Gegen zahlreiche Platzverweise, die von der Polizei für den gesamten Innenstadtbereich von Bad Doberan, Rostock oder die Umgebung von Heiligendamm teilweise für über sechs Tage ausgesprochen wurden, gewährte das Verwaltungsgericht Schwerin Eilrechtsschutz. Nur so konnten vielen Demonstranten vermeiden, in der überregionalen Polizeidatei "gewaltbereite Störer" aufgenommen und bei zukünftigen Demonstrationen in Vorbeugegewahrsam genommen zu werden.
Demokratie braucht Recht
In seiner [extern] Entscheidung zum Sternmarsch hat das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des Demonstrationsrechts für die Demokratie als wichtiges Instrument der Machtkritik hervorgehoben und die Behörden für ihre grundrechtsnihilistischen Sicherheitskonzepte gerügt. Auch wenn es sich nicht getraute, den letzten, konsequenten Schritt zu tun und die Demonstrationen zu genehmigen, hat es dem Protest seine Legitimation und seine Bedeutung für den freiheitlichen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess zurückgegeben.
Zugleich aber hat es deutlich gemacht, dass diese Rechte nur in einem Staat wahrgenommen werden können, der sie auch schützt. Gesellschaftliche Entwicklung und gewaltfreie Kritik sind also nur in einem gehegten Rechtsraum möglich. Dass sich die Demonstranten ihr Recht letztlich nur in einem Akt des Widerstands gegen gerichtliche und polizeiliche Verbote zurückerobern konnten, spricht dafür, dass den Polizeibeamten vor Ort dies letztlich auch bewusst war. Die Legal Teams haben mit ihrer Arbeit dafür gesorgt, dass solche Werte auch im herbeigeredeten Ausnahmezustand nicht vergessen wurden.
Die Arbeit des Legal Teams/Anwaltlichen Notdienstes war von viel Arbeit und guter Atmosphäre unter den Kolleginnen und Kollegen bestimmt. Allerdings haben uns die massiven Übergriffe der Polizei selbst überrascht. Letztlich ist jedoch die Eskalationsstrategie der BAO Kavala nicht aufgegangen. Es ist unverantwortlich, dass selbst Anwälte von der Kavala nicht als Organe der Rechtspflege, sondern als Feinde betrachtet werden. Vor allem dem besonnenen Vorgehen der Demonstranten und der Anwälte ist es zu verdanken, dass die Lage nicht weiter eskaliert ist. Das polizeiliche Vorgehen war an vielen Stellen eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig.
Martin Dolzer, Öffentlichkeitsreferent des RAV, Hamburg
Wenn die Kollegen bei den polizeilichen Aktionen oder in der GeSa den Eindruck hinterlassen haben, sie würden Anwälte als Feinde ansehen, ist das natürlich außerordentlich bedauerlich, lässt sich aber sicherlich durch die von Stress und Hektik geprägten Abläufe der letzten Tage erklären. Fakt ist jedoch, dass das Recht der Inhaftierten auf einen Anwalt jeder Zeit gewährt wurde. [...] Die Kollegen sind jedenfalls alle froh, dass es vorbei ist, sie nach Hause zu ihren Familien können und nichts Schlimmeres passiert ist. Wir werden in den nächsten Wochen unseren Einsatz und die Geschehnisse auszuwerten haben. Dabei wird es sicherlich auch Gespräche mit den Veranstaltern und den Anwälten geben. Die gab es ja auch vorher schon und auf dieser guten Basis können wir aufbauen und gegenseitig profitieren. Schließlich wird dies nicht das letzte Großtreffen in Deutschland gewesen sein. Wir können aus den positiven Ansätzen und kreativen Protestformen nur lernen.
Polizeihauptkommissar Lütjan, Pressestelle Kavala, NRW
Rostock-Laage, Freitag, 8.6.07, 20:00 Uhr: Als Daniel Becker mit dem Auto auf dem Heimweg nach Berlin wieder am Flughafen Rostock-Laage vorbeikommt, ist dort vom Gipfel nichts mehr zu sehen. Keine Schützenpanzer, kein Helikopter im Himmel, nicht ein Polizeifahrzeug weit und breit. Nur die tiefen Abdrücke im Gras erinnern noch daran, dass hier gestern noch Ausnahmezustand geherrscht hat. Er schraubt das Fenster herunter und schaltet das Radio ein.
In den Nachrichten wird verkündet, die BAO Kavala ziehe nach der Beendigung des G8-Gipfels eine positive Bilanz: Die Gewährleistung der Sicherheit der Staatsgäste sowie der störungsfreie Verlauf des Gipfeltreffens seien zu jedem Zeitpunkt gewährleistet worden, ebenso wie der Schutz friedlicher demonstrativer Aktionen; in Berlin würden sich Teilnehmer einer Reclaim the Street Party in der Nähe des Rosentaler Platzes Straßenschlachten mit der Polizei liefern, der Evangelische Kirchentag in Köln übe deutliche Kritik an den G8-Staaten und ihrer Politik; das Wetter bleibe warm, heiter bis bewölkt bei Temperaturen über 20 Grad. 'Als sei nichts gewesen', denkt Becker und drückt aufs Gaspedal.
[http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25500/1.html]