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2002-11-27

ALLE GEMEINSAM" ODER "FREIHEIT FÜR ALLE? Flugblatt der Demo in Berlin am 27.11. deutsch/ italienisch

Am 15. November sind in Italien 13 Personen festgenommen und in Hochsicherheitsgefängnisse überführt worden; über 6 weitere wurde Hausarrest verhängt und gegen weitere 20 wird zunächst ohne Haftbefehl ermittelt. Die Anklage beruft sich auf den berühmten Artikel 270/bis, der sich gegen "Propaganda zum Zweck der Subversion der demokratischen Ordnung" richtet.

Die Methode des ‚teorema giudiziario', des gerichtlichen Konstrukts, verweist auf die typischen Methoden der repressiven Tradition des italienischen Staates, in Gebrauch seit der faschistischen Diktatur und - in perfekter Kontinuität - konsequenterweise von der demokratischen Republik immer und besonders in den 60er und 70er Jahren weiterverwendet, um die revolutionäre Bewegung zu isolieren und einzudämmen, und um den Klassenkonflikt zu befrieden.

Die Meldung über die Festnahmen geht schnell um die halbe Welt: Organisationen von Globalisierungsgegnern, pazifistische Gruppen, Politisierende und solidarisierende Bürger organisieren prompt friedliche Protestinitiativen, wettern gegen das ‚Berlusconi-Regime' und schimpfen auf die ‚zu undemokratische Demokratie'. All diese Proteste sind Teil einer schalen, selbstbemitleidenden Kampagne, die auf Unschuld pocht, die die Festnahmen als schweren Angriff des bösartigen Berlusconi (als rechter, philoamerikanischer, korrupter und antidemokratischer Spekulant Personifikation alles Bösen) gegen die Massen von Bürgern, die kurz zuvor im Rahmen des European Sosial Forum in Florenz ‚alle gemeinsam' (aber ohne die ‚Provokateure') für einen ‚menschlichen' Kapitalismus demonstriert hatten. Ohne erhört zu werden, was für eine Frechheit! Die anständige Menge rebelliert und es gelingt ihnen - durch die Unterstützung der sozialdemokratischen Parteien, pazifistischer Gruppen, der Medien und den Intelektuellen des 3. Weges - ihre Empörung weiterzuverbreitern und ihre Solidaritätsinitiativen zu vermehren.
Alles normal, wenn sich diesmal unter den Protestchor nicht auch die Stimmen der ‚Bösen' mischen würden - derer, die sich nie zufriedengeben, der ‚Provokateure', denen schon eine Stunde nach dem Tod Carlo Giulianis vorgeworfen wurde, "die Reaktion der Ordnungskräfte provoziert zu haben" - oder besser gesagt am Tod Carlo Giulianis schuldig oder zumindest mitverantwortlich zu sein [V. Agnoletto, Sprecher des Genoa Social Forum auf der Pressekonferenz am 20. 7. 01].
Diese seltsame Einmischung Fremder bleibt für die empörte Zivilgesellschaft ein Rätsel. Für einen auch nur ein bißchen aufmerksameren Betrachter dagegen muß es vollkommen normal erscheinen, daß zu dem in letzter Sekunde eingestimmten Chor des zivilen Ungehorsams gegen die Repression die Stimmen tausender Menschen kommen, die schon lange täglich gegen den unausweichlich repressiven und totalitären Charakter der bürgerlichen Demokratie kämpfen (und es oft genug teuer bezahlen müssen) - gegen die bürgerliche Demokratie, der es in zwei Jahrhunderten der Herrschaft nie gelungen ist ihre immanenten Widersprüche so zu befrieden, daß sie sich die Konstruktion und die Überfüllung der Gefängnisse hätte sparen können.
Tausende von sog. Disobbidienti mobilisieren gemeinsam mit der parlamentarischen Opposition gegen den ‚faschistischen' Berlusconi, den viele nicht mehr an der Regierung haben wollen. Da sie peinlich genau darauf achten sich von einem autonomen von dem der Parteiblöcke unterschiedenen Dissens fernzuhalten, werden diese Proteste nichts anderes, als die Rammböcke, derer sich die Linksparteien bedienen, um die Regierung zu übernehmen.
Wieviel solche Proteste mit revolutionären Momenten zu tun haben, die eine Gesellschaft ohne Gefängnisse fordern, zeigt sich von selbst.

DIE REPRESSION IN ITALIEN: NICHTS NEUES
Während Disobbedienti, Gewerkschaften, Attac und Co wegen der Festnahme Unschuldiger schreien, rührt keiner von ihnen einen Finger oder nutzt seine beleuchteten Medienbühnen, um von den gerichtlichen Konstrukten und repressiven Verfahren zu sprechen, die um einiges schwerwiegender sind und die seit einigen Jahren die revolutionäre Linke materiell erheblich dezimieren. Die ‚No global' bemerken jetzt plötzlich, daß der Staat auch unterdrücken kann - und nicht nur Finanzierungshilfen verschenkt, Veranstaltungsorte für Foren u.ä. bereitstellt und Beschlüße zur Legalisation der centri sociali gewährt.
Vielleicht, weil die obengennanten Verfahren Kinder der Mitte-Links-Regierung sind, oder vielleicht, weil sie in der Logik der Denunziation der ‚Bösen' gefangen sind - mit der versucht wird die Verantwortung für die Befriedung der ‚Bewegung' zu übernehmen, die er Staat an die ‚Guten' übergibt - haben all diese Organisationen bisher und immer noch zu all diesen Episoden geschwiegen.

- 5. November: Eröffnung der zweiten Instanz des Marini-Prozesses, der hunderte von Linksradikalen betrifft, gegen die seit 96 wegen der angeblichen Bildung einer internationalen, anarchistisch-insurrektionalistischen Organisation, wegen ‚Propaganda zum Zweck der Subversion', wegen ‚direkten Aktionen mit zersetzender Zielsetzung' ermittelt wird. In der ersten Instanz war einer der Angeklagten zu lebenslanger Haft und 18 Monaten Isolationshaft verurteilt worden, 3 andere zu Haftstrafen zwischen 15 und 10 Jahren und 9 zu Haftstrafen zwischen 1 und 6 Jahren.
- Anfang November: Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl wg. angeblichichen Hinweisen auf offensichtlich nicht-existente Sprengstoffvorräte bei mehreren Linksradikalen in Rom, Turin, Mailand und Pescara.
- 23. November: Abschluß der letzten Instanz des Prozesses gegen 3 Anarchisten wegen Anschlägen auf den Hochgeschwindigkeitszug im Val di Susa und Bildung einer subversiven Organisation. In dem Prozeß ,der seit 98 lief, wurde der einzig übriggebliebene Angeklagte zunächst zu sechs Jahren Haft verurteilt, um das gerichtliche Konstrukt nicht in sich zusammenstürzen zu lassen, nachdem zwei der Angeklagten im Turiner Gefängnis in den Selbstmord getrieben worden waren. Nach 3 Jahren und 10 Monaten im Gefängnis wurde in letzter Instanz der Vorwurf der subversiven Organisation gegen ihn fallengelassen und die Strafe auf zufällig genau 3 Jahre und 10 Monate festgelegt.
- Noch im Gang: Prozeß der Via degli Angeli gegen mehrere Genossen aus Rom, denen die Bildung einer bewaffneten Gruppe und Freiheitberaubung vorgeworfen wird, weil sie aus Protest gegen die Räumung eines besetzten Hauses ein Bezirksamt besetzt hatten. Die Anzeige ging vom der sozialdemokratischen Partei angehörigen Bezirkspräsident aus, der trotzdem kurz danach zu einer Veranstaltung des bekannten römischen centro sociale Snia Viscosa geladen wurde.
- Juli 2001: 3 Linksradikale werden festgenommen und verschiedener Attentate gegen die Sitze der sozialdemokratischen Partei beschuldigt. Nach einem Jahr U-Haft werden sie wegen mangelnder Beweise freigelassen, so wie viele Mitglieder der Iniziativa Comunista, die im Rahmen der Ermittlungen im Mordfall D'Antona verhaftet worden waren.
Das Schweigen der ‚No global' gegenüber diesen schwerwiegenden Repressionsmanövern ist, wenn auch auf menschlicher Ebene kaum nachvollziehbar, auf politischer nicht erstaunlich. Denn der Versuch des italienischen Staates die revolutionäre Linke zu treffen, indem er sie isoliert und so immer mehr schwächt, wird von breiten Teilen der ‚Bewegung' gestützt, in der Hoffnung durch die Abgrenzung von den ‚Bösen' Sichtbarkeit, politisches Gewicht und Hegemonie zu gewinnen und so Finanzierungsmittel und Anerkennung von Seiten der Institutionen zu erhalten. Preis all dessen ist die Verpflichtung die Befriedung garantieren und eventuelle Radikalisierungen der Bewegung eindämmen zu müssen. Viele Male schon haben die Disobbedienti (ehemals Tute bianche) offen und schamlos diese Rolle einer Feuerwehr in den Kämpfen übernommen. Das eklatanteste Beispiel dafür (außer Genua) spielte sich im Jahr 2000, dem Heiligen Jahr der Katholiken, ab, als die Tute Bianche in Rom die Autorisation für eine Street Parade erhielten, trotz Spezialerlassen, die Streiks und Demos in den Pilgerstädten verbaten. Im Austausch für die Autorisation wurde ein softer Ablauf der Demo garantiert. Nachdem Gruppen von DemoteilnehmerInnen spontan versucht hatten die ursprünglich geplante, aber verbotene Demoroute durchzusetzen, endete die Demo in riots. Die Sprecher bekannter centri sociali zögerten nicht in Interviews mit der Presse ihre Bereitschaft zu erklären, die vorhandenen Videos durchzusehen und die Verantwortlichen für die Ausschreitungen zu individualisieren. Die Angelegenheit endete mit einer Strafexpedition von etwa 50 bekannten Mitgliedern der centri sociali gegen eine kleine Gruppe von Linksradikalen, die dafür verantwortlich gehalten wurden ein Plenum organisiert zu haben, von der ein Flugblatt ausging, das diese Praktiken der ‚internen' Repression kritisierte.
Nachdem das Social Forum in Florenz ohne die befürchteten Ausschreitungen abgelaufen war und die in Angst und Schrecken versetzenden Infiltrationen des alles kaputt machenden Black Bloc ausgeblieben waren, konnte der italienische Staat in Form seiner übelsten Repressionsapparate (Spezialeinheiten der Polizei wie den ROS) nichts anderes machen als sein Spielchen der Suche nach den ‚Bösen', die sich unter den ‚Guten' verstecken weiterzuspielen. Da der phantomartige Black bloc nicht anwesend war, traf das Richtersbeil im innern der pazifistischen Bewegung selbst.
Ganz wie in dem berühmten Gedicht, in dem, wer zur Repression der anderen geschwiegen hat, weil er sich nicht betroffen fühlte, später gezwungen ist gegenüber der eigenen Repression zu schreien.

RECHTSSTAAT UND POLIZEISTAAT ODER EINFACH BÜRGERLICHER STAAT?
Auch wenn ein Abtriften von Regierungen ins Autoritäre von antagonistischen Gruppen sicherlich genau betrachtet und reflektiert werden muß, ist es dennoch falsch gegen das ‚Berlusconi-Regime' zu wettern und sein Heil in der Rettung des Rechtsstaates zu suchen.
Die Existenz eines Straftatbestandes, der sich gegen ‚die Propaganda zum Zweck der Abschaffung einer sozialen Klasse und den gewaltsamen Umsturz der verfassungsgemäßen sozialen und ökonomischen Ordnung im Staat' richtet, ein Gesetz, das im Faschismus geschaffen und von der demokratischen Republik konserviert und in den 70er Jahren in die Notstandsgesetzgebung integriert wurde, zeigt wie der bürgerliche Staat die Grenzen seiner Rechtsgarantien und diejenigen, die in jedem Fall außerhalb dieser Grenzen bleiben müssen, genau kennt.
Wenn es sich nicht um politische Straftaten oder Meinungsverbrechen handelt, richtet sich die kapitalistische Repression täglich in tausend anderen Formen gegen die Ausgebeuteten. 57 000 Häftlinge in Italien (von denen 15 000 drogenabhängig und 16 000 ohne italienischen Paß sind) zusammengepfercht in Gefängnissen, die für max. 40 000 Häftlinge ausgebaut sind, 3 Tote täglich aufgrund von Arbeitsunfällen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit und Elend - diese Verhältnisse töten überall immer mehr Menschen, in dem sie sie aus dem Teufelskreis von produziere-konsumiere-stirb einfach ausschließen.
Das System, das die revolutionäre Opposition verfolgt, das Migranten tötet und wegschließt, nachdem es sie als billige Arbeitskräfte gerufen hat, das die Demontierung der FIAT-Werke fortführt und damit gewaltsam Tausende von Arbeitern in prekäre Arbeitsverhaltnisse und Flexibilität treibt, das System, das täglich in den Gefängnissen tötet und die Marginalisierten zu Diebstahl und Raubüberfällen zwingt, das die menschlichen Beziehungen warenförmig macht und dadurch zerstört, dieses System heißt weder Polizeistaat noch Neoliberalismus: Dieses System heißt Kapitalismus.
Wir verschwenden nicht unsere Zeit damit, der Welt zu erklären, daß wir unschuldig seien, weil wir keine subversive Propaganda machen würden: Viel eher erklären wir, daß "wir alle subversiv sind und zwar notwendigerweise, gegen eure absurde Rationalität" [O. Scalzone, 15. November gegenüber der Presse].
Wir fordern nicht die Abschaffung von Gesetzen, die vom Faschismus geerbt sind in der Illusion, daß so der status quo verbessert würde.
Wir bitten nicht den Staat seinen autoritären Charakter abzulegen und die Regeln seines Rechts zu befolgen, das sich in seinen Händen schon immer ‚Gewaltmonopol' nennt.
Wir wollen nicht die Abschaffung der Notstandsgesetze des kapitalistischen Staates: Wir wollen die Abschaffung des alltäglichen Notstandes, in dem unsere Leben gefangen sind. Wir wollen alles, wir wollen die Abschaffung der kapitalistischen Totalität.
Die Solidarität ist nur dann eine Waffe, wenn sie in alltägliche Kämpfe gegen das umgesetzt wird, was die Repression erzeugt.

FREIHEIT FÜR ALLE REVOLUTIONÄREN GEFANGENEN!
FREIHEIT FÜR ALLE!
DER EINZIGE KNAST, DER UNS GEFÄLLT IST DER, DER DEM BODEN GLEICHGEMACHT IST.

FÜR DEN KOMMUNISMUS!