Carlo Giuliani – Laut EGMR gewährleistete Italien eine gute Handhabe der öffentlichen Ordnung.
Von Alessandra Fava
Genua – Das gestrige Urteil der Grande Chambre des EMGR, an das sich der italienische Staat und die Angehörigen von Carlo Giuliani Haidi Gaggio, Giuliano Giuliani und die Schwester Elene nach einem ersten Urteil im August 2009 gewendet hatten, fegt im Fall Giuliani alle Zweifel hinweg. Die Grande Chambre hat den Carabiniere Mario Placanica (13 Ja-Stimmen von 17) rechtskräftig frei gesprochen und festgestellt, dass gründlich ermittelt wurde und dass Italien eine gute Handhabe der öffentlichen Ordnung gewährleistete (10 zu 7). Anzumerken ist, dass die Vermutung der Leichenschändung und die widersprüchlichen Aussagen des Mario Placanica mit Ausnahme dessen, was die Urheber der Berufung einbrachten keine Erwähnung findet. Moral der Geschichte: Das Urteil birgt das Risiko, dass jede Untersuchung zum Tod des Demonstranten ein Ende hat. Der Ansicht einiger Richter spreche es zudem gegen ein Zivilverfahren. “Ich bin pessimistisch”, sagte Haidi Giuliani gestern früh im Vorfeld des Urteils. “Die Richter der Grande Chambre sind zumeist durch Mitte-Rechts Regierungen ernannt”. Das Urteil gibt ihr Recht:
wenn das Gericht 2009 einige Zweifel über die von den italienischen Behörden durchgeführte Untersuchung und über die mangelhafte Planung und Handhabe der Öffentlichen Ordnung geäußert hatte, so preist das gestrige nicht nur die von der italienischen Regierung dem Gericht vorgelegten Dokumentation einstimmig an: das Gericht spricht von nicht unverhältnismäßiger Anwendung von Gewalt und hält die Theorien des durch einen Stein umgelenkten Geschosses und der Notwehr für gut. Der einzige geäußerte Zweifel betrifft die Frage, warum die Carabinieri sich für die Bestürmung der Demonstration der Tute Bianche entschieden, wie sie im Verfahren wegen Verwüstung und Plünderung fest gestellt wurde. 7 der 17 Richter – darunter die Vizepräsidentin des belgischen Gerichtshofs Francoise Tulkens und mit ihr die Vertreter Sloveniens, Armeniens, Bulgariens, Griechenlands, der Türkei und Lettlands (gewiss nicht der italienisch Vertreter Guido Raimondi) – haben den Mut gehabt, einigen Teilen des Urteils nicht zuzustimmen. Sie merken an, dass die Staaten besonders anlässlich von Massenprotesten gehalten sind, Leben zu schützen, dass nicht nachvollziehbar ist, wie die Bestimmungen über den Gebrauch von Schusswaffen lauteten, warum keine Gummigeschosse in Gebrauch waren, was Placanica auf der Straße zu suchen hatte, wenn er nicht für die Gewährleistung der Öffentlichen Ordnung ausgebildet war und warum die Ärzte das in einer Röntgenaufnahme sichtbare Teilstück des Projektils nicht sicher stellten. Auch weisen sie darauf hin, dass der Untersuchungsrichter die Einäscherung hätte verhindern müssen – mindestens bis zur Veröffentlichung der Obduktionsergebnisse. Schließlich teilen sie Schwarz auf Weiß mit: “Es ist unglaublich, dass die Regierung zugegeben hat, dass keinerlei administratives bzw- disziplinarisches Verfahren gegen die Vertreter der Ordnungskräfte eingeleitet wurde”. Vier von ihnen haben zwei weitere Punkte in den Raum gestellt: die Unwahrscheinlichkeit der Verkettung der Ereignisse im Stein-Gutachten und die Frage, warum von Notwehr die Rede sein könne, wenn Placanica aussagte, er habe ohne irgendjemand zu sehen geschossen, also in Unkenntnis der Anwesenheit Giulianis mit dem Feuerlöscher in den Händen. “Einen positiven Aspekt des Urteils der Grande Chambre stellt der Hinweis auf den Gebrauch von Gummigeschossen, zu denen in den Einsatzregeln im Irak anlässlich von Volksdemonstrationen geraten wird, die wir dem Gericht vorgelegt haben”, kommentiert Anwalt Nicoló Paoletti, der Vertreter der Familie Giuliani. “Wenn es auch in Italien und Europa so wäre, wäre es schwieriger, dass jemand auf der Straße stirbt”. Giuliano Giuliani denkt schon über ein weiteres Verfahren nach: “Wir werden uns an das Zivilgericht wenden, als einzige Möglichkeit, um eine Verhandlung zu Carlos Ermordung zu erwirken. Wir verfügen haufenweise über Dokumente über die Ermordung unseres Sohnes und über das, was man ihm hinterher noch angetan hat”. Ich hoffe wirklich, dass er bereits tot und nicht erst kurz davor, zu sterben war, als ein Carabiniere mit einem Stein seine Stirn einschlug". All diese Dinge verdienen eine Verhandlung zur Feststellung der Wahrheit". Nach Ansicht einiger Richter in Straßburg ist der Gedanke “nicht bloß ein rein theoretischer, sondern auch ein illusorischer, da die Grande Chambre meint, dass sämtliche Polizeioperationen vollkommen legal gewesen sind”. Haidi Giulianis abschließendes Fazit zum Tag lautet so: “Zehn Jahre, um Nichts zu erreichen. Wie schon Licia Pinelli* sagte: ich habe alles, was mir möglich war getan. Der Staat ist der Verliere, weil er es nicht vermocht hat, gegen sich selbst zu ermitteln. Das bleibt die größte Wahrheit”.
A.d.Ü.: