Written by noa
Thursday, 21 July 2005
Heiße Luft und blockierte Straßen
Rückblick auf Gleneagles
Im Folgenden unser Bericht zu den Protesten anlässlich des G8-Gipfels 2005 in Schottland sowie unsere Überlegungen und Fragen zur Institution G8. Bericht und Einschätzung sind subjektiv und beruhen im Wesentlichen auf unseren eigenen Erfahrungen, Erlebnissen und Gesprächen vor Ort. Wir hoffen, dass es ein informativer Beitrag für die Daheimgebliebenen sein kann und zur Bewertung und Analyse mit Blick auf die kommenden Gipfelproteste (2007 auch in Deutschland) beitragen kann.
G8-Gipfel – Die offiziellen Ergebnisse
Haben “Ergebnisse” und Absprachen bei den G8-Gipfeln tatsächlich irgendeine Relevanz oder liegt der Effekt nur in dem persönlichen “sich näher kommen” der Regierungschefs? Institutionen wie die Weltbank (WB) und der Internationale Währungsfonds (IWF) können aufgrund der Anteils- und damit Stimmverteilung von den Chefs der G8 dominiert werden, und es ist anzunehmen, dass sie dies auch im jeweiligen, ggf. gemeinsam verfolgten Einzelinteresse tun. Die offiziellen Ergebnisse des G8-Gipfels in Schottland sind in diesem Zusammenhang aber völlig irrelevant. Zwar werden die im Abschlusskommunique festgeschriebenen Absichtserklärungen als besonders bedeutsam dargestellt, bringen aber tatsächlich nichts neues. Was immer in dem Kommunique steht, hätte zum größten Teil auch ohne das Gipfeltreffen stattgefunden (war unabhängig davon bereits beschlossen), bzw. war vorher so offen und unverbindlich wie nachher.
Umwelt: Als großer Sieg für die Umwelt und einen entscheidenden neuen Schritt im Kampf gegen die Klimaerwärmung wird der Öffentlichkeit das Eingeständnis von Herrn Bush verkauft, dass der Mensch vermutlich auch einen gewissen Beitrag zur Klimaerwärmung leistet. Ein “Riesendurchbruch” deshalb, weil eines der Argumente, mit denen sich die US-Regierung bisher geweigert hatte, das Kyoto-Protokoll zu ratifizieren, eben besagt, dass es keine gesicherten wissenschaftlichen Belege gäbe, dass der Mensch überhaupt irgendeinen nennenswerten Einfluss auf die Klimaentwicklung habe. Ein toller Erfolg des Gipfels! – blöd nur, dass Bush sich dieses Eingeständnis in den vergangenen Jahren schon öfter hatte abringen lassen (vermutlich immer dann wenn in Verhandlungen auch die US-Regierung – zur Gesichtswahrung der anderen Beteiligten – mal nachgeben sollte).
Verschuldungskrise der Entwicklungsländer: Der hochgejubelte Schuldenerlass von 40 Mrd. US$ ist technisch gesehen kein echter Erlass, sondern ein Verzicht auf Schuldendienstzahlungen über die kommenden 10 Jahre. Der eigentliche Nettowert der Erlasse liegt somit bei 17 Mrd. US$ (vgl. www.eurodad.org/articles/default.aspx?id=628). Der Großteil dieser Kredite wäre aufgrund drohender Zahlungsunfähkeiten sowieso kaum noch einzutreiben gewesen. Zudem handelt es sich nicht um einen unkonditionierten Schuldenerlass, sondern im Gegenteil: die Einflussnahme auf Innen-, Wirtschafts-, und Sozialpolitik der Auserwählten (bisher 18) Länder wird neu ausgerichtet und betont – das zumindest ist ein handfestes Ergebnis der Verhandlungen im Vorfeld des Gipfels. Im gleichen Umfang, in dem Schulden erlassen werden, werden auch zugesagte Mittel aus der Entwicklungshilfe gekürzt und müssen neu verhandelt werden. Das bedeutet, dass durch den Erlass keineswegs automatisch mehr Geld etwa für Sozialausgaben zur Verfügung steht und zusätzlich bereits zugesagtes Geld an neue Konditionen gebunden werden kann (kann mensch auch in dem eurodad Papier nachlesen s.o.).
Entwicklungsfinanzierung: Sagenhafte 50 Mrd. US$ zusätzlich. Das entspräche tatsächlich einer Verdopplung der bisherigen weltweiten offiziellen Entwicklungshilfezahlungen. Nur hat ihr Zustandekommen nichts mit dem Gipfel zu tun. Wie dem Anhang des Abschlusskommuniques zu entnehmen ist, handelt es sich bei dieser Zahl im Grunde um eine Aufsummierung von Maßnahmen, die z.B. in der Europäischen Union bereits in den vergangenen Monaten beschlossen wurden.
Wenn der Gipfel von den Ergebnissen (für Armutsbekämpfung und Umweltschutz) her kaum mehr als heiße Luft war, wozu musste er dann doch stattfinden – und wie kam es zu dieser Schwerpunktsetzung?
Millenium Development Goals: Ein leicht herzustellender Zusammenhang sind die sogenannten Millenium Development Goals (MDG) der Vereinten Nationen (UN). Sie besagen, dass sich alle UN- Mitglieder um das Erreichen folgender Ziele bemühen: Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers, Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung, Ziel 3: Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit, Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern, Ziel 6: Bekämpfung von HIV/ Aids, Malaria und anderen Krankheiten, Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit, Ziel 8: Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft.
Es wurde sich auch auf konkrete Zahlen geeinigt, etwa die Halbierung der absoluten Armut bis zum Jahr 2015 usw. Die Ausrichtung des Gipfels scheint also im Schatten dieser MDG besonders bemüht gewesen zu sein, mit konkreten Ergebnissen zur Erreichung der Ziele beizutragen.
Bedrohliche Legitimationskrise der G8: Einige vermuteten eine zunehmende Legitimationskrise und öffentliche Infragestellung der illegitimen G8-Absprachen und Treffen. Sollte dies Einfluss auf das Agendasetting des Gipfels gehabt haben, also ein “seht her, wir kümmern uns um die Probleme der Ärmsten”, dann muss leider davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Taktik des Bündnisses Make Poverty History, sowie der Live-8 Konzerte der Gipfel zu einer überaus punktgenauen Werbeinszenierung für die G8, die fortgesetzte Bevormundung der “Dritten Welt” und eine berechtigte Vorherrschaft der Industrieländer als einzige mit weltweiter Problemlösungskompetenz geworden ist. Hier hat die Zivilgesellschaft eine erfolgreiche Image- und Legitimationskampagne für die G8 gelandet (zu Make Poverty Histoty und Live-8 siehe weiter unten).
Innenpolitische Gründe: ein offensichtlicher Grund, warum Herr Blair sich mit den Themen Armutsbekämpfung und Schuldenerlass profilieren wollte, waren die anstehenden Wahlen in GB und das schlechte Image, das seine vom Irak-Krieg wesentlich geprägte Außenpolitik hatte. Gab es für die anderen G8-Chefs ähnliche innenpolitische Gründe, sich diesen hehreren Zielen mit soviel öffentlichem Getöse zu widmen? Brauchte auch die deutsche Politik in Wahlkampfzeiten Bilder außenpolitischer Erfolge und Größe? Gab es ähnliche Bedürfnisse z.B. in Frankreich, den USA?
Geostrategische Gründe: Kaum diskutiert wurde im Vorfeld des Gipfels die strategische Bedeutung des G8-Bündnisses mit Blick auf Verfügbarkeit bzw. Zugriffssicherung auf Ressourcen (neuer Imperialismus). In Zeiten, in denen Länder wie Brasilien, Indien und China selbst zu Entwicklungshilfegeber-Ländern werden und insbesondere China Wirtschafts- und Militärberater in Entwicklungsländer entsendet, ist offensichtlich, dass der bisher selbstverständliche weltweite Führungsanspruch der wirtschaftlich größten 8 Länder der Welt nicht mehr unangefochten bleibt. Das besondere, neue Interesse für Afrika liegt ohne Zweifel auch in einer Neuabsicherung von Einflussgebieten, die als Rohstoffquellen (insbesondere Bodenschätze) in einer zunehmenden weltweiten Konkurrenzsituation wieder schnell an Bedeutung gewinnen.
Weißer Protest
Im Vorfeld bereiteten verschiedene Gruppen bzw. Bündnisse den Protest und die Mobilisierung vor. Hier soll es um die Socialist Workers’ Party (SWP), das Bündnis Make Poverty History (MPH) und die Live-8 Konzerte gehen. (mehr unter http://de.dissent.org.uk)
Socialist Workers’ Party (SWP): Nachdem die SWP das Sozialforum im Oktober 2004 in London auf sehr unangenehme Weise dominiert hatte, fürchteten wir auch bei den Protesten gegen die G8 weitreichende Bemühungen zur Vereinnahmung. In unserer direkten Wahrnehmung spielten sie dann allerdings nur eine Rolle beim massenhaften Schilderverteilen auf der Großdemonstration in Edinburgh am 2.7.2005, was aber nicht weiter auffiel, weil viele andere Gruppen ihre Forderungen ebenfalls durch Massenverteilungen von einheitlichen Schildern der Öffentlichkeit mitteilen wollten. So war letztendlich ein “Blair must Go” der SWP keineswegs präsenter als z.B. das “We believe its time for Change” einer kirchlichen Gruppe, deren Name uns entfallen ist. Eine deutlichere Präsenz zeigte die SWP auf dem (kostenpflichtigen) Gegengipfel der G8 Alternatives. Dieses Bündnis war zusammen mit Teilen der Gewerkschaftslinken und der SCND (Scottish Campaign for Nuclear Disarmament) geschmiedet worden. Die Legitimation der G8 wurde auf den Veranstaltungen kaum in Frage gestellt, vielmehr waren sie der Versuch, einen Gegenentwurf zur Politik der G8 zu präsentieren und sich damit Gehör zu verschaffen. Positiver Aspekt des G8 Alternatives Summit war die umfangreiche Beteiligung von Vertreter/innen aus afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern. Zeitgleich mit dem G8-Gipfel wurde ein Gegenbericht zu Blair’s Afrikakommission (Alternative Commission for Africa) veröffentlicht, der die Analysen afrikanischer Aktivist/innen in den Vordergrund stellt und deren Beteiligung an einer politischen Lösung einfordert (verlinkt bei http://www.spinwatch.org).
Make Poverty History (MPH): Hinter dem Namen einer ursprünglich von der britischen NGO Oxfam initiierten Kampagne versammelte sich ein sehr breites und vor allem mobilisierungsstarkes Bündnis von NGOs und kirchlichen Gruppen. Diesem Bündnis ist der größte Teil der weit über 200.000 Demonstrant/innen am 2.7.05 in Edinburgh zuzuordnen. Der Protestzug fand in weiß statt – alle Teilnehmer/innen waren aufgerufen, in weißer Kleidung zu kommen, um den in einem großen Kreis durch die Innenstadt ziehenden Protestzug als weißen Ring (das offizielle Symbol der Kampagne MPH) aus dem All sichtbar werden zu lassen. Das große Problem an der Konzeption und Strategie von MPH ist der Appellcharakter: ursprünglich muss es ein recht kritisches Grundsatzpapier des Bündnisses gegeben haben, auf dessen Grundlage die Zusammenarbeit der einzelnen Gruppen laufen sollte. Im Zuge der Mobilisierung und Lobbyarbeit wurden dann so viele offene Türen bei der britischen Regierung eingerannt, dass sich die Grundüberzeugung entwickelte, dass die großen Acht und insbesondere Tony Blair auf dem besten Weg sind, das Richtige zu tun. Es käme nun darauf an, sie auf diesem Weg durch breite Unterstützung und unausgesetzten Jubel quasi vor sich herzutreiben und sie so zu noch weiterreichenden Maßnahmen zu ermutigen. Diese Ausrichtung des ursprünglichen Protests hat die G8 als Institution anerkannt und als große Retter und Hauptakteure in den Mittelpunkt gestellt.
Live-8 – “The Long Walk to Justice”: Dann kam Sir Bob Geldorf, der handverlesen als Fürsprecher für Afrika, quasi als “Stimme Afrikas”, in Tony Blairs Afrikakommission saß. Erst wenige Wochen vor dem eigentlichen Gipfel rückte er mit dem Plan heraus, eine Neuauflage der berühmten Benefizveranstaltung für afrikanische Entwicklungshilfe – Live-Aid (1985) zu planen. Diesmal sollte kein Geld gesammelt werden, nein diesmal war es eine politische Veranstaltung mit Großkonzerten in 9 Ländern (G8 plus Südafrika). Da Geldorf auch das MPH-Bündnis unterstützte, wurde dieses in der Öffentlichkeit zum Teil ebenfalls als eine Kampagne von Geldorf wahrgenommen. Der Kern der Live-8 message findet sich in einem Geldorf Zitat vom Tag des Konzerts (ebenfalls der 2.7.05), an die G8 (great 8) Chefs richtete er die Botschaft: “please, be great, and do your best for Africa”. Diese Veranstaltungen waren Weiß, weil in penetrant stereotyper und ignoranter Weise Afrika als hilfebedürftiges, unterentwickeltes und unselbstständiges Kind dargestellt wurde, das nun endlich und dringend der helfenden Hand aus den entwickelten Ländern bedarf. Ein Sprecher des Panafrican Network bezeichnete Geldorfs Äußerungen und Inszenierungen daher auch als rassistisch und warf ihm insbesondere vor, sich seit Mitte der 1980er Jahre nicht ernsthaft mit dem afrikanischen Kontinent auseinandergesetzt zu haben. Mit seiner paternalistischen Fürsprache werte er auf unverschämte Weise emanzipatorische Entwicklungen und Erfolge der Menschen in afrikanischen Ländern, insbesondere aber auch die gesamte Befreiungsbewegung, ab bzw. ignoriere sie.
Vor allem durch die unglaublich breite Resonanz in der Öffentlichkeit könnte hier aus unserer Sicht die Gefahr eines Rückschritts in der Entwicklungsdiskussion liegen, eben weil in der Darstellung Afrikas als hilfsbedürftiges unselbstständiges Kind eine massive Fortschreibung kolonialen Gedankenguts stattfindet.
Leider schätzte attac in Deutschland seine öffentliche Reputation gewichtig genug ein, um sich neben VENRO und Oxfam bei der um die Live-8 Konzerte drapierte Aktion “Long Walk To Justice” zu engagieren – und um so dem ganzen Theater doch noch etwas politischen Sinn einhauchen zu können. Ein weiteres Steinchen im Legitimationsmosaik von MPH und Live-8 für die G8.
Kritische Stimmen, sowohl an MPH als auch an Live-8, sind allerdings besonders nach der Großdemonstration bzw. den Konzerten laut geworden. Auch für viele Beteiligte ist es offensichtlich während des Prozesses schwierig gewesen, die sich entwickelnde und verändernde Ausrichtung des Bündnisses MPH und der Live-8 message genau im Blick zu haben. Mit Blick auf die bevorstehende Mobilisierung zum G8-Gipfel 2007 in Deutschland sollte sorgfältig bedacht werden, ob auf klare Distanzierungen zu Gunsten einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung verzichtet werden kann. In Schottland hat die weitestreichende Toleranz unterschiedlicher Ansätze, Analysen, Sichtweisen und Protestformen zu einer massiven Präsenz des Themas in weiten Teilen der Bevölkerung beigetragen. Der Preis dafür: einigen Gruppen, die die Legitimität des Gipfels auch grundsätzlich in Frage stellten, fanden sich schließlich in einer Befürworter- und Appellierer-Rolle wieder. Ist eine breite Streuung des Themas durch Unschärfe, die mit der Verschleierung der eigenen Positionen einhergeht, eine notwendige Alternative zu einer radikalen Kritik mit einer bewussten, deutlichen und fundierten Distanzierung, die eine Fokussierung auf eine Szene mit sich bringen kann?
Bunter Protest
Schon weit vor dem G8 Gipfel in Schottland hatten sich Menschen, die den globalen Kapitalismus, seine Institutionen und gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse grundsätzlich kritisieren, in Großbritannien zum dissent!-Netzwerk (www.dissent.org.uk) zusammen geschlossen. Viele von ihnen waren vorher umweltpolitisch aktiv, gehörten zum People’s Global Action Netzwerk, waren in der Anti-Kriegsbewegung oder in antikapitalistischen Gruppen engagiert. Die Vernetzung und gemeinsame Organisation des Widerstands basierte auf den PGA-Hallmarks, den Grundsätzen der People’s Global Action. Für die Proteste in Schottland hatte dissent! drei Convergence Centers (CC) organisiert: in Glasgow, Edinburgh und Stirling.
Glasgow: Das CC war in einer Fabrikhalle, die u.a. als Notlösung für diejenigen gedacht war, die möglicherweise aus dem Gebiet rund um Edinburgh und Stirling ausgewiesen werden würden. Mehr können wir über Glasgow nicht berichten, da wir nicht dort waren.
Edinburgh: Unser erster Anlaufpunkt war das Forest Café, wo eine Vokü und das Indymedia-Zentrum untergebracht waren. Von hier aus fanden wir ins CC, das im Haus der Students’ Union eingerichtet war. Dieser Ort war den dort üblichen Standards unterworfen, d.h Videoüberwachung, Audioüberwachung und Security-Dienst. Wer noch keinen Verfolgungswahn hatte, konnte ihn hier kostenlos bekommen. Und wem das noch nicht reichte, die/der übernachtete einfach im Camp in Edinburgh, das der Stadtverwaltung nach zähen Verhandlungen abgerungen worden war. Das Engagement der Stadt ist wohl eher auf die zu erwartenden Teilnehmer/innen der MPH-Demo zurück zu führen, denn als Unterstützung des dissent! Netzwerks zu verstehen. Für die Organisation des Camps beauftragte die Stadt eine Eventmanagement-Firma und damit auch ein “Sicherheitskonzept” mit Umzäunung, Wachtürmen, Videoüberwachung, Flutlicht und Security-Dienst. So ähnelte das Gelände einem gewöhnlichen Campingplatz, war wenig gemütlich und funktionierte wie die Welt “draußen”: Individuen zelten nebeneinander, nehmen keinerlei Rücksicht auf einander und feiern ihre Party – eine gemeinsame Atmosphäre kam zu keiner Zeit auf. Während der Days of dissent, vom 1. bis 8. Juli, gab es im CC eine große Zahl an Workshops und Debatten, in denen sich die Leute inhaltlich mit den G8, den aktuellen Themen des Gipfels und mit Widerstandsformen auseinander setzten. Hier beteiligten wir uns auch an der Diskussion um MPH, wovon vieles im aktuellen Red Pepper nachzulesen ist (www.redpepper.org.uk). Am Montag kam es bei Proteste in Edinburgh in Form eines Carnival for Full Enjoyment, ähnlich dem EuroMayDay, zu ersten Massenfestnahmen. Sambabands und Clowns schienen der Polizei wohl so gefährlich, dass sie eingekesselt werden mussten. Viele Tourist/innen gerieten mit in die Kessel, was die Situation sehr unübersichtlich machte und zudem zu Unmut bei Passant/innen gegenüber den Polizeiaktionen führte. Ein wenig machte sich das Gefühl breit, dass uns die Menschen in Edinburgh nicht nur als gewalttätige Chaot/innen und schrecklich militante Ungeheuer sahen, wie es die Presse ihnen seit Monaten einzuhämmern versuchte. Außerdem konnten wir inmitten des Getümmels mitbekommen, dass die Anwesenheit englischer Polizei hier nicht besonders auf Gegenliebe stieß – wer lässt sich schon gern von den ehemaligen Kolonialherren herumkommandieren?
Stirling: Am Rande des Industriegebiets hatten v.a. englische, schottische und irische Gruppen in den Wochen vor dem Gipfel das selbstorganisierte Camp Horizone aufgebaut. Endlich – keine Videoüberwachung, kein Fußball-Gegröle inklusive Nationalhymnen, keine “Bitten” der Security. Hier trafen sich etwa 3000 bis 5000 Menschen, um Aktionen zur Ver- bzw. Behinderung des G8-Gipfels zu planen und zu koordinieren. Hier galt: eigenverantwortliches Handeln, Entscheidungen im Konsens, (möglichst) keine Hierarchien etc. Nachdem das häufig mit dem Schlagwort Anarchie belegt wird und Anarchie potentiell gut für Schlagzeilen ist, hatten im Vorfeld einige Journalist/innen das dissent! Netzwerk “unterwandert” – das war allerdings nicht schwierig, handelte es sich doch um ein offenes Netzwerk, also keine Heldentat, liebe Journalist/innen! Die Artikel über dissent! in der Regenbogenpresse waren ein Erlebnis für sich: “Als ich den Polizei-Hubschrauber über mir kreisen sah, wusste ich, ich bin am richtigen Ort. Hier treffen sich die Anarchisten!” oder so ähnlich, bebildert mit brennenden Autos aus Genua 2001. Für das Camp (wie für die anderen CCs) bedeutete das, dass den Massenmedien kein Zutritt gewährt wurde. Die Journalist/innen wurden höflich in einem Medienzelt vor dem Eingang empfangen und wenn sie Glück hatten, kamen manchmal Aktivist/innen vorbei, die sich interviewen ließen.
Horizone war in so genannten Barrios oder Neighbourhoods organisiert, die sich autonom um Verpflegung, Sanitäranlagen, Recycling und Kommunikation kümmerten. Die Küchen waren der Mittelpunkt der Barrios. Dort fanden wir Infos, wann das nächste Treffen ist, ob noch neue Klos gegraben werden müssen, ob Leute zum Spülen gebraucht werden oder wann es warmes Essen gibt. Für das gesamte Camp gab es zwei große Versammlungszelte und verschiedene Zelte für legal support, Transport, Übersetzung, Sanitätsdienst, Trauma-Gruppe, Training, Mediation und Indymedia. Durch die ständige Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten – sei es in einem Blockade- oder einem Trauma-Training, einem Moderations-Workshop oder einem legal briefing – hatten Aktivist/innen die Möglichkeit, Aufgaben in der Gruppe zu übernehmen und damit die autonome Selbstorganisation zu stützen.
Zur Kommunikation zwischen den einzelnen Barrios und um gemeinsame Entscheidungen für das ganze Camp zu treffen, fanden täglich Sprecher/innen-Treffen statt. Für jedes Barrio sprachen ein bis zwei Personen, während alle Menschen auf dem Camp eingeladen waren, das Treffen zu verfolgen, ohne zu sprechen. Kommunikation und Entscheidungsfindung bekamen dadurch viel Transparenz. Bei anderen gemeinsamen Treffen war das Rederecht nicht auf die Sprecher/innen begrenzt. Das führte mitunter zu Treffen von bis zu 500 Personen, die sich an Diskussionen beteiligten, wenn wichtige Entscheidungen zum Teil unter großem psychischen oder zeitlichen Druck zu treffen waren. Selbst in dieser Gruppengröße gelang es den jeweiligen Moderator/innen, die Leute zur aktiven Teilnahme (durch Handsignale) zu motivieren und die Redebeiträge auf die Fragestellungen zu fokussieren. Entscheidungen wurden konsequent nach dem Konsensprinzip gefällt bzw. in Diskussionen erarbeitet. Es war verblüffend, mit welcher Ruhe und Konzentration in schwierigen Situationen zwischen konträren Positionen vermittelt und diskutiert wurde, bis ein Vorschlag erarbeitet war, der so viele Aspekte mit einbezog, dass er für alle akzeptabel war. Es wurde z.B. unter dem Zeitdruck von etwa einer Stunde und dem psychischen Druck von niedrig fliegenden Militärhubschraubern ein Konsens zum Umgang mit potentieller Polizeigewalt gegen das Camp gefunden, der eine Deeskalationsstrategie und eine eher aktive Verteidigung miteinander verband.
Global Action Day: Die Aktionen, die an diesem Tag in Schottland liefen, hatten eine klare Strategie: den Gipfel durch die Abwesenheit der Delegierten zu be- oder verhindern. Das luxuriöse Golfhotel bot nämlich nicht ausreichend Platz, um das gesamte Personal für den Gipfel unterzubringen (Dolmetscher/innen, Wirtschaftsexpert/innen, Umweltexpert/innen, diplomatischer Tross etc.). Sehr viele kleine Aktionsgruppen hatten es sich zum Ziel gemacht, Straßen und Schienen rund um Gleneagles zu blockieren. Und obwohl dieser Plan sogar auf der dissent!-website zu lesen war, schien die Polizei dennoch unvorbereitet. Die vielfältigen, dezentralen Aktionen ließen bis zum frühen Nachmittag den Süden Schottlands im Verkehrschaos versinken. Aus den Berichten, die auf dem Infotelefon im Camp eingingen, war zu schließen, dass Gleneagles für etwa eine Stunde durch Blockaden komplett von außen abgesperrt war. Die Medienberichterstattung wurde für lange Zeit behindert, da die Journalist/innen im Stau stecken geblieben waren, und drei Delegationen wurden bis zum Nachmittag aufgehalten.
Neben den vielen kleinen Aktionen, für die Aktivist/innen zum Teil schon die ganze Nacht vorher gewandert waren, gab es in den frühen Morgenstunden eine Massenaktion, an der vor allem individuell angereiste Leute teilnahmen. Ein großes Manko dieser zusammengewürfelten Gruppe war, dass viele Leute keinerlei Ortskenntnis besaßen, keine Karten von der Gegend hatten und damit relativ orientierungslos waren. Doch der gleichzeitige Aufbruch von über 1000 Leuten aus dem Camp kam für die Polizei überraschend. Der Großteil der Kräfte war in und um Edinburgh gesammelt worden, da wohl ein militanter Sturm auf Edinburgh befürchtet wurde – das wiederum war für uns später eine überraschende Erkenntnis. Die große Gruppe teilte sich über den Vormittag in viele kleinere auf, die an verschiedenen Stellen Straßen blockierten. Damit wurden aber nicht nur die Delegierten gehindert, nach Gleneagles zu kommen, sondern auch die Polizei, die schließlich Militärhubschrauber zum Transport einsetzte, und Tausende, die zur G8 Alternatives Demonstration in Gleneagles wollten. Die Taktik der Polizei schien vor allem darauf aus zu sein, die Menschen so schnell als möglich von den Straßen zu bringen, was zu skurrilen Situationen führte. Eine Gruppe von etwa 150 Leuten wurde z.B. mit einer großen Polizei-Eskorte zu Fuß bis ins Camp zurückbegleitet (ein Weg, der ungefähr zweieinhalb Stunden dauerte) und dort ohne Personalienfeststellungen oder Festnahmen abgeliefert.
Am Abend des 6. Juli wurden die Aktionen als großer Erfolg bewertet, einige Aktivist/innen äußerten sogar, dass es der größte Coup wäre, der in Großbritannien jemals gelungen sei. Diese Einschätzung führte dazu, dass eine staatliche Reaktion in Form einer Erstürmung des Camps durch die Polizei in den kommenden Morgenstunden befürchtet wurde. Eine solche Reaktion erfolgte nicht, allerdings wurde das Camp in der Nacht zum 7. Juli von der Polizei eingeschlossen. Den nächsten Vormittag konnte niemand das Camp verlassen oder dorthin kommen, nachmittags änderte sich das Verhalten der Polizei in stündlichen Abständen: mal konnten sich die Menschen frei bewegen, mal wurden alle oder einzelne durchsucht, mal wurden Personalien festgehalten und Fotos gemacht. Bis zu unserer Abreise am Freitag Mittag änderte sich diese Situation nicht.
Repression: Trotz der Auflösung einiger Blockaden ohne rechtliche Folgen für die Aktivist/innen ging es nicht ohne Festnahmen und Verhaftungen ab. Insgesamt wurden während der G8-Proteste (also nicht nur am Aktionstag) etwa 700 Leute festgenommen und die Hälfte davon verhaftet und angeklagt. Es gab mehrere Berichte, dass gezielt Rechtsbeobachter/innen und Demosanis von der Polizei ohne Angabe von Gründen festgenommen worden sind. Dies führte dazu, dass sich diejenigen, die diese Aufgaben übernommen hatten, nicht mehr durch Kleidung als solche erkennbar zeigen konnten und wollten. Die Vorwürfe gegen die Verhafteten reichen von Landfriedensbruch über Rädelsführerschaft bis zu Verschwörung und Zusammenrottung. Die rechtliche Lage stellt sich allerdings anders dar als in der BRD und ist deshalb schwer zu beurteilen – z.B. Landfriedensbruch wird in GB bzw. Schottland anders bewertet und bestraft. Die Haftprüfungsrichter/innen verhängten für die Verhafteten häufig Platzverweise, die sich auf die gesamte Region zwischen Glasgow, Edinburgh und Perth bezogen, mit der Auflage, diesen Bereich innerhalb von vier Stunden zu verlassen. Laut der G8 Legal Support Group (http://www.g8legalsupport.info/) haben es nicht alle geschafft, die Region rechtzeitig zu verlassen, wurden erneut verhaftet und in Untersuchungshaft gesteckt mit der Begründung, dass sie gegen ihre Auflagen verstoßen hätten. Beim Haftprüfungstermin wurden meist schon die Verhandlungstermine festgelegt, die im August, September, bei manchen auch im November liegen sollen.
London: Auch an der Hori-Zone sind die Bombenanschläge in London nicht spurlos vorbei gegangen. Während der Beratungen, wie mit der Belagerung des Camps durch die Polizei umgegangen werden soll, kamen die ersten Nachrichten aus London, die noch sehr diffus waren. In mehreren Treffen auf Camp- und Barrio-Ebene wurde darüber beratschlagt, inwiefern die Ereignisse unseren Protest beeinflussen sollen oder auch müssen. Es gab kontroverse Diskussionen, die schließlich zum Konsens führten, dass an diesem Tag keinerlei Aktionen wie ein Ausbrechen aus dem Polizeikessel oder eine Protest-Samba-Party stattfinden sollten. Ausnahmen waren dabei Aktionen in Solidarität mit den politischen Gefangenen und mit den Betroffenen in London. Tatsächlich war es aber fast unmöglich in einer größeren Gruppe das Camp zu verlassen und so mussten auch Solidaritätsbekundungen im abgeriegelten Gebiet stattfinden. Aus dem Camp heraus wurde viel für die Gefangenen organisiert, besonders für diejenigen, die das Gebiet auf dem schnellsten Weg verlassen mussten. Das Camp als Versuch einer anderen Gesellschaft stand am zweiten Tag des G8 Gipfels im Vordergrund.
Im Rückblick scheint es, als seien die antikapitalistischen Proteste gegen den G8-Gipfel aus den (deutschen) Medien verdrängt worden. Es gab abgesehen von den Herren der G8 viel lautstarke Konkurrenz durch MPH, Live-8, den Olympia-Zuschlag für London und die Bombenanschläge in London. Trotz der medialen Unterbelichtung der radikalen Kritik sehen wir die Proteste als einen Erfolg – nicht nur, weil ein Verkehrschaos im südlichen Schottland und damit eine Verzögerung des Gipfels organisiert werden konnte. Das Camp in Stirling beeindruckte vor allem durch den hohen Grad an Selbstorganisation und die konsequente Entscheidungsfindung nach dem Konsensprinzip. Dazu gehörte nicht nur eine große Portion an Geduld und Konzentration der Beteiligten, sondern insbesondere auch ein langfristiger Vorbereitungsprozess, in den sehr unterschiedliche Gruppen eingebunden waren. Ein ebenso langer Prozess der Vernetzung und Bündelung antikapitalistischer, kritischer Kräfte wird hier in Deutschland nötig sein, um 2007 einen ähnlichen Erfolg und eine Stärkung der Bewegung zu erreichen.