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2008-01-18

Erklärung der Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz

Erklärung der Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz – Bremen (MAUS e.V.)

zum Verfahren gegen Globalisierungsgegner_innen wegen der Beschuldigung einer „militanten Kampagne gegen den G8-Gipfel“

Der Bundesgerichtshof erklärt die Durchsuchungsaktion am 09.05.2007 in seiner Mitteilung vom 04.01.2008 mit Beschluss vom 20.12.2007 für rechtswidrig!

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit seinem Beschluss festgestellt, dass diejenigen Personen, die eine militante Kampagne gegen den G8-Gipfel durchgeführt haben sollen, schon aus Rechtsgründen keine terroristische Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB darstellen.

Im Beschluss heißt es weiterhin, es könne dahingestellt bleiben, ob überhaupt ein Verdacht einer kriminellen Vereinigung im Sinne des § 129 StGB bestehe, „woran al­lerdings nachhaltige Zweifel bestehen“.

Selbst wenn eine kriminelle Vereinigung gegeben wäre, so liegt in jedem Fall keine besondere Bedeutung des Falles vor und damit auch keine Zuständigkeit der Bun­desbehörden (Ermittlungsrichter am BGH, BAW, Bundeskriminalamt).

Berlin

Im Ergebnis heißt dies, dass der Ermittlungsrichter am BGH sowie die BAW für das Ermittlungsverfahren nicht zuständig waren.
So hat der BGH in dem Beschluss vom 20.12.2007 sämtliche in dem Ermittlungsver­fahren erlassene Beschlüsse aufgehoben.
Durchsuchungsanordnung, Beschlagnahmebeschluss sowie der Beschluss der Bestä­tigung der vorläufigen Sicherstellung von Gegenständen zum Zwecke der Durchsicht waren rechtswidrig und wurden aufgehoben.

Damit ist die Ermittlungstätigkeit der Bundesanwaltschaft beendet. Das Verfahren wird vermutlich an die Staatsanwaltschaft Hamburg abgegeben werden und vermut­lich demnächst eingestellt werden.

In der bürgerlichen Öffentlichkeit und in den meisten Presseorganen wird jetzt sinn­gemäß frohlockt:
der demokratische Rechtsstaat hat gesiegt,
der BGH hat der Generalbundesanwältin Monika Harms eine Ohrfeige verpasst,
das Vertrauen in die Demokratie ist jetzt wieder hergestellt,
oder es wird die Abberufung von Monika Harms gefordert - wohl mit der Hoff-nung, dass sich dann etwas Grundsätzliches verändern würde.

Aber das Rad der Geschichte lässt sich nicht so einfach zurückdrehen – und das ist auch gar nicht beabsichtigt -. BAW, VS und BKA haben zumindest teilweise das er­reicht, was sie vorhatten. Sie haben Daten gesammelt, Strukturen durchleuchtet, bundesweit ein Manöver durchgeführt, um ihre Apparate zu koordinieren und die Funktionsfähigkeit auszuprobieren, und sie haben die politische Konsensfähigkeit ih­rer Strategien ausgetestet. Und sie haben versucht, eine Stimmung der totalen Kon­trolle und Überwachung zu verbreiten.
Die Auswirkungen auf die Verfolgten und auf die gesamte Gesellschaft sind nicht zu ignorieren und sind durch den BGH-Beschluss nicht rückgängig zu machen.

zum Ablauf und zur Einschätzung der Lage

Hausdurchsuchungen

Im Rahmen der bundesweiten Hausdurchsuchungen am 9. Mai wurden auch die Räume der Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz (MAUS) in Bremen sowie einige im Haus befindlichen Wohn- und Arbeitsräume verschiedener Bewohner_innen von der Generalbundesanwaltschaft (BAW), dem Bundeskriminalamt (BKA) und dem Landeskriminalamt (LKA) durchsucht.
Begründet wurde die Durchsuchung damit, dass einer der §129a-Verfolgten seinen Arbeitsplatz in der Meßstelle hat.

Es wurden Materialien in einem Umfang beschlagnahmt, so dass die Arbeit bis heute blockiert ist. Wir haben auch nach über 8 Monaten von den beschlagnahmten Sachen bis auf die PCs nichts zurückbekommen.
Aus einem Seminar an der Universität Bremen – das von dem Beschuldigten veran­staltet wird - wurden Teilnehmer_innenlisten über mehrere Semester und Seminar­arbeiten beschlagnahmt. Dem Beschuldigten wird ja vorgeworfen, jüngere Leute für militante Aktionen rekrutiert zu haben. Das soll wohl bei den Seminarteineh­mer_innen überprüft werden. Dadurch wird die Arbeit auch in diesem Seminar er­schwert.

Wie aus den Akten hervorgeht, ist der größte Teil der Ermittlungen vom Verfas­sungsschutz (VS) durchgeführt und Ergebnisse und Handlungsvorschläge dem BKA zur Verfügung gestellt worden. Hier wird eine sehr enge Zusammenarbeit von Ge­heimdienst und Polizei sichtbar. Nicht zufällig wurde nach dem zweiten Weltkrieg – als Reaktion auf den deutschen Faschismus und den unsäglichen Erfahrungen mit der allmächtigen Gestapo - die Arbeit von Geheimdienst und Polizei per Gesetz ge­trennt. Das scheint heute aber keine Rolle mehr zu spielen.

Aus den ErmittlungsAkten wird auch ersichtlich, dass das BKA unmittelbar mit Sozial­amt, Arbeitsamt, Finanzamt, Verkehrsamt, Ordnungsamt, Versicherungen, Auslän­derbehörde und Banken usw. zusammenarbeitete.

der Gesinnungs- und Schnüffelparagraph 129a

Gegen uns wurde das ganze Repertoire von Kontrolle und Überwachung eingesetzt – zum Teil über mehrere Jahre – das VS und BKA zur Verfügung stehen.

Mit dem Gesinnungs- und Schnüffelparagraphen 129a, mit dem die Observationen und die Durchsuchungen präventiv juristisch „legitimiert“ wurden, ist es der Justiz heute wieder möglich, Oppositionelle - wie z.B. Menschen, die sich gegen den bevor­stehenden G8-Gipfel in Heiligendamm engagieren - auszuforschen, sie zu kriminali­sieren und die laufende Arbeit zu behindern.

Die Ermittlungsbefugnisse bei § 129a-Verfahren entsprechen denen bei Verfahren gegen "organisierter Kriminalität" (z.B.: Geldwäsche, Mafia). D.h. es gibt keinen Da­tenschutz, kein Bankgeheimnis - auch nicht für Verwandte, Freund_innen, Mitbe­wohner_innen usw. Diese erfahren im allgemeinen nie, dass und wie sie in solchen Ermittlungen auftauchen.

Wir sehen im §129a ein Instrument staatlicher Herrschaft, das prinzipiell alle politisch kritischen Menschen unter Generalverdacht stellen kann. Ein potentieller Gegner, der als Gefahr für die öffentliche Sicherheit angesehen wird, kann so mit Mitteln des Strafrechts präventiv ausgeschaltet werden. Somit sind wir alle potentiell Verdäch­tige.

Vor nicht allzu langer Zeit wurden Menschen in Gefängnisse oder Lager gesperrt, wenn sie systemkritische Flugblätter verteilten oder Kontakt zu bestimmten Personen hatten. Heute reicht dieser "Tatbestand" scheinbar immerhin schon wieder aus, um Hausdurchsuchungen damit zu begründen.

Versuch einer politischen Einordnung

Wenn wir jetzt politisch verfolgt und angegriffen werden, dann nicht, weil wir harm­lose unbescholtene Bürger_innen sind, oder das ganze ein Versehen/ein Irrtum ist. Wir werden angegriffen, weil wir uns für eine revolutionäre Umgestaltung dieser Ge­sellschaft einsetzen.

wir kämpfen gegen diese herrschenden Verhältnisse:
wir wollen ein anderes Leben,
wir wollen eine andere Welt.

Es geht uns um eine Welt, in der der Mensch und nicht die ökonomische Rationalität im Mittelpunkt von Denken und Handeln steht.

Genau deshalb werden wir herausgegriffen und werden in der Öffentlichkeit als Ter­rorist_innen vorgeführt, mit dem Ziel, die gesamte Gesellschaft einzuschüchtern und politisch auf die kapitalistische Normalität auszurichten.

Gegen niemanden von uns gibt es konkrete Tatvorwürfe oder irgendwelche objekti­ven Beweismittel.
In einem wilden Konstrukt – offensichtlich heute noch nicht juristisch haltbar – wird eine terroristische Vereinigung zusammengezimmert und mit Hilfe des §129a prä­ventiv observiert, überwacht, durchsucht, beschlagnahmt, kriminalisiert.

Aber wir sollten uns nicht so sehr über ihre Konstrukte aufregen, sondern die Strate­gien, die dahinter stecken studieren und angreifen. Sie studieren uns teilweise seit Jahrzehnten, wir sollten sie nicht unterschätzen, das lenkt nur von ihren wahren Ab­sichten ab und erleichtert ihnen so ihre Arbeit.
Es geht ihnen nicht hauptsächlich um die Vorwürfe oder auch nicht hauptsächlich um Verurteilung der Beschuldigten, das alles sind nur Platzhalter für ihre längerfristige Strategie. Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass der §129a ihnen kurzfristig aus der Hand genommen wurde und dass die Verfahren vielleicht irgendwann sang- und klanglos eingestellt werden.
Die langfristige politische Strategie, die dahinter steckt, ist die der totalen Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Menschen und der Gesell­schaft:
Die Verfolgungen betrifft so die gesamte Linke und nicht nur deren radi­kalen Teil, und letztlich weit darüber hinaus die gesamte politische "Land­schaft" in Deutschland. Wir sehen "unser" Verfahren nur als einen kleinen Mosaikstein in einem weit größeren Gesamtzusammenhang von sog. „Si­cherheitsPolitik“.

Uns scheint, dass zumindest ihr Konzept der kurzfristigen Einschüchterung, Ver­unsi­cherung und Spaltung des Widerstandes mit diesen konkreten Angriffen nicht aufge­gangen ist.
Große Teile der Öffentlichkeit reagieren mit Unverständnis oder gar Protest. Wir ha­ben viel Unterstützung erfahren. Ein Ausdruck davon sind die vielen Veranstaltungen, Demonstrationen und auch die Demonstration am 15. 12. 07 in Hamburg unter dem Motto: »gegen den kapitalistischen Normalzustand, gegen Überwachungsstaat und Repression«. Die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm bekam einen neuen Schub.
Der Stein, den sie gegen uns erhoben haben, ist auf ihre eigenen Füße gefallen. Sor­gen wir dafür, dass das so weitergeht.

Alle drei §129a Verfolgungswellen sind Ausdruck der aktuellen politischen Situation, die von Diskursen über den Begriff ”Sicherheit” geprägt ist. Die Politik staatlicher Überwachung, das Sammeln und Speichern aller Daten von Menschen und das Vo­rantreiben von Repression sind Ausdruck einer Veränderung der staatlichen und ge­sellschaftlichen Verhältnisse, im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung und kapita­listischen Globalisierung der Welt.

Mit der Vorratsdatenspeicherung der Telekommunikation und Online-Durchsuchun­gen von Computern stehen weitere verschärfte Sicherheits- und Überwachungsbe­fugnisse auf der politischen Agenda und das betrifft nicht nur Oppositionelle sondern die gesamte Bevölkerung.
Wer sich ständig überwacht und beobachtet fühlt, wird sich meist immer erschwerter unbefangen und mutig für die Auseinandersetzung um eine herrschaftsfreie, solidari­sche Gesellschaft und für seine persönliche Freiheitsrechte einsetzen. Das führt zu einer neuen Konzeption von Verhalten, die diesen potentiellen Blick der Überwa­cher_innen mit einbezieht.
So soll allmählich eine unkritische Konsumgesellschaft von Menschen entstehen, die »nichts zu verbergen« haben und dem Staat gegenüber – zur vermeintlichen Ge­währleistung totaler Sicherheit – ihr Bedürfnis nach Autonomie – d.h. Selbstbestim­mung und Kollektivität als dialektische Einheit - aufgeben.
Eine solche Gesellschaft wollen wir nicht!

Alleine schon die vage Möglichkeit von Unzufriedenheit oder gar Unruhe in Zeiten wachsender Vereinzelung, sozialer Ungleichheit und sozialer Unsi­cherheit lässt den Staat präventiv repressiv handeln.

So wird in offiziellen staatlichen Kreisen schon wieder öffentlich diskutiert und zum Teil auch schon praktisch umgesetzt – auch wenn das Bundesverfassungsgericht zur Zeit noch nicht immer mitspielt:
Einsatz der Bundeswehr im Inneren (s. z.B. G8-Gipfel, Heiligendamm), die Innenpolitik noch weiter zu militarisieren,
Aufhebung des Trennungsverbots von Polizei und Geheimdiensten (s. z.B. das §129a-Verfahren),
Einordnung von „Terroristen“ in das System des humanen Völkerrechts als nicht mehr zeitgemäß, „Terroristen“ als Feinde der Rechtsordnung teilweise rechtlos zu stellen,
Äußere und Innere Sicherheit ließen sich nicht mehr auseinander halten,
die strikte Trennung zwischen Völkerrecht im Frieden und Völkerrecht im Krieg werde der neuen Bedrohung nicht mehr gerecht, terroristische Bedrohung als Quasi-Verteidigungsfall,
Gezielte Tötung Verdächtigter, Abschuss von entführten Passagierflugzeugen,
Folter als Methode polizeilicher Ermittlung,
Abschaffung des Rechts auf Aussageverweigerung und die Unschuldsvermu­tung für Beschuldigte,
Sicherungshaft ohne strafgerichtliches Urteil für sog. „Gefährder“ (im Faschis­mus hieß das „Schutzhaft“).
usw.

Der totale Überwachungsstaat ist kein Auswuchs sondern konsequenter Ausdruck dieser herrschenden Verhältnisse.
Es genügt deshalb nicht alleine einzelne Verschärfungen von Überwachung und Repression zu kritisieren, sondern es müssen immer auch die Verhält­nisse, die diese hervorbringen in die Kritik mit einbezogen werden.

Meßstelle für Arbeits- und UmweltSchutz , www.MAUS-Bremen.de, 10. Jan. 2008, Tel./Fax 0421-34 29 74
(Label: §129a – 2007/2008 // Dateinahme: Erklärung der MAUS zum BGH-Beschluss201207// überarbeitet: 16.01.08)

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