Silke Studzinsky
In der Anti-Repressionsarbeit konnten auf nationaler Ebene seit vielen Jahren in den verschiedenen Staaten wertvolle Erfahrungen gesammelt und ein hohes Niveau erreicht werden. Inzwischen sind die Grenzen der nationalen Arbeit deutlich und eine neue Struktur ist notwendig.
Die Ausgangslage:
Der Druck von oben steigt Denn mit dem rasanten Voranschreiten der Globalisierung organisiert sich seit einigen Jahren auch der Widerstand dagegen international - und damit natürlich auch die Repression grenzübergreifend. Permanent werden neue repressive Eingriffe entwickelt und fortgeschrieben, teilweise unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus oder auch ausdrücklich gegen soziale Bewegungen und GipfelgegnerInnen gerichtet, um den Widerstand zu behindern oder sogar ganz auszuschalten. Zu dem Arsenal gehören Ausreiseverbote, Vorverlagerungen von Grenzkontrollen, die Außerkraftsetzung des Art. 2 Abs. 2 des Schengener Durchführungsabkommens, also die Wiedereinführung von Grenzkontrollen in dem "Europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts." Aber auch weitgehend unkontrollierte zentrale Datensammlungen im Schengener Informationssystem (SIS), die Planung von SIS II, in dem sich der Datenaustausch bis zu den Geheimdiensten erstreckt und eine eigene Datei von troublemakers aufgenommen werden soll. SIS II (1) ist nicht nur im Hinblick auf die Datenmenge eine quantitative Erweiterung, sondern bedeutet auch eine qualitative Veränderung. So ist z.B. geplant, die personenbezogenen Datensätze um Fotos, Fingerabdrücke, DNA und weitere biometrische Daten zu ergänzen. In Verbindung mit Gesichts- und Iriserkennungssystemen ließe sich damit die Identifizierung der überprüften Personen perfektionieren. Dazu soll der Kreis der Zugriffsberechtigten erheblich erweitert werden, nämlich u.a. auf Nachrichten- und Geheimdienste, Sozial-, Ausländer- und Finanzbehörden. Aber bereits das jetzige SIS wird in Richtung auf ungezügelten und unkontrollierten Datenaustausch erweitert. In einem internen Papier der Schengen-Arbeitsgruppe heißt es: "Über die Verwendung der SIS Datenbestände für anfänglich nicht vorgesehene Absichten, insbesondere für polizeiliche Informationszwecke im weitesten Sinn, herrscht ein breiter Konsens, der mit den Schlussfolgerungen des Rates aus den Ereignissen des 11.9. übereinstimmt." (2)
Der "breite Konsens", von dem die europäischen Polizeibeamten hier sprechen, ist selbstverständlich nicht das Ergebnis einer öffentlichen Diskussion und eines demokratischen Prozesses, sondern das Produkt geheimer Verhandlungen.
Auch der europäische Haftbefehl, der die bisherige Auslieferung durch ein vereinfachtes Verfahren ersetzt und davon ausgeht, dass "in gegenseitigem Vertrauen Entscheidungen wechselseitig anerkannt werden", greift massiv in die Rechte der Beschuldigten ein. Eine "europäische Verteidigung" ist nicht vorgesehen, insoweit funktioniert alles auf nationaler Grundlage, während sich die Justiz europäisch organisiert und kooperiert. Die künftige angestrebte europäische Staatsanwaltschaft EUROJUST ist seit Dezember 2002 in Den Haag ansässig und hat nach dem Umzug aus dem Provisorium in Brüssel nun mit voller Kraft ihre Arbeit aufgenommen. Ihre Zuständigkeit wird über den Schutz der EU-Finanzen hinaus erweitert werden, so dass etwa Terrorismus, organisierte Kriminalität und "grenzüberschreitende Delikte" hinzukommen. Der deutscher Vertreter bei EUROJUST, von Langsdorff, forderte auf dem Strafverteidigertag in Dresden im März 2003 die anwesenden Verteidigerinnen und Verteidiger auf, sich doch ein eben solches Netz wie EUROJUST, EUROPOL und das Europäische Justizielle Netz aufzubauen - was angesichts des bestens ausgestatteten europäischen Apparates nichts als zynisch ist.
Aber auch die Effektivierung von EUROPOL sowie die Umsetzung des europäischen Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 in nationales Recht schreiten voran. In der Bundesrepublik liegt der entsprechende Entwurf zur Verschärfung des §129a StGB - terroristische Vereinigung - bereits vor. (3) Er enthält eine erhebliche Erhöhung des Strafrahmens, "definiert" den Begriff "Terrorismus" analog zum EU-Rahmenbeschluss und ermöglicht die Kriminalisierung sozialer Bewegungen.
Über die innerhalb der EU entwickelten Maßnahmen hinaus, übrigens ohne parlamentarische Kontrolle, gibt es zahlreiche bilaterale Abkommen mit Nicht-EU-Mitgliedern, die teilweise sogar weit über die Kompetenzen innerhalb der EU hinausgehen. Zum Beispiel den Zusammenarbeitsvertrag zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik (4), in dem u.a. die Zwecke für grenzüberschreitende Einsätze erweitert worden sind und auch das Verfahren der Kooperation erheblich vereinfacht wird. Sowohl Verdächtige als auch Kontaktpersonen können observiert werden, aber auch zur Sicherstellung der Strafvollstreckung sind Observationen möglich.
Darüber hinaus existiert ein Heer von Verbindungsbeamten weltweit. Erst am 21. Januar 2003 (5) sind deren Befugnisse und Arbeitsweisen vom Rat der EU geregelt worden, wobei zugleich auch der unmittelbare Datenaustausch mit EUROPOL erleichtert wird. Die Verbindungsbeamten arbeiten weitgehend unbürokratisch und damit vor allem unkontrolliert und stellen so eine wertvolle Hilfe im Gesamtsystem dar. Aber auch mit paramilitärischen Sondereinheiten (6), vorgeschlagen im Jahre 2001 nach den Gipfeln in Göteborg und Genua von Bundesinnenminister Otto Schily, soll potenzieller Widerstand auf der Straße bekämpft werden. In Belgien ist erst kürzlich der Einsatz des Militärs in möglichen sozialen Auseinandersetzungen beschlossen worden. Gleichzeitig ist eine Verschärfung des materiellen Strafrechts in den einzelnen EU-Staaten zu beobachten, gerade unter dem Aspekt der Kriminalisierung sozialer Bewegungen. So wird in Italien ein "Black Bloc" anhand von Äußerungen im Internet konstruiert und schwarze Kleidung zum Verdachtsmoment. Aber auch die "Geheimbündelei" (Conspiracy), ein z.B. in Italien existierender Straftatbestand aus der Mussolini-Zeit, dient dazu, Personen aus sozialen Bewegungen zu kriminalisieren, wenn ihnen ein konkreter Tatvorwurf nicht gemacht werden kann. Dies haben zahlreiche Fälle in Italien zuletzt erst im November 2002 nach dem Europäischen Sozialforum gezeigt.
Teilweise werden die Strafprozesse, die sich gegen ausländische AktivistInnen richten, jedoch auch an die Herkunftsstaaten abgegeben. So werden weiterhin Verfahren gegen Deutsche in der Nachfolge des Gipfels in Göteborg in der Bundesrepublik verhandelt und die Beschuldigten in Deutschland angeklagt. Die Verteidigung ist in solchen Verfahren erheblich behindert: Ohne konkrete Kenntnisse der polizeilichen Strukturen, Arbeitsweisen, örtlichen Verhältnisse und der konkreten Belastungszeugen ist ein solches Verfahren hier kaum zu führen.
Wie Gegenmacht entsteht
So stellt sich die Frage, wie eine Gegenmacht im Bereich der Anti- Repressionsarbeit aufgebaut und organisiert werden kann. Die verschiedenen Gipfelereignisse der letzten Jahre zeigen teilweise unterschiedliche Organisationsformen und vor allem Zielrichtungen der Legal Teams. Einige Beispiele:
September 2000 in Prag
Anlässlich der Tagung des Weltwährungsfonds und der Weltbank hatte sich unter "Anleitung" der amerikanischen Organisation National Lawyers Guild ein Legal Team gebildet, bestehend vor allem aus JurastudentInnen und interessierten Einzelpersonen. Einsatzfeld war der erste Rechtsschutz für die tschechischen und ausländischen DemonstrantInnen bei Festnahmen vor und während der Demonstration und an den Grenzen bei der Einreise. Es wurden besonders gekennzeichnete BeobachterInnengruppen gebildet, die während der Demonstration auf der Straße waren. Ihnen ging es darum, eine "unparteiische" Beobachtung und Dokumentation der Ereignisse - also Übergriffe der Polizei sowie Tränengaseinsätze und Einkesselungen - zu gewährleisten. Gleichzeitig ging es aber auch darum, vor Ort zwischen DemonstrantInnen und Sicherheitskräften zu vermitteln und Eskalationen zu vermeiden.
Dezember 2000 in Nizza
Die seit 1995 aus AktivistInnen bestehende Gruppe Collectif d'Aide aux Manifestant(e)s Interpellé(e)s (CAMI) bietet im Internet einen juristischen Leitfaden für die festgenommenen DemonstrantInnen und klärt über die verschiedenen Polizeieinheiten und deren Taktiken und Techniken auf. (7) Die Gruppe ist eingebunden in die sozialen Bewegungen und Teil von ihnen. Die Struktur ist informell und arbeitet mit AnwältInnen zusammen, die nicht der Gruppe angehören.
Dezember 2001 in Laeken
Nach den Ereignissen von Genua im Juli 2001 bildeten eine Gruppe von Anwältinnen und eine Gruppe von Jurastudentinnen bzw. anderen, die entsprechend juristisch fortgebildet wurden, das Legal Team. Die Aufgaben bestanden darin, an der Landesgrenze gegen die Behinderungen der DemonstrantInnen bei ihrer Einreise bzw. bei Zurückweisungen juristisch dagegen vorzugehen; dazu wurden Eilanträge zur Intervention bei den Verwaltungsgerichten vorbereitet. Während der verschiedenen Demonstrationen wurde durchgehend die unentgeltliche juristische Unterstützung der Festgenommenen gewährleistet. Gleichzeitig waren Beobachtergruppen auf der Straße präsent, die u.a. auch eine Vermittlerrolle zwischen den OrganisatorInnen und den Sicherheitskräften übernahmen.
März 2002 in Barcelona
Das Legal Team war hier von einer Gruppe von AnwältInnen organisiert, die durchgehend in den Räumlichkeiten der Anwaltskammer präsent waren und die dort vorhandene Infrastruktur nutzten. Die Gruppe war aus katalanischen, belgischen, holländischen und deutschen AnwältInnen zusammengesetzt, die eng mit einer Gruppe von AktivistInnen zusammenarbeitete. Auch eine Präsenz an den Grenzübergängen war gewährleistet.
Juli 2002 in Straßburg
Das Legal Team bei diesem no-border- camp bestand ausschließlich aus AktivistInnen, die juristisch vorbereitet waren und alle Aufgaben übernahmen. Erst nach Inhaftierungen, wenn den AktivistInnen der Zutritt verweigert war, wurden vorher ausgewählte AnwältInnen eingeschaltet, die bei den richterlichen Vorführungen die Verteidigung übernahmen und die Festgenommenen im Gewahrsam aufsuchten. Ein Leitfaden in verschiedenen Sprachen wurde im Internet zur Verfügung gestellt, in dem bezogen auf das Verhalten bei Aktionen und Demonstrationen, aber auch im Hinblick auf die spezifische Situation der ausländischen und der "illegalisierten" TeilnehmerInnen des Camps Informationen zur Verfügung gestellt wurden.
Fragestellungen für ein internationales Netzwerk von Legal Teams
· Die Schaffung eines europäischen Legal-Team-Netzwerks ist ein wesentlicher Schritt, um der Europäisierung der Repression nicht mehr nur auf nationaler Ebene entgegen zu treten. Allerdings zeigen die obigen Beispiele bereits ein sehr unterschiedliches Selbstverständnis. Die bisherigen Aufgabenbereiche lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
· Recherche und Dokumentation der aktuellen Entwicklungen von Richtlinien, Rahmenbeschlüssen etc. auf europäischer Ebene,
· Intensivierung des Austauschs der AnwältInnen und AktivistInnen in Europa über die jeweiligen nationalen Gesetze und Entwicklungen eines effektiven Rechtsschutzes gegen Repressionsmaßnahmen, wie z.B. Anträge beim Europäischen Gerichtshof gegen die Be- und Verhinderung der Teilnahme an Demonstrationen,
· Koordinierung der Demonstrationsbeobachtung,
· Unterstützung/Aufbau der Legal Teams vor Ort und Entwicklung der Kooperation der Legal Teams untereinander,
· Erstellung einer zentralen Internetseite mit allen notwendigen mehrsprachigen Informationen über die jeweilige Situation in dem jeweiligen Staat, in dem der Gegengipfel statt findet.
Für die zukünftige Arbeit und den Aufbau effektiver Legal Teams ist jedoch eine grundsätzliche Debatte über die verschiedenen Ansätze zu führen, und ich möchte an dieser Stelle einige der Fragestellungen skizzieren:
· Ist die "unabhängige" Beobachtung von Demonstrationen eine Aufgabe der Legal Teams, insbesondere der AnwältInnen, und soll eine Vermittlerrolle zwischen OrganisatorInnen und Sicherheitskräften übernommen werden, oder dient eine solche scheinbar "unparteiische" Mediatorenrolle der Rechtfertigung von Polizeieinsätzen, wenn sie sich z.B. gegen "Gewalttäter" richtet?
· Ist die Anwaltschaft aus standesrechtlichen Gründen an einem Einsatz auf der Straße gehindert, und ist qua Selbstdefinition der Platz der Anwaltschaft nicht auf der Straße, sondern im Büro?
· Bezieht das Legal Team eine inhaltliche Position zu den verschiedenen Veranstaltern bzw. verschiedenen Aktionsformen oder ist das Legal Team für alle linken Aktionen und Demonstrationen zuständig, unabhängig von den Vorwürfen und den politischen Standorten der AktivistInnen?
· Welche Rolle sollen die AnwältInnen in den Legal Teams übernehmen, und wie ist das Verhältnis zu den AktivistInnen?
· Sollen die Legal Teams sich mit den permanenten neuen Entwürfen und Entwicklungen von Richtlinien, Ramenbeschlüssen und Verschärfungen des Repressionsapparates beschäftigen, oder ist es verlorene Zeit, insbesondere wenn bereits existierende Gruppen wie z.B. Statewatch daran arbeiten?
· Arbeiten die AnwältInnen nicht nur im Moment des ersten Zugriffs, sondern auch bei der Übernahme der Verteidigung unbezahlt, oder gehört zur Anti-Repressionsarbeit der sozialen Bewegungen auch, dass die Kosten für die anwaltliche Arbeit gemeinsam getragen werden?
· Sollen die Möglichkeiten, die das Recht bietet, im Interesse der sozialen Widerstandsbewegungen genutzt werden? Oder handelt es sich letztlich um das Recht und die Repressionsinstrumente der Herrschenden, und begibt man sich systemimmanent auf eine Ebene, die gleichzeitig immer dazu dient, die sozialen Widerstandsbewegungen in ihren Handlungsspielräumen zu beschränken? Oder bewegt man sich so in einem ständigen Kompromiss?
Vorläufiges Ergebnis
Die Organisierung von effektiv arbeitenden Legal Teams auf europäischer Ebene hat gerade erst begonnen und wirft in der praktischen Umsetzung, der Aufgabenbestimmung und des Selbstverständnisses noch viele Fragen auf. Das Kolloquium in Berlin soll dem Austausch anhand der verschiedenen Erfahrungen der bisherigen Legal Teams dienen und der Weiterentwicklung einer wirksamen Anti-Repressionsarbeit in Europa.
1) Vgl. Europäischer Rat 2002: "New Functions of the SIS II" (Document 5968/02 Limite, 5. Februar), Brussels.
2) Vgl. Council of the European Union; 15525/02 sowie Jelle van Buuren "Überwachen und Schengen". In: Le Monde Diplomatique (Nr. 7004), 14.3.2003 (unter: http://www.no-racism.net/migration/sis_ueberwachung270303.htm).
3) Vgl. Bundestagsdrucksache 15/813.
4) Vgl. Bundestagsdrucksache 14/5735.
5) Vgl. Council of the European Union; 15525/02.
6) Vgl. http://www.statewatch.org/news/2001/oct/01paramilitary.htm.
7) Vgl. http://www.vertsmp.free.fr/presse/guide_du_manifestant.htm.
Literaturauswahl
- Beschluss des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von EUROJUST (ABlEG L 63/1, 2002/187/JI, 6. März 2002).
- Bürgerrechte & Polizei/CILIP (unter: http://www.cilip.de), insbesondere die Hefte 2/2001, 2/2002, 3/2002, die online verfügbar sind.
- Der Strafverteidiger (Sonderbeilage 2003, Heft 2).
- Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), hier insbesondere die Aufsätze: "Der europäische Staatsanwalt" (2002), 393ff; "EUROPOL" (2001), 623ff; "Europäische Kooperation im Bereich der Strafrechtspflege" (2001), 617ff; "Nationale Strafverfolgung und Europäische Beweisführung" (2003), 113ff sowie das Schwerpunktheft (2002, Nr. 12) "Internationales Strafrecht".
- Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den europäischen Haftbefehl (ABlEG L 190/1, 2002/584/JI vom 18. Juli 2002).
- Statewatch (unter: http://www.statewatch.org); Statewatch verfügt zudem über ein teilweise kostenpflichtiges Datenbankportal (SEMDOC) mit hilfreichen Informationen (unter: http://www.statewatch.org/semdocfree/fulllist.html).