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2001-08-04

NoG8 in Genua - eine Geschichte von Tausenden ein persönlicher Erfahrungsbericht der Tage in Genua

Am 20.8. globaler Aktionstag gegen die Repression in Genua und zur Unterstützung der Gefangenen! Auf Ankündigungen achten! Hingehen! Solidarität zeigen!

No G8 in Genua Juli 2001

Dies ist ein persönlicher Erfahrungsbericht der Tage in Genua. Er ist ein kleiner Teil eines großen Puzzle. Er legt keinen Wert auf Vollständigkeit der Ereignisse und möglichen Einschätzungen. Es ist eine Geschichte von vielen Tausenden.

Montag, 23.7.2001
Bogliasco, ca. 20km östlich von Genua
Die Leute und Gruppen, die sich hier treffen, die, die unversehrt blieben, freuen sich an einer Dusche, an einem Kaffee, an ein paar Stunden Schlaf - wem es möglich ist, zu schlafen. Zu viele Leute sind im Knast, verletzt oder noch verschollen.
Was sind wunde Füße und ein paar Kratzer im Gegensatz zu einem eingeschlagenen Schädel oder dauerhaft verletzten Lungen? Leute, die ins Krankenhaus gekommen sind, werden von der polizia abgeholt und noch einmal zusammengeschlagen. La Bella Italia ist die zynische Floskel für ein Land, das uns sein faschistisches Gesicht zeigt, getragen von den Mächtigen dieser Welt. Wir hören davon, dass den Verhafteten auf den Polizeirevieren unter Pinups Bilder von Mussolini gezeigt werden -

Bei der Einreise werden wir kurz an der Grenze angehalten, dann durchgewunken. Wir haben Glück. Andere nicht.
Am Mittwochabend,18.Juli, treffen sich Tausende von Menschen am zentralen Infopunkt, dem s. g. Convergence Point, einem großen Parkplatz zwischen Promenade und Meer, auf dem es spärliche Infos, Essen und Trinken gibt - viel ist teuer, nur Wasser gibt es tonnenweise umsonst, Äpfel und Brötchen - Plena finden hier statt und ein paar politische Gruppen haben hier Stände.
No G8 beginnt mit Spaß und Spiel: Manu Chao spielt und die Musik zieht nicht nur GipfelgegnerInnen, sondern auch TouristInnen an. Das Fan-Gerücht besagt: Berlusconi hat Manu Chao für einen Auftritt eine riesige Summe Gage geboten. Doch er spielt lieber hier umsonst. Die Stimme des bekanntesten EZLN-Vertreters schallt laut durch die Boxen über den riesigen Platz: Para todos todo, para nosotros nada... Menschen tanzen, klatschen, singen, der ganze Platz tobt ausgelassen. Die Stimmung ist fantastisch...

- nein, nicht ganz. Es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Warum sieht man schon den ganzen Tag keine polizia, keine carabinieri? Die Bullenkolonnen, die mit Blaulicht durch die Stadt fahren, hin und her und her und hin, kratzen momentan niemanden. Leute von Infozelt meinten dazu kurz: Das ist nur Zeichen von Machtdemonstration, weiter nix. Beschäftigungstherapie. Es besteht kein Grund zur Sorge.
Während des Konzerts sieht man von weitem, dass die autostrada, die wichtigste Verkehrsstraße Genuas, die die Küste entlang verläuft, mit Containern zugebaut wird. Die Innenstadt, in der der erste Tag des G8 stattfinden soll, ist bereits unpassierbar: in den Boden wurden Betonträger gegossen, mit Gittern verkleidet, durch Metallträger nach hinten gestützt. Die rote Zone. Aus Angst vor uns haben sich die Reichsten der Reichen ein eigenes Gefängnis gebaut. In die rote Zone kommt niemand mehr. AnwohnerInnen haben Zutritt durch besondere Ausweise. Pflegebedürftige wurden in Krankenhäuser zwangsabtransportiert, da ihre Betreuung während der Gipfeltage nicht gesichert würde.
Genua im Ausnahmezustand. Es gibt keine offenen Geschäfte mehr, keine Bars, keine Restaurants, keine Märkte, kein Kulturvergnügen oder sonstiges Alltagsgeschäft.
Sind wir nervös?

Donnerstag, 19.7.
No G8 beginnt ruhig. Am Donnerstag sind rund 30.000 Leute auf der Straße. Die Demo ist explizit als friedlich angekündigt, um die MigrantInnen, um die es hier geht, nicht in Gefahr zu bringen. Daran hält sich jede und jeder. Wir laufen ein paar Stunden durch die Nachmittagshitze, los geht es im Westen der Stadt, in der Nähe der so genannten roten Zone, und führt bis weit in den Ostteil. Die Stadt ist leer. Einer der wenigen AnwohnerInnen, die es in der Stadt gehalten hat, hält aus seiner Wohnung ein Che-Bild raus, wird beklatscht und bejubelt. Ebenso diejenigen, die ihre Wäsche vor die Fenster gehängt haben, was hier ein Zeichen der Solidarisierung ist, Berlusconi hatte propagiert: Auf Genua schaut die Welt. Genueser, haltet Eure Stadt sauber. Hängt keine Wäsche aus den Fenstern.

Was ist für morgen geplant?
Es gab und gibt abends noch Plena von unterschiedlichen "Blöcken". Es gibt Gerüchte. Ein schwarzer Block und ein blauschwarzer daneben, die unabhängig Aktionen planen? Wie zerstritten sind die italienischen politischen Strömungen? Was haben die Tuti Bianchi vor? Wer hat aufkommen lassen, dass sie eine medienwirksame Aktion mit den Bullen abgesprochen hätten? Greifbar, da das Vorbereitungsplenum zentral auf dem Infoplatz stattfindet, ist der Pink-silver-Block, der sich dreisprachig auf eine Mischform von Aktionen einigt: ein friedlicher Teil und ein militanterer Teil, der sich zum klaren Ziel setzt: Wir wollen rein in die rote Zone. Ein paar Leute, die sich dem schwarzen Block anschließen wollten, erzählen von dessen Vorbereitungstreffen und wechseln jetzt zum Pink-silver mit der traurigen Begründung: "zu viele Macker".

Nachts im Camp herrscht Verwirrung. Es gibt keine vernünftigen Camp-Absprachen, die Wachen funktionieren nicht, es herrscht die Sorge, dass das Camp von der polizia dichtgemacht werden könnte - was einfach wäre: es gibt nur drei Eingänge und sonst hohe Mauern. Missstimmung, weil Leute im Camp sich "Material" zusammensuchen und -bauen, um gewaltsam ausbrechen zu können. Wie kann das angehen? Hier ist kein besetztes Gelände zu verteidigen. Das Camp ist Teil der Infrastruktur, dient als Rückzugsort. Es befinden sich Hunderte von unterschiedlichsten Leuten hier, darunter welche, die sich wohl im Traum nicht vorstellen können, dass sie von einem Bullenknüppel geweckt werden könnten.
Einige verlassen in dieser Nacht das Camp, viele bleiben. Gott sei dank passiert nichts.

Freitag, 20.7.
Zwischen 70. und 85.000 Menschen finden sich in Genuas Straßen unterwegs. Die rote Zone ist dicht, polizia und die paramilitärischen carabinieri haben einen Gürtel um die Absperrungen gezogen und schlecht zu verteidigende Straßen zusätzlich mit Containern dichtgemacht. Die ganze Nacht wurde daran gearbeitet.
Wir kommen zu spät, da wir außerhalb der Stadt übernachtet haben. Die Suche nach dem Pink-silver-Block, wo wir Leute von uns treffen wollten, führt uns in einem breiten Bogen um den gesamten Südteil der roten Zone. Wir treffen als erstes auf den Attac-Block, der wohl reformistischste der anwesenden Aktionsblöcke, der Luftballons und Seifenblasen über die Absperrung in die rote Zone werfen wird. Die Bullen wissen das. Sie stehen in Ruhe dahinter, an der attacs von außen Blumen gesteckt haben.
Wir treffen auf den schwarzen Block und "begleiten" ihn 2 Stunden. An der Spitze gehen schwarzvermummte Trommler und schwenken in einstudierten Kreisformationen schwarze Fahnen. Ihre Kopfbedeckungen erinnern an Sciencefiction, Helme mit schwarzen Gumminoppen. Eine Performance, in der viel Vorbereitung gesteckt haben muss. Später hören wir merkwürdige Assoziationen, die diese Block-Spitze bei Leuten ausgelöst hat, das Harmloseste hieß: "militärisch".
Der schwarze Block teilt sich vor der Brücke des Flusses, der Westen und Osten der Stadt bestimmt. Warum? Vielleicht ist es geplant. Die große Teil, zumindest einige Hundert Menschen, bleibt auf der Ostseite der Stadt. Die rote Zone liegt im Westen. Ca. 100-200 Leute inclusive der Trommel-Spitze geistern westlich des Flusses entlang und brandschatzen. Kleine Autos, Roller, Telefonzellen, Mülltonnen gehen in Flammen auf oder in die Brüche, Supermärkte, Banken, kleine Lädchen, was eben da ist. Es werden Straßensperren errichtet. Niemand braucht zur Zeit einen Fluchtweg. Keine Verfolgung. Viele der Männer - es sind kaum Frauen dabei - schütten sich hochprozentigen Alk runter. Deutsche, italienische, französische Stimmen.
Was bloß ist das Absurde an diesem Zug? Ich stehe auf dem Bürgersteig und ziehe mir die martialische Situation rein. Mir wird klar: Die Stadt ist tot! Es ist niemand zu sehen außer ein, zwei schaulustigen Einwohnern, dann plötzlich eine Omi, die seelenruhig, mit einer Plastiktüte in der Hand, unter den Mollis ihres Weges geht. Es ist niemand zu sehen: kein einziger blausilberner Bulle weit und breit. Keiner! Über einige Stunden nicht!

Wir reden noch Tage später darüber. In den gesamten Tagen in Genua wird "der schwarze Block" zum Negativ-Mythos hochstilisiert. Wir kennen das schon, nicht nur aus Göteborg oder Prag.
Eine perfekte Strategie: Man lässt 100-200 Leute brachial durch die Stadt ziehen - soviel Müll wie hier hat wohl noch nie in einer Stadt gebrannt, die giftigen Dämpfe, die der brennende Müll entfacht, beißen uns in der Lunge - und dann nennt man es den schwarzen Block und legitimiert damit das Handeln der Staatsgewalt.

Die wenigen verwüsten alles, was da ist. Ihre Militanz ist nicht an eine politische Aussage gekoppelt. Aber es ist nicht der schwarze Block.
Es gab andere militantere Straßenzüge: die italienische Basisgewerkschaft Cobas hat ebenfalls keinen einzigen Bankautomaten heil gelassen - dafür aber die kleinen Geschäfte, Autos und Roller von EinwohnerInnen. Das erscheint mir vermittelbar.
Das, was fälschlicherweise als der schwarze Block durch die Medien und leider auch durch viele Köpfe der GipfelgegnerInnen geistert, bezieht sich auf einige Idioten plus - wie später klar wird - Provokateure, die von Seiten der Staatsgewalt unter den Block gemischt werden.

Später entsteht Gerangel und dann Panik in der Stadt. Der Pink-silver-Block hat sich ebenfalls geteilt und wird von Wolken aus CS- und CN-Gas auseinander gesprengt. Einige "Pinks" haben versucht, den Zaun um die rote Zone mit Seilen aus den Angeln zu heben. Unklar ist, was mit den Tuti Bianchi ist. Auch sie hatten vor über eine zentrale Straße an die rote Zone zu gelangen. Die ganze Stadt ist voller Gas. Einige bekommen die scharfen Gaspatronen an die nackte Haut und verletzen sich schwer. Genua hallt von Feuerwehr- und Krankenwagengeräuschen.
Wir irren durch die Stadt mit einigen der versprengten "Pinks" und versuchen neue Pläne zu machen. Wir wollen immer noch rein in die rote Zone. Uns erreicht das Gerücht, dass die Tuti Bianchi weit im Osten der Stadt von der polizia eingekesselt wurden. Mit inzwischen ca 100-200 versprengten GipfelgegnerInnen sitzen wir auf einer kleine Kreuzung. Wir holen uns Kekse und Wasser aus einem der geplünderten Supermärkte, an denen sich ebenfalls EinwohnerInnen gütig tun. Wir sind alle unglaublich kapputt. Wir haben nichts gegessen, kaum getrunken, geschwitzt, haben einen schlechten Geschmack im Mund vom Gas, fühlen uns gleichzeitig ausgepowert und hochgeputscht durch viele Adrenalinschübe. An Ausruhen ist nicht zu denken. Viele sind unschlüssig: auf dem Weg "zu" den Tuti Bianchi gibt es riots, Straßenkämpfe. "Wir wollen nicht in die Nähe des schwarzen Blockes", ist zu hören. Leute haben Angst. Das ist verständlich. Resultat ist aber auch: Entsolidarisierung.
Das nächste Gerücht besagt, dass Leute des schwarzen Blockes im Kessel sitzen. Wir versuchen unsere Bezugsgruppe, mit der wir uns im Chaos zusammengetan haben, dorthin zu bewegen. Die Meinungen sind geteilt. Die Angst überwiegt. Viele von denen, die hier ratlos zusammenstehen, haben sich - vielleicht unbewusst - der Polarisierung ergeben. Für uns ist klar: Es sitzen Leute im Kessel. Wer unterstützt, wer beobachtet zumindest? Die Frage ergibt sich, als eine Hundertschaft auf uns zu gerannt kommt und das Stadtviertel abriegelt. Viele, viele Krankenwagen werden durchgelassen, wir sehen Hubschrauber kreisen, Rauchwolken aufsteigen. Das erste Mal sage ich mir: Hier herrscht Krieg. Das nächste Gerücht besagt, dass zwei Menschen im Kessel erschossen worden sind. Vereinzelt steht jemand auf dem Bürgersteig und weint.

Wir wissen später, dass der 23jährige Carlos Giuliani aus Genua in der Nähe des Bahnhofes von einem Bullen zweimal in den Kopf geschossen wurde bei dem Versuch, einen Feuerlöscher auf den gepanzerten Wagen zu werfen. Erschossen und dann rückwärts überfahren. Fassungslosigkeit. Assassini!!!

Wie viele Tote gibt es? Die verzweifelte Suche nach Infos, wir hören Geschichten, ein Typ hat gesehen, dass eine Frau von Bullen überfahren wurde und Wiederbelebungsversuche nicht mehr geholfen haben sollen. Was ist mit den Schüssen im Kessel?
Am nächsten Tag ist in der italienischen Zeitung El Manifesto von Hunderten von Verletzten die Rede. Dabei ist klar, dass Krankenhaus Gefängnis bedeutet. Gefängnis und nochmals Schläge. Faschistische Bilder an den Wänden. Von Folterungen ist zu hören.

Wir puzzeln uns am Abend unsere Infos zusammen. Freuen uns über jedes bekannte Gesicht, über jeden Menschen, der unverletzt ist. Wir tauschen uns aus, jeder ist froh, seine Erlebnisse zu teilen. Auf dem Rückweg zum Infopunkt laufen wir durch verwüstete Straßen. Zwischendurch bekommen wir irakische Datteln und Wasser aus einem kleinen Lieferwagen. Vor einem ausgebrannten Panzerwagen posieren Typen, um sich fotografieren zu lassen. Es sind auch welche, die vorher nicht in die Nähe des schwarzen Blockes wollten. Hier schmücken sie sich mit fremden Lorbeeren. Das Stadtviertel im Osten ist stundenlang dicht. Wir wissen, dass sie dort Leute plattmachen. Die Krankenwagen sind Indiz davon.
Abends treffen wir unsere Leute. Uns fallen Steine vom Herzen, alle sind unverletzt. Einer ist allerdings in den Gaswolken fast abgekackt.

Der black bloc ist immer wieder Thema. Es polarisiert sich. Es gibt keine Differenzierung. "Todos somos black block" schreibt eine auf ein Transpi für den nächsten Tag. Es gibt viel Kritik an den Verwüstungszügen, die jeder politischen Aussage entbehren. Die Frage der Militanz droht wieder mit Spaltung. Am Sonntag wird eine Pressekonferenz stattfinden, auf der ein Journalist sagt: "Schauen wir nicht auf den schwarzen Block, sondern auf die schwarzen Kolonnen Berlusconis..." Die Faschisten des Landes. Mittlerweise heißt es, dass das Genua Social Forum sich vom black bloc distanziert haben soll.
Offen bleibt die Frage: Warum haben sich die Mehrheit der Aktionen im Osten der Stadt abgespielt, weit weg von der roten Zone?

Wir verbringen die Nacht auf dem Infopunkt in der Nähe des Meeres und schaffen es endlich, ein paar Stunden zu schlafen. Meine Träume summieren Gehörtes und Erlebtes zu einem chaotischen Science Fiction.

Samstag, 21.7.
Der Tag beginnt relativ ruhig. Ich schaffe es, ein paar Pommes zu essen, das erste Handfeste seit 3 Tagen. Die Demo ist für Nachmittags geplant. Es kommen Unmengen von Leuten jetzt noch dafür angereist, vor uns zahlreiche Busse aus Griechenland. Bereits am frühen Morgen laufen Hunderte von Menschen mit Transpis, Plakaten und Demo-Zubehör zum Treffpunkt, der östlich an der Strandpromenade liegt. Es ist brüllendheiß. Ich nehme an, niemand traut sich noch Sonnencreme zu benutzen, auch nicht die am friedlichsten Gestimmten.
Auf der Promenade, die am Infopunkt vorbeiläuft, beginnt es unruhig zu werden. Wieder Gas. Wir überlegen kurz, ob wir bleiben, klinken uns dann aber in den Demostrom ein. Zahlen sind nicht mehr zu schätzen. Zwischen 150.000 und 300.000 Menschen heißt es später.

Wir laufen im Pink-silver-Block. Bunt ist es hier. Das Motto lautete bereits gestern: Wir tanzen uns in die rote Zone, was von einigen als Peece-Niks belächelt wird. Vor der Demo gab es einen Basteltisch, wo Leute sich noch eigene Transpis basteln können. Plakate von den italienischen Kommunisten wurden überklebt und mit eigenen Sprüchen bemalt. Assassini! ist seit dem Tod von Carlos G. immer wieder zu lesen. Es werden Zielscheiben gemalt, Target. Eine Engländerin mit pinker Perücke und silbernen Stiefeln wird ein Dutzend Mal fotografiert. Samba, Trommeln aus Plastikwasserflaschen und Metallkrempel, Leute tanzen tatsächlich, man riecht tatsächlich Hasch. Der Pink-silver ist nicht nur in seiner Ausstrahlung lebendig, integrativ - in der Auseinandersetzung vorher, in erstaunlich basisdemokatisch organisierten Plena, gab es eine klare Absprache zwischen den "Peece-Niks" und den militanter Orientierten: Man geht solange zusammen, wie es eben geht, stützt sich gegenseitig, man weiß von einander. Pink-silver versprüht in seiner Vielfalt etwas von dem, warum wir hier sind: Weil wir eine bessere Welt wollen. Eine, in der wir etwas zu Lachen haben. Eine Welt, in der viele Welten Platz haben, in der sich keiner über den anderen stellt und stellen kann. Es ist zu sehen, was das Motto "keine Macker, keine Helden, keine Märtyrer" mit sich bringt. In der Idee des Pink-silver ist ein anarchistischer Hauch zu spüren, den Menschen ausfüllen, und etwas Grundsätzliches: Solidarität. Ist es Zufall, dass hier ganz unterschiedliche zu finden sind, darunter Schwule, Lesben, Freaks, Feministinnen, MigrantInnen, Leute mit Kindern...? Es ist schwer, hier Bezeichnungen zu finden, hört sich das doch schnell gleich wieder nach Schubladen an. Und genau um die geht es hier nicht!!!
Manche im Pink-silver versuchen, auf kulturelle Art politische Inhalte zu vermitteln. Abschätzend wird er der Party-Block genannt. Dabei wird verkannt, dass ein klares Ziel, ein klares Wofür und Wohin besprochen wurde. Unterschiedliche politische Konzepte finden hier Gemeinsamkeiten und lassen neue Methoden entstehen. Das Wofür steht deutlich neben dem Dagegen.

Als wir von der Nachricht hören, der G8 wäre abgebrochen worden, sind wir im Party-Block gut aufgehoben! Überall Musik und Leute, die sich lachend, vor Freude weinend in die Arme fallen. Die Stimmung ist unglaublich. Wir haben einen Punktsieg! Wenige AnwohnerInnen winken aus ihren Fenstern und hängen Transpis aus "hasta la victoria siempre...", ein alter Opi holt kübelweise Wasser und bespritzt die verschwitzte und durstige Masse, wird dankbar beklatscht und bejubelt. Zwischendrin läuft plötzlich, etwas verstört - aber nicht zu sehr - eine Kuh, eine Kampagne gegen Genmanipulation von einheimischen Bauern, die ohne richtiges Schuhwerk auf dem heißen Asphalt laufen. "Libera Genua! Libera Genua!" ist der am häufigsten zu hörende Demoruf.

Erst später wird uns klar, dass uns jemand verarscht hat. Während der obere Demozug feiert, werden unten - immer noch an der Promenade - Leute plattgemacht. Aus dem Straßenkampf ist eine Hetzjagd geworden. Die Bullen teilen die Riesendemo und treiben die kilometerlange zweite Hälfte dicht gedrängter Menschen mit Unmengen von Gas die Strandpromenade zurück. Massenpanik. Ans Meer runter ist nicht zu denken. Es gibt keine Treppen an die kleinen Privatstrände runter, nur ein paar Meter hohe Feldklippen, über die Leute in Angst und Panik herunterzuklettern versuchen. Die Bullen werfen ihnen Gaspatronen hinterher. Es gibt tatsächlich noch Touris, die an diesen Tagen am Strand liegen und so tun, als wäre Genua einfach nur eine Touristenstadt an der Riviera. Auf ihre eingecremte Haut fliegt jetzt Gas.
Einzelne versuchen sich in kleinen Hinterhöfen und Parkplätzen auf der gegenüber liegenden Seite der Promenade zu verstecken. Es werde unzählige verhaftet und verletzt. Die Bullen knüppeln drauf los.

Als der obere Demoteil anhand von Hubschrauber- und Krankenwagengeräuschen und angesichts der riesigen Gaswolken in der Ferne erkennt, dass die gute Nachricht eine faule war, eine, die vielleicht ganz strategisch unter die Massen verstreut wurde, ist es bereits zu spät. Die polizias sind schon da. Es bricht Panik aus. Einige stehen ratlos herum, niemand weiß, was tun. Wir erfahren erneut von einem Kessel und versuchen, von der anderen Seite des Flusses hinüber zu gelangen. Kein Durchkommen. Irgendwann ergeben wir uns unserer bleiernen Müdigkeit und laufen zum Infopunkt zurück, an dem wieder alles ruhig erscheint. Die Promenade gibt deutliche Zeichen vom Geschehenen. Ein Straßenteil liegt in Schutt und Asche. Verbrannte Autos, verbrannte Palmen. Das ausgebrannte Lufthansa-Büro schmückt die Parole stop deportation class.
Die Straßen sind ohne Ende vermüllt. Nach den vielen brennenden Mülltonnen des Tages vorher hat die städtische Müllabfuhr Hunderte davon weggeschlossen. Doch die Demonstration hinterlässt ihre neuen Spuren. Die Stadt ist leer, doch wer dageblieben ist, sind neben der Bullerei und den Militärs das Krankenhauspersonal, die Feuerwehr - und die Müllleute, die auch in der nächsten Nacht wie von Geisterhand riesige Berge von Demospuren beseitigen. Wie hatte Berlusconi schließlich gesagt? "Die Welt blickt auf uns, auf Genua..."

Abends suchen wir wieder nach Infos. Wir sind mit 8 Leuten unterwegs und haben ein Auto am Pressepunkt geparkt, dafür wurde eine Schule bereit gestellt. Indymedia-Zentrum, Sani-Station und AnwältInnen-Betreuung. Eine andere Schule genau gegenüber dient als Schlafplatz, dort können ebenfalls Computer benutzt werden. Es findet ein Pink-silver-Plenum statt, es soll was für die vielen inhaftierten und verletzten organisiert werden.

Gruppendynamik: 8 Leute unter einen Hut kriegen. Wo schlafen? Außerhalb der Stadt? Hier in der Schule? Es gibt Stimmen dagegen, ohne konkrete Begründung, eher intuitiv. Wir wollen raus aus der Stadt. Jemand ist noch beim Plenum, andere mailen, trinken einen Kaffee, sprechen mit Bekannten. Es dauert. Kurz vor Mitternacht wollen wir endlich los, die eine Fuhre Leute sitzt bereits im Auto. Eine ist noch in der Schule, um ihre Freundin zu holen, die seit Tagen mit hohem Fieber dort ausruht.
Dann sehen wir die Bullen oberhalb der Schule, etwa 50? Meter vor uns auf der schmalen Straße, die von hohen Häusern mit hohen Zäunen gesäumt ist. Die italienischen Einheiten blitzen blau-silber. Es taucht die Assoziation Kriegsmaschine auf, Roboter, Marionetten, das kennt man.
Die von uns, die auf der Straße sind, rasen in die andere Richtung. Nach ca. 100? Metern macht die Straße eine Rechtskurve, links geht ein kleiner Fußweg über eine Treppe nach oben. Um die Kurve herum sehen wir die zweite Einheit nur wenige Meter von uns entfernt. In diesem Moment wird uns klar, dass wir einige Sekunden Zeit bekommen haben, bevor die Falle zuschnappt.
Wir verstecken und irgendwo in den kleinen Gassen, erst unter Autos, dann unter Büschen. Ungefähr ein Dutzend Menschen, die den gleichen Weg raus gefunden haben. Dann geht der Suchhubschrauber los. Wir zählen die Sekunden, zwischen denen der Scheinwerfer an uns entlang streicht. Vielleicht 30? Wir sind immer noch nicht weit weg von der Schule. Nackte Angst. Kommen sie gleich um die Ecke? Sie können uns einfach zusammenknüppeln. Wir haben nichts, um uns zu verteidigen. Es würde niemand mitbekommen. Wir haben Angst. Schließlich teilen wir uns auf. Einige wenige schlagen sich an den Strand durch und verstecken sich in der Nähe des Infopunktes. Die Hubschrauber kreisen über das viertel mit der Schule. Über die Promenade rasen Krankenwagen und schließlich die gepanzerten Polizeiwagen, die uns in dieser Nacht wie Panzer erscheinen. Sie machen alle platt! Sie machen sie platt. Wir sitzen in unserem Versteck, fertig, fassungslos, panisch, wütend, hasserfüllt, erschöpft, verzweifelt. Wir laufen zum Infopunkt, weil wir hoffen, dort welche von uns zu treffen. Es sitzen vielleicht 100 Menschen um ein Lagerfeuer herum. Das Gerücht besagt, dass Leute vom infopunkt hoch zur Schule sind, um Widerstand zu leisten. Wir versuchen, Zigaretten zu schnorren, was äußerst schwierig ist. Tabak und Zigaretten sind rar geworden in den letzten Tagen. Schließlich ergattern wir drei Zigaretten, die wir uns zu fünft in den nächsten 4 Stunden teilen werden, etwas Brot und eine Flasche Wasser. Auf dem Rückweg zu unserem "Versteck" steigen hinter uns 2 Zivilbullen aus dem Auto. Jetzt habe ich plötzlich Panik. Meine Begleiter drückt so stark meine Hand, dass der kurze Schmerz größer ist als sie. Völlig erschöpft legen wir uns auf den kalten Steinfußboden und dösen 1,2 Stunden. Es ist total kalt. Wir haben nicht viel an, nichts dabei.

Früh Morgens gehen wir zurück in die Schule - eher schleichen wir. Was wird uns erwarten? Sie ist bereits seit einigen Stunden wieder von Leuten von uns bevölkert, viele schlafen in der Halle, die bisher als Krankenstation diente. Einige Leute der Tuti Bianchi sind gekommen, wohl aus Angst, dass ihr Camp ebenfalls geräumt würde? Oder wurde es geräumt? Ich erinnere mich nicht...

Das was wir erfahren, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Die Bullen haben gemetzelt. In der Schule waren ungefähr 70 Menschen, viele davon haben bereits geschlafen. Die Sondereinheiten haben auf alle eingeknüppelt, gnadenlos. Fast niemand ist auf eigenen Beinen heraus, fast alle auf Bahren ins Krankenhaus gekommen. Ein Engländer wurde ins Koma geschlagen. Einge wenige haben es geschafft, durchs Fenster auf das nebenliegende Baugerüst und dann über den Garten zu fliehen, darunter die 2 Frauen, von denen die eine krank ist.
Die ganze Schule zeugt von einem Massaker. Blutspuren im Treppenhaus, auf den Klos, in allen Räumen, zwischen zerbrochenen Flaschen, Schlafsäcken und persönlichen dinge der Leute, die hier eine letzte Nacht verbringen wollten, bevor es nachhause gehen sollte, zerfetzte Computer.
Wenige von uns haben einen Arsch voll glück gehabt. Viele nicht. Mir wird in diesem Moment klar: wir sind zum Abschuss freigegeben.

Das wird bestätigt durch viele verstreute Infos darüber, dass GipfelgegnerInnen überall abgegriffen werden: auf Stränden, Autobahnen, in Bars, an Tankstellen, in Zügen, auf der Straße, auf Campingplätzen. Niemand ist mehr sicher. Die Bullen haben einen Gürtel um Genua gezogen und sacken uns ein.
Es wird am Sonntag nach dem Massaker über Soli-aktionen gesprochen. Leider bröckelt die Teilnahme, alle sind am Ende ihrer Kraft. Wir bleiben noch bis zum Abend, dann verlassen wir Genua in Richtung Osten.

Der italienische Innenminister Scajola begründet die Aktion mit den Verdacht, dort Mollis zu finden. Er sagt zu dem Sondereinsatz lakonisch: "Buenissima cosa."

Am Montag hören wir von vielen Aktionen und Solidaritätsdemonstrationen aus der ganzen Welt. Es waren wenige in Genua. Viel mehr von uns sind zuhause.

Wir sprechen über das faschistische Gesicht Italiens, das von der Welt getragen wird.

Es gibt viel aufzuarbeiten: die Polarisierung in der Bewegung, die Entsolidarisierung mit dem von den Medien forcierten Mythos um den vermeintlichen schwarzen Block, um die Ideen, wie sich unterschiedliche linke Methoden und Menschen zusammen- finden könnten, um die Unterstützung, die Leute brauchen, die noch im Knast sitzen, die vielen Hunderte von Verletzten, wie es weiter gehen kann. Welche Chancen haben wir? Wie kommen wir sicher über die Grenze? Wo können wir mal wieder aufs Klo? Können wir in Italien sehen, was uns in Deutschland und anderswo vielleicht auch bald erwartet? Wie organisieren wir uns dagegen? Wann trinken wir endlich einen latte macchiato? Wir brauchen dringend Schlaf.

Es hat wohl keiner so wirklich mit dem gerechnet, was uns hier in Genua begegnet ist. Uns wird klar, dass alle geblieben sind.
YA BASTA!

[http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/genova/nog8.htm]