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2007-02-14

Am Anfang war Genua

Jungle World Nummer 07 vom 14. Februar 2007

Die Proteste in Heiligendamm vorbereiten und dabei an Genua denken. Eine Bestandsaufnahme aus Italien. von sandro mezzadra

Heiligendammm" ist ein Wort, das nicht viele Italiener richtig aussprechen können. In den ersten Vorbereitungstreffen für die Proteste im kommenden Juni ist der Name des Badeorts an der Ostsee aber nicht nur deshalb kaum gefallen. In diesen Versammlungen ging es bislang weniger um die Organisation zukünftiger Proteste, als um die Vergangenheit. Das bedeutet konkret: Genua, Juli 2001. Nicht dass es in den vergangenen Jahren an einer Aufarbeitung gefehlt hätte. Die brutale Repression, der Mord an Carlo Giuliani, die Gewalt in der Diaz-Schule und in der Polizeikaserne von Bolzaneto waren ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nicht zuletzt aufgrund der bis heute noch nicht abgeschlossenen juristischen Aufarbeitung. Das Geschehen im Juli 2001 wurde jedoch fast ausschließlich auf die Repression reduziert, darauf bezieht man sich, wenn es um "die Ereignisse von Genua" geht. Die Diskussionen um die Vorbereitung der Proteste in Heiligendamm bieten heute italienischen Aktivisten die Gelegenheit, den einzigartigen und grundsätzlich unerwarteten Charakter der Proteste von Genua zu analysieren.
Diese entstanden einerseits als Fortsetzung jener globalen Bewegung, die zwei Jahre zuvor vor den laufenden Kameras von Sendern aus der ganzen Welt die Straßen von Seattle erobert hatte. Auf der anderen Seite gab es spezifisch italienische Aspekte dieser Bewegung, die sich in den zwei Jahren nach dem G8-Gipfel in einem Zustand permanenter Mobilisierung befand. Die Sozialforen in vielen Städten, die Massenproteste gegen den Krieg im Irak, die Kämpfe gegen prekäre Arbeit und für die Rechte von Migranten sowie für die Verteidigung von Kollektivgütern wären in Italien ohne die Ereignisse in Genua nicht - oder nicht in diesem Ausmaß - möglich gewesen.
Gehen wir also zurück zu jenen Sommertagen vor dem G8-Gipfel. Am 18. Juli 2001, während Militär und Polizei den Kriegsschauplatz vorbereiteten und das historische Zentrum mittels eines Zauns zur "roten Zone" für die Demonstranten machten, waren die Aktivisten des Genoa Social Forum und anderer Netzwerke damit beschäftigt, die letzten Details der Demonstration zu besprechen, die am folgenden Tag stattfinden sollte und in deren Mittelpunkt die Rechte und Forderungen von Migranten standen. Ununterbrochen klingelten Handys, die letzten Informationen erreichten die Leute, die mit Zügen, Bussen und Fahrrädern bereits auf dem Weg nach Genua waren. Die Stimmung in der Stadt war einzigartig.
Natürlich wurden ständig Prognosen über die Zahl der Teilnehmer gemacht: 15.000, vielleicht auch 20.000, mutmaßten die Optimisten. Schon diese Zahl erschien den meisten phantastisch. Doch die Realität übertraf bei weitem alle Vorstellungen: Am folgenden Tag kamen Zehntausende von Menschen nach Genua, um gemeinsam mit den Migranten auf die Straße zu gehen. Nicht nur das Missverhältnis zwischen den optimistischsten Prognosen über die Teilnehmerzahl und der Realität war unerwartet. Dieser "Eröffnungsakt" der Proteste gegen den G8-Gipfel entwickelte eine Eigendynamik, die in mancher Hinsicht im Vergleich zu früheren Demonstrationen ein Novum darstellte. Während sich der Menschenzug durch die Straßen von Genua schlängelte, wurde die Demonstration immer größer. Es war eine große Einigkeit zu spüren, während die Gruppen, die zur Demonstration aufgerufen hatten, zugleich auf ihre starke Heterogenität verwiesen.
Ähnliche Beobachtungen könnten für die weiteren Tage der Proteste in Genua gemacht werden. Die Demonstration am 19. Juli war sicher der Termin, von dem sich die organisierten Gruppen innerhalb des Genoa Social Forum am wenigsten versprochen hatten, dennoch war sie das deutlichste Beispiel für die Originalität der Bewegung, die in diesen Tagen zum Ausdruck kam. In dieser Demonstration vereinigten sich Prozesse und Dynamiken, die in der Gesellschaft bereits vorhanden, jedoch diffus waren. In Genua fanden sie zum ersten Mal eine gemeinsame politische Ausdrucksform: "Ethische" Positionen aus dem Bereich der Non-Profit- und der internationalen Kooperationsarbeit trafen auf die Radikalität der Centri Sociali, die Sprache der Migranten mischte sich mit den Slogans der Basisgewerkschaften, die Frauen- und Genderbewegung sprach auch unpolitische Menschen an, die nach Genua gekommen waren, weil sie einfach "die Schnauze voll" hatten.
Die Bewegung von Genua mit ihrem spezifisch italienischen Charakter stellte sich in die Kontinuität der globalen Bewegung. Viele bestanden damals auf dieser Bezeichnung und lehnten das von den Medien erfundene Etikett no global ab, während andere in der Bewegung sich damit identifizierten.
Diese Bezeichnung war jedoch eine Mystifizierung, denn sie reduzierte die Bewegung auf eine ausschließlich reaktive Position. In Seattle spielten "anti-systemische" Kräfte zum ersten Mal auf einem globalen Feld, dabei war die Zusammenführung der globalen Kämpfe nicht ihr Endziel, sondern ihr Ausgangspunkt. Dadurch reaktivierte die Bewegung eine "andere" Geschichte der Globalisierung, sie entdeckte ihre heimliche Genealogie, durchwoben von dem kommunistischen Internationalismus und dem antikolonialen Widerstand sowie von einer Reihe von Kämpfen, die nationale Grenzen in Frage gestellt und den globalen Kapitalismus zu einer Restrukturierung seiner Produktions- und Verwertungskreisläufe gezwungen hatten.
Die Bewegung für die Rechte der Migranten war ein wesentlicher Teil dieses Prozesses. Deshalb war es ein wichtiges Signal, dass die Auftaktdemonstration in Genua deren Forderungen in den Mittelpunkt stellte. Die transnationale Mobilität der Arbeit hatte einige wichtige Merkmale der globalen Bewegung vorweggenommen. In Genua bekam sie zum ersten Mal politische Anerkennung.
Vieles hat sich geändert seit Juli 2001, sowohl in der italienischen als auch in der globalen Bewegung. Doch durch diese Demonstration rückten Forderungen in den Mittelpunkt, die für einige Entwicklungen der vergangenen Jahre eine zentrale Rolle spielten. Ich denke dabei an den Kampf gegen den CPE und an die Revolte in den französischen Banlieues oder an die Protestbewegung der Migranten aus Lateinamerika in den USA im Frühling vergangenen Jahres.
In Europa konnten durch eine immer stärkere soziale und politische Teilnahme von Migranten einige wichtige Ziele erreicht werden, wie die Legalisierungen in Italien, Spanien und Griechenland. In Großbritannien machten migrantische Putzkräfte die Kampagne "Justice for Cleaners", Migranten und Flüchtlinge sind die neuen "Hausbesetzer" in italienischen Großstädten wie Rom geworden. Das sind nur einige Beispiele dafür, dass die Migration sich zum wichtigen Konfliktfeld entwickelt hat.
Die zentrale Forderung nach Bewegungsfreiheit stellt die so genannte europäische Staatsbürgerschaft als Element der europäischen Identitätsbildung permanent in Frage. Gleichzeitig zeigt sie, wie instabil die europäischen Arbeitsmärkte sind, deren struktureller Bestandteil migrantische Arbeit geworden ist. Die Heterogenität dieser neuen Zusammensetzung der lebendigen Arbeit stellt ein großes Konfliktpotenzial dar.
Bewegungsfreiheit, Abschaffung aller Grenzen, diese Begriffe kamen vor in den Slogans der Demonstration am 19. Juli 2001. An diese Forderungen sollte der Protest in Heiligendamm anknüpfen. Die Zeit der Gegengipfel, des "Stürmens" von Großereignissen und des Angriffs auf die "Herrscher der Welt" endete nach dem G8-Treffen in Genua mit dem Beginn des Kriegs gegen den Terror.
Doch dies bedeutet keine Niederlage für die globale Bewegung. In dieser Zeit gelang es, mit dem "unilateralen Denken" und der Rhetorik der "neuen Weltordnung" abzuschließen und aus der Globalisierung ein Konfliktfeld zu machen. Die Herrschaft über die kapitalistische Globalisierung in der Gestalt, die sie in den vergangenen Jahren annahm - nämlich des amerikanischen Unilateralismus -, erlebt derzeit eine Krise.
Von hier aus muss die globale Bewegung neue Bereiche der Politisierung erobern. Dafür soll aber nicht von einer allgemeinen Kritik der kapitalistischen Globalisierung ausgegangen werden, sondern von spezifischen Kämpfen, die von lebendigen Subjekten in ihrer alltäglichen Praxis ausgetragen werden. Wichtig dabei ist es, einen politischen Raum zu schaffen, in dem die Kämpfe sich definieren und ausgetragen werden. Der G8-Gipfel in Heiligendamm könnte ein wichtiger Termin sein, um die Frage nach diesem Raum, der für mich Europa heißt, erneut zu stellen.

Sandro Mezzadra ist Professor für Geschichte des politischen Denkens an der Universität Bologna. Er ist Mitglied des transnationalen Netzwerks "Frassanito Network".

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