Seit gestern Abend dachte ich an heute früh. Es ist ein Berufungsurteil, niemand wird es ernst nehmen, habe ich gedacht. Ich habe viele Gesichter und Momente wieder gesehen, ein Zimmer in Genua, die Videos, die Fotos, die Worte, die Gespräche, die, die damit Kohle gemacht haben, die, die sich damit profiliert haben, die, die deswegen geweint, geflucht, geschrien haben.
Theres so many different worlds
So many differents suns
And we have just one world
But we live in different ones
Dann gibt es zum Glück noch meinen Sozius, der die richtigen Worte gefunden hat. Das Posting findet ihr hier, ich gebe es aber auch hier in voller länge wieder:
Die Guten und die Bösen
Es ist die totale und endgültige Diskriminante, die, die uns durch jedes Ereignis, jede Geschichte, jede Erzählung, jede Situation geboten wird. Die einfachste und unmittelbarste, die, die nie fehlt, der Grat, dem entlang gewählt wird, auf welcher Seite man steht. Nicht einmal die Mode des Postmodernismus hat es vermocht, den durch Jahrhunderte der Vereinfachungengenährten Mythos einer perfekten Unterscheidung der einen von den anderen anzukratzen. Ich habe seit jeher, von Kindesbeinen an immer die Bösen lieber gemocht. Da gibt es nichts. Ich habe schon immer Dillinger, Bonnot, Vallanzasca, die Indianer und sogar Cattivik gemocht. Warum? Weil die Guten Heuchler sind und weil die Parteinahme für sie eine noch schlüpfrigere Form der Heuchelei ist, die aus Lügen gemacht ist, die man auch sich selbst gegenüber verschweigt, und von billigen Stellungnahmen, weil die Guten, auch dann, wenn sie es nicht verdient haben, immer gewinnen, weil die Guten das was richtig ist verkörpern und dass es logisch ist, dass es richtig ist, sie sind die Selbstabsolution des eigenen Bescheuertseins und des eigenen, tiefsten innerlichen egoistischen Elends. Sie sind ein uneträgliches Axiom, eine lebende Tautologie (zumindest in den Erzählungen), eine Ohrfeige für die Wirklichkeit. Auf der Seite der Bösen sein bedeutet hingegen, zu versuchen, die Wahrheit zu verstehen, zu verstehen, was los ist, nicht bei billigem Schein und bei Konformismus in Bezug auf das, was nach ansicht von “Jedermann” richtig und was falsch ist stehen zu bleiben. Auf der Seite der Bösen stehen bedeutet, suchen, denken, entscheiden.
Auch Genua ist eine Geschichte mit Guten und Bösen. Oder besser: eine Geschichte mit vielen Guten und Bösen, je nach Sichtweise derjenigen, die Euch erzählen, was passiert ist. So gibt es die Guten schlechthin – die Polizisten, die Ordnungskräfte, die, die uns beschützen, und die Bösen schlechthin (zumindest in diesen Jahrzehnten der Konsumbulimie und der Magersucht der Hirne) – die Demonstranten, die, die Rabatz machen. Aber selbst dann, wenn man die Latte der Erzählung verschiebt, gibt es immer noch die Guten – die friedlichen Demonstranten, und die Bösen – die so genannten gewaltbereiten Demonstranten. Also bleibt die Diskriminante auch dann, wenn man sich so weit wie möglich mit der Sichtweise bewegt, schön klar: auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen – die Gewalttätigen.
Nun: ich werde von einer Erörterung des Gewaltbegriffs absehen- Es ist ein Wort, das ich nicht mehr verdauen kann. Damit das klar sei: ich verstehe genauestens, was er meint. Seit er zu einem Rechtmäßigkeitskriterium geworden ist, vermag ich es aber nicht mehr, ihn als Teil meines Wortschatzes anzunehmen – seit dem das, was gewalttätig ist, notgedrungen falsch ist, als ob es vom Wesen her ein moralischer Wert wäre, als handle es sich um ein ethisches und nicht um ein eine Situation qualifizierendes Adjektiv. Grausam ist moralisch, anmaßend ist moralisch, aber gewalttätig ist an sich weder gut noch schlecht. Zumindest bis sie beschlossen, uns das Hirn in Gewässern zu waschen, di aus Äquidistanzen und Entziehung der Fähigkeit gemacht sind, Stellung zu nehmen, und auf Grundlage dessen, was wir um uns sehen, zu entscheiden.
Das Berufungsurteil im Rahmen des berühmten Verfahrens gegen die 25 wegen den Vorkommnissen, die sich 2001 in den Straßen von Genua ereigneten – sucht mal schön im Netz, wenn ihr nicht wißt, wovon ich rede, ich habe einfach genug davon, die Geschehenisse zu resümieren – hat einmal mehr bestätigt, dass sich jene Diskriminante nicht überwinden lässt, es sei denn, um den Preis eines großen Teil deseigenen Lebens. Nach und nach wurden die Guten mit dem Vergehen der Monate alle frei gesprochen: die einen im vollen Umfang, weil sie ohnehin mit sofortiger Wirkung Heiligungswürdig (De Gennaro, der ehemalige Polizeichef und seine Kumpane), die anderen teilweise, über Urteile, die eher wie väterliche Standpauken anmuten, als Urteilssprüche (Diaz und Bolzaneto), andere noch, ganz beiläufig, durch Glück oder durch Nebenbegenenheiten (Mangel an Beweisen, oder Entschädigung wegen des Erleidens eines zum Zweck der Entfesselung des Wahnsinss in Genua am Reißbrett geplanten Angriffs, wie im Fall der Tute bianche auf der via Tolemaide, auch wenn man aus tausend Gründen über dieses Ereignis und die juristische Abwicklung der Sache lange reden müsste, einmal festgehalten, dass ich mich für die, die frei gesprochen wurden, freue. Die Bösen zahlen die Zeche: 10 bis 15 Jahre pro Nase, still und stumm. Mögen die Geschichte und die Suche nach der Wahrheit ruhen. Zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Denken wir doch ab und zu mal über die Dinge, die wir lesen oder in den Nachrichten hören nach.
Die Moralisten werden sagen: gut, sie haben es verdient. Ihre enossen werden sagen: schlecht – mörderischer und schweinischer Staat. Ich – obschon ich letztere Position sagen wir in formaler und ideologischer Hinsicht teile, will mit die, die mich lesen, nachdenken. Das Dutzend Leute, die verurteilt wurden, stellt den Sündenbock eines historischen Ereignisses dar, dem niemand ins Angesicht sehen mag. Auch nach vielen Jahren werden die sowohl von ehemaligen Polizisten als auch von (ehemaligen) Genossen geschriebenen Bücher nicht gekauft, nicht gelesen und nicht diskutiert. Alle sind damit beschäftigt, sich das Geschehen zu verbergen, das, was sie empfunden haben, die Lust auf Gewalt, die sich in uns und um uns entfesselt hat (oder die jemand hat entfesseln wollen, hierüber weren wir uns nie einig werden und es ist vielleicht gar nicht möglich, dass man sich einig wird). So wird ein Dutzend Leute, die einem weiteren Dutzend Leute einige tausend Euro Sachschäden verursacht haben zu mehr Jahren Haft verurteilt, als jemand, der eine Person getötet hat (getötet = umgebracht = tot) oder als jemand, der alle italienischen Bürger um tausende Euros betrogen oder die Würde und die körperliche Unversertheit einer Person angegriffen und verletzt hat (ein Vergewaltiger, zum Beispiel). 15 Jahre. Das sind viele, wenn man sie in Haft absitzen muss, weil man zehn Schaufensterscheiben zerschlagen hat. Eine leichtere Strafe hätte aber für die Bösen nicht gereicht. Und wenn die Bösen nicht mehr böse sind, können die Guten nicht mehr Gute sein, und wer sieht d dann noch durch? Das haut nicht hin, da werdet ihr mir wohl zustimmen. Es würde uns dann widerfahren, dass wir versuchen müssten, zu verstehen, was geschehen ist. Die Komplexität der Welt, in der wir leben. Das ist aber nichts für armselige italienische Menschenwesen im dritten Jahrtausend.
Es bleibt die Wut. Es bleibt die Frustration wegen des Unvermögens, zu erklären, wie einfach und brutal die Situation ist, wie unvermeidlich sie ist und wie niemand erkenntnis über das, was in jenen Tagen geschehen ist erlangen und sich die Frage danach stellen will, was das Wort Gerechtigkeit und das Wort Gewalt bedeuten. Es bleibt das, was um uns ist. Es bleibt die Abscheu. Es bleibt die Diskriminante und die Möglichkeit, zu wählen, ob man auf der einen oder auf der anderen Seite des Kamms stehen will. Ich habe meine Meinung nicht geändert.
Es bleibt das Bewusstsein, dass die Zeit gekommen ist, die Realität zu lesen, zu begreifen, dass der Raum für Darstellung, Meinung und Demonstration seit geraumer Zeit gestorben ist, nichtig gemacht, schimpflich zerredet und instrumentalisiert. Zu verstehen, dass ihr keinen Raum für Zweifel offen lassen könnt, wenn ihr ihr eurer Idee freien Lauf schenken wollt – wenn ihr Partisanen sein wollt. Es ist die Zeit, zu machen und zu handeln, sei es als Reformisten (kandidieren, sich wählen, sich einreihen, sich in gesammelte beschissene Situationen einschleichen), sei es als Radikale, (ich sehe von Beispieen ab, denke aber, dass wir alle Bonot oder den subcomandante Marcos kennen) Man kann nicht länger darauf warten, dass irgendetwas unabhängig von unserer Wenigkeit passiert. Ich bin ein Feigling, ich bin ein Hasenfuß, oder vielleicht einfach nicht gut oder fähig genug, um derart düstere, harte, zynische Schritte zu gehen. Bei aller Einsicht über meine Grenzen, prüfe ich aber auch den Rand, mit dem ich mich dem Kamm nähere. Der Raum für Hoffnungen ist seit langer Zeit zu Ende und die Geschichte wird immer und auf jeden Fall denen gehören die es verstehen werden, zu wählen, in Stellung zu gehen und zu kämpfen. Und denen, die dafür bezahlen werden. Damit wir uns verstehen: es bedarf keiner Märtyrer, sonder es bedarf an Personen, die sich nicht fürchten, das Richtige zu tun. Ich hätte am Samstag, den 21. Juli die ganze Stadt verbrannt. Ich blieb im Angesicht von Dutzenden von Freunden und Genossen, mit denen ich mich hätte prügeln müssen, um das zu tun, was ich für richtig hielt. Ich irrte. Andere irrten nicht. Weil das, was sie taten, im Angesicht des Angriffs auf unsere Freiheit in jenen Tagen und in den Tagen, die seit dem folgten, immer noch zu wenig ist, wobei sie avsolut darüber stolz sein können (vielleicht in Nicaragua, ne? :)
Ich habe extreme Beispiele verwendet, es gibt aber Millionen Situationen im Alltag in denen jeder von uns ein Militanter seiner eigenen ethischen Statur sein kann. Man kann nicht warten und den Grat beäugen. Man muss ihn treten, man muss ihn durchqueren, ihn reiten, ihn leben. Die Seite der Bösen. Die Seite der Gerechten.
Source: http://nero.noblogs.org/post/2009/10/09/genova-sentenza-appello-25-i-buoni-i-cattivi