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2007-12-09

25 treffen, um 300.000 zu erziehen

Die Plädoyers der Verteidiger im Verfahren gegen 25 Demonstranten, die in Zusammenhang mit dem G8 2001 in Genua unter Anklage stehen, sind abgeschlossen. Drei der Angeklagten ergriffen nach der letzten anwaltlichen Rede am 7. Dezember 2007 das Wort, um persönliche Erklärungen abzugeben. Nur zwei sind vollständig dokumentiert. Im Folgenden die Übersetzung der Erklärungen in deutscher Sprache.

Turtle

[Erklärung VV]

Ich möchte als Erstes eine kurze Bemerkung machen: Als Anarchist halte ich die bürgerlichen Begriffe von schuld und Unschuld für vollkommen bedeutungslos. Die Entscheidung, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens über „kriminelle Handlungen“, die man mir und anderen Leuten anlasten will, diskutieren zu wollen und besonders die Entscheidung, an diesem Ort die Ideen vorzubringen, die meine Art zu sein und Dinge wahrzunehmen kennzeichnen, könnte zum Gegenstand falscher Einschätzungen gemacht werden. Ich muss also notgedrungen klar stellen, dass der Geist, in dem ich – nach dem die hier zur Debatte stehenden Ereignisse jahrelang einer Verfremdung als Medienspektakel unterlagen – diese Erklärung abgebe, derjenige ist, der danach strebt, dass auch die Stimme einiger Angeklagter sich Gehör verschaffen möge. Mit diesem kurzen Beitrag suche ich jedenfalls weder Ausflüchte noch Rechtfertigung. Selbst wenn das Gericht entscheiden würde, dass es legitim ist, zu revoltieren, würde ich es absurd finden, denn es steht ihm nicht zu.

Die Dinge, die sich ereigneten aus einer bestimmten Sicht und in einer bestimmten Art von Sprache (die, der Gerichtsbürokratie, damit wir uns verstehen) nachzulesen, entspricht nicht nur einer verkürzten Betrachtung derselben, sondern auch einer Verzerrung von deren Tragweite und ihrer historischen, politischen und sozialen Verortung. Das bedeutet eine, aus dem Kontext, in dem sich die Geschehnisse ereigneten, völlig heraus gelöste Verbiegung der Dinge.

Der Sprache des Strafgesetzbuches nach, impliziert der mir in diesem Verfahren vorgeworfene Tatbestand der Verwüstung und Plünderung, dass „eine Pluralität von Personen sich wahllos einer beträchtlichen Menge von Gegenständen habhaft macht, um Zerstörung zu bringen“. Für diese Art von Straftaten werden hohe Strafmaße gefordert, und das, obwohl es sich dabei nicht um besonders verwerfliche Aktionen oder um niederträchtige Verbrechen handelt.

Für meine Taten habe ich immer die volle Verantwortung übernommen und etwaige Konsequenzen habe ich immer auf mich genommen. Das trifft auch auf meine Anwesenheit beim Mobilisierungstag gegen den G8 am 20. Juli 2001 zu. Die Tatsache, dass ich als freier Mann an einer kollektiven radikalen Aktion ohne jede hegemoniale Struktur über mir Teil genommen habe, ist mir eine Ehre.

Und ich war nicht alleine, mit mir waren hunderttausende von Menschen. Jeder hat sich mit seinen Mitteln verwendet, um sich einer heute als neoliberal bezeichneten, auf die kapitalistische Ökonomie gestützten Weltordnung zu widersetzen. Die berüchtigte wirtschaftliche Globalisierung, die sich über den Hunger von Milliarden Menschen aufbaut, vergiftet den Planeten... sie veranlasst Massen, zum Exil, um sie dann zu deportieren und zu inhaftieren; sie erfindet Kriege, sie massakriert ganze Bevölkerungen. Das nenne ich Verwüstung und Plünderung.

Jenes gigantische Experiment unter freiem Himmel, das in Genua stattfand, (in den Vormonaten und in jenen Tagen, an denen jene Kirmes der Verwüster und Plünderer auf planetarischer Ebene abgehalten wurde), und von manchem Zurückgebliebenen trotzig weiter als „Handhabe der Piazza“ * definiert wird, hat eine Zeitenwende markiert: nach Genua ist nichts mehr wie vorher gewesen, nicht auf der Straße, und schon gar nicht in den Verfahren im Zuge etwaiger Auseinandersetzungen.

Mit Urteilen dieser Art wird einem Modus Operandi Tür und Tor geöffnet, der in ähnlich gelagerten Fällen zur Normalpraxis werden wird. Das heißt, man wird Mitten in die Menge der Demonstranten einschlagen, um jeden, der es wagt, an Umzügen, Märschen, Demonstrationen Teil zu nehmen einzuschüchtern... ich glaube, dass es nicht Fehl am Platze wäre, von Präventivmaßnahmen des psychologischen Terrorismus zu sprechen.

Ich werde wiederum nicht über den Begriff der Gewalt diskutieren, und über die Frage nach dem, der sie ausübt und dem, der sich vor ihr wehren muss: Nicht, um eine zweideutige Haltung bezüglich der Wahl gewisser Mittel beim Klassenkampf einzunehmen, sondern weil ich diesen Kontext hier in bezüglich der Auseinandersetzung mit einer Diskussion, die der antagonistischen Bewegung, der ich angehöre, eigen ist, für ungeeignet halte.

Zwei Sätze noch zum Verfahren gegen die Polizeikräfte

Mit dem Verfahren gegen die so genannten Ordnungskräfte versuch man einen gewissen Sinn für Ausgewogenheit zu vermitteln. Die Staatsanwälte haben versucht, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten mit einem Bandenkrieg zu vergleichen: Ohne zu viel drum herum zu reden, sage ich, dass mir nicht einmal im Traum einfallen würde, mit der klaren Absicht, körperlich und psychisch zu demütigen, auf feige Art und Weise gegen gefesselte, kniende, entblößte oder sich offenkundig nicht offensiv verhaltende Menschen zu wüten...

Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass ich mit Provokateuren, Unterwanderern und so weiter verglichen werde, obwohl es sehr hart ist... Aber mit einem Provokateur in Uniform verglichen zu werden, das nicht. Eine solche Behauptung ist, gelinde gesagt, widerwärtig!

Sie ist dessen würdig, der sie ausgesprochen hat.

Außerdem bedeutet die Implementierung eines Verfahrens, nur um daran zu erinnern, dass wir uns in einer Demokratie befinden, die Reduktion der ganzen Sache auf eine Handvoll gewalttätiger Bekloppter auf der einen und auf einzelne Fälle von Übereifer bei der Umsetzung des Rechts auf der anderen Seite. Das steht nicht nur für geistige Armut, weil es die Schwäche der Gründe offenbart, für die man sich wegwirft, um die gegenwärtige soziale Ordnung zu wahren.

Aus meiner Sicht bedeutet die Tatsache, dass Parallel zu den Demonstranten auch gegen die Polizei prozessiert wird, dass den Ordnungskräften eine viel zu bedeutende Rolle in der ganzen Angelegenheit zugedacht wird. Es entzieht den Handlungen der Menschen, die auf die Straße gegangen sind, um zum Ausdruck zu bringen, was sie von dieser Gesellschaft halten Bedeutung und verbannt sie alle in ihre historische Rolle als Opfer einer allmächtigen Herrschaft. Carlo Giuliani, hat, wie viele andere Genossen von mir, sein Leben gelassen, weil er all das mit dem Mut und der Würde zum Ausdruck gebracht hat, die seit jeher jene kennzeichnet, die diesem Status quo nicht unterworfen sind, und er wird nicht der letzte sein, solange die Beziehungen zwischen den Menschen durch externe Organe reguliert sein werden, die Vertreter einer geringen sozialen Minderheit sind.

Weil ich ein desillusionierter Mensch bin und der Demokratie die richtige Bedeutung beimesse, entlockt mir die Vorstellung, dass einem Vertreter der gesetzlich konstituierten Ordnung der Prozess gemacht wird, weil er seine Pflicht getan hat, nur ein müdes Lächeln. Der Staat macht dem Staat den Prozess, würde mancher zu Recht sagen.

Mit Sicherheit wird es Verurteilungen geben. Ich werde sie gewiss nicht als Zeichen von Milde oder aber von Härte des Gerichtshofs empfinden. Man wird sie in jedem Fall als ein Angriff auf all jene, die auf irgendeine Art immer gezwungen sein werden, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzten, um das Existierende auf die bestmögliche Art und weise auf den Kopf zu stellen.

[Erklärung MC]

Ich merke an, dass ich, als Anarchistin, den Justizapparat als Widersacher nicht anerkenne, ein Organ des Staates, dessen einzige Funktion im essentiellen Schutz der privilegierten sozialen Klassen und im Schutz des Privateigentums besteht.

Mit dieser, Erklärung, die vornehmlich außerhalb diesen Gebäudes gerichtet ist, nutze ich also die Gelegenheit, mich an alle zu wenden, die die Voraussetzungen besitzen, um meine Worte zu verstehen. Ich möchte mich an die unteren Klassen richten, an jene, die den entfremdenden Zustand des der Ausbeutung und Unterdrückung durch das fortgeschrittene und moderne kapitalistische System erleiden, das immer grausamer und ausgrenzender ist.

Des Weiteren merke ich an, dass ich bezüglich meines Verhaltens, meiner Überzeugungen und meiner politischen Entscheidungen nichts klar zu stellen habe, und dass ich schon gar nicht beabsichtige, die Herren des Gerichts um Milde zu bitten.

Die exquisit politische Natur dieses Strafverfahrens zwingt zu einer klaren Stellungnahme, besonders im Lichte der unzähligen Versuche der Staatsanwaltschaft und der Presse, die Angeklagten in diesem Verfahren vor der Öffentlichkeit zu diskreditieren und zu entpolitisieren.

Subjekte, die wider Willen in das Getriebe der Maschinerie der bürgerlichen Justiz geraten sind, die man in manchen Fällen wie eine Horde über die Straßen von Genua herein fallender Barbaren, hat erscheinen lassen die explizit im Sinn hatten, zu verwüsten und zu plündern.

Nein, meine Herren, den Vorwurf der Verwüstung und Plünderung, den sende ich postwendend an den Absender zurück, weil er beleidigend ist, und weil er nicht Teil meines politischen-historischen Hintergrunds ist.

Die soziale Klasse der ich angehöre ist randvoll mit von den Bonzen zugefügten Ungerechtigkeiten, Zumutungen und Demütigungen. Erst Recht hier, in den heiligen Hallen der demokratischen Inquisition, in denen die soziale Ungerechtigkeit systematisch begangen wird, lege ich Wert darauf, meine standhafte Opposition gegen jede Form von Herrschaft, sozialer Ungleichheit und Ausbeutung klar zu stellen und zu behaupten.

Wenn auch ich mir bewusst bin, dass man mir, als Feindin eurer Klasse eine strenge Strafe zufügen wird, weil ich Trägerin unguter Prinzipien bin, die in absolutem Kontrast zur festgelegten Ordnung stehen, teile ich euch mit, dass ich persönlich, als lohnabhängige Arbeiterin Gelegenheit hatte, die wahren Verwüster und Plünderer kennen zu lernen.

Sie residieren in den Luxuspalästen oder in den Palästen der Macht, sie sind die Herren, die Staatsoberhäupter, also die gesamte führende Klasse diesen infamen Systems. Ein schmaler Prozentsatz Individuen auf dieser Erde, der im Namen des Profits und der absoluten Macht diesen Planeten ausrauben und Plündern.

Sie zwingen Millionen Menschen Hunger und Armut auf, sowohl im Süden der Welt, als auch im Westen, sie beuten die Arbeiter an ihren Arbeitsstätten aus, bis diese zu Sklaven werden, folglich sind sie die Verantwortlichen für die weißen Tode **, die ein regelrechtes stetiges Tröpfeln darstellen.

Sie begraben all jene, die gezwungen sind, an den Rändern dieser opulenten Gesellschaft zu leben, in den vaterländischen Kerkern.

Sie führen Kriege – ob es sich dabei um humanitäre Einsätze oder um Eroberungskriege macht wenig aus – in dem sie ganze Bevölkerungen auslöschen, ganze Länder verwüsten und deren Ressourcen plündern. Die Aufzählung könnte ins Unendliche firtgesetzt werden.

Es ist notwendig, gegen all das zu kämpfen, es ist notwendig, der kapitalistischen Diktatur eine unermüdliche Opposition entgegenzusetzen.

Für das, was mich betrifft, ist das der Sinn der Mobilisierungen der antiimperialistischen und antikapitalistischen Kämpfe 2001 in Genua gewesen, und das nicht gerade, weil ich diese etwa für einen durch die Anwesenheit der Herren der Erde bestimmten, einzigartigen politischen Moment im Leben der Ausgebeuteten hielt, um von diesen Herren einige von ihren luxuriösen Tafeln herab gefallenen Krümel zu erbetteln; Ich tat es im Einklang mit einem bereits beschrittenen politischen Weg, der von dem starken Bedürfnis belebt war, ein auf Überwältigung aufbauendes soziales Modell radikal zu transformieren. Das gleiche Motiv, das mich bis heute motiviert, mich an Kampfsituationen zu beteiligen, die von unten hergestellt werden, Situationen, die weniger spektakulär und für die Kameras der medialen Macht weniger interessant, aber mit Sicherheit authentisch sind.

Durch die Wiederaneignung eines verweigerten und durch die imposante militärische Präsenz zum Zweck der Verhinderung jedweder Form von Ablehnung unzugänglich gemachten urbanen Raumes hat man 2001 in Genua mit großer Entschlossenheit ein Grundprinzip neu behauptet.

Kein Urteil wird die Geschichte jener Tage umschreiben können. Carlo wird in unseren Kämpfen alle Tage weiter leben.

[Erklärung SC - Auszüge]

Es ist ein Verfahren, das sich auf Videoaufnahmen stützt. [...] Eine Videoaufnahme ist ein nützliches Instrument, sie genügt aber nicht, um zur Wahrheit zu gelangen. Ich möchte an Plato erinnern: eine Gruppe von Menschen lebt angekettet in einer Höhle; je nach dem, wie die Sonnenstrahlen einfallen, nehmen die Schatten unterschiedliche Formen an; die einzelne Sinneswahrnehmung kann in Abwesenheit von Überlegungen über ein Vorher, ein Während und ein Nachher nicht zur Wahrheit führen. [....]

Also ist es vernünftiger, denen, die Gegenstände beschädigen, eine größere soziale Gefährlichkeit zuzurechnen, als denen, die Menschen Schaden zufügen. Die Staatsanwaltschaft teilt sich in zwei Pools auf: einer für die Gewalttaten in Bolzaneto und in der Diaz-Schule, und einer für die Auseinandersetzungen. Aber gibt es zwischen ihnen denn keine Verbindung?

Oder will man unterstellen, dass die Gewalttaten der Ordnungskräfte eine Folge dessen, was am Samstag geschehen ist darstellen? Aber wenn sie die Gewalt doch schon am Freitag ausübten! [...] Sollte nicht Alles als ein großes Ganzes untersucht werden, statt es zu einem Mischmasch zerstückelter Ereignisse und Bilder zu machen?

Die Urteile scheinen nicht auf uns 25 Angeklagte abzuzielen. Sie muten vielmehr an, wie eine harte Warnung, wie eine Aufforderung zum Schweigen, zur Unterwerfung, an Alle, die in diesen Jahren gegen die Kriege und für die Ausweitung der Grundrechte gekämpft haben. 25 treffen, um 300.000 zu erziehen

* „Piazza“, als Ort im öffentlichen Raum für politische Auseinandersetzung und als Schauplatz derselben. Also „Handhabe“ von politischen Demonstrationen. Vermutlich als polizeiliche „Lagebewältigung“ in Zusammenhang mit Protesten gemeint, wobei nicht vergessen werden darf, dass sehr wohl auch am Protestgeschehen Beteiligte in Fragen der „Handhabe“ der Straße auf unterschiedlichsten Ebenen in Anspruch nehmen, mimischen bzw. mitreden zu wollen und bei angemeldeten Demonstrationen als Veranstalter auch dazu gezwungen sind.

** Als „Weißen Tod“ bezeichnet man die Todesunfälle am Arbeitsplatz. Die Zahl der tödlichen Unfälle am Arbeitsplatz ist in Italien Schwindel erregend hoch. Die letzten Toten gab es gerade bei Thyssen-Krupp in Turin, durch Verbrennungen 3. Grades auf 90% der Körperoberfläche.

Quelle: http://www.supportolegale.org/?q=node/1264

[http://switzerland.indymedia.org/de/2007/12/55258.shtml]

Source: http://switzerland.indymedia.org