2009-10-10 

Reflexionen zum Berufungsurteil über das G8 in Genua 2001

Der nicht komprimierbare Widerstand des Seins

von Luca Casarini

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte für alle die Verdoppelung der Strafe beantragt. 208 Jahre für 25 Leute. Durch Umwandlung sämtlicher Beschuldigungen in “Verwüstung und Plünderung” hätte man bei jenen, deren Verurteilungen in der ersten Instanz auf der Grundlage der Straftatbestände Woderstand, Körperverletzung und Sachbeschädigung zustande gekommen waren den nahe rückenden Ablauf der Verjährungsfristen umgehen können. Jenseits des technischen Aspekts, logischerweise auch eine politische Angelegenheit, die ganz dem Willen dieser anklagenden Richter entspricht, das Strafkonstrukt gegenüber jene, die als Sündenbock für die Ereignisse in Genua ausgesucht wurden, zu erhalten und zu verstärken, wobei selbiges in einem Punkt verschärft wurde: die volle Negation jedweden sich aus der von den Korps des Staates in Genua willkürlich ausgeübten Gewalt ergebenden “mildernden Umstands”. Noch viel mehr zielt man mit dieser Intention darauf ab, die Ereignisse vollständig voneinander abzukoppeln: Die Diaz-Schule von den Straßenkämpfen, Bolzaneto von Massaker auf der Küstenpromenade, die Angriffe auf die Demonstration aus dem Carlini-Stadion vom Widerstandf der Demonstranten. Sozugen dahingehend, dass keinerlei Rechtfertigung und keinerlei kontextuelle Implikationen es gestatten, gegen das Gesetz zu verstoßen.

2001

Das heutige Urteil hat sich nicht auf die Annahmen im Sinne dieser Herangehensweise gestützt. Sicher: die zehn extrem harten Strafen erhöhen die Zahl der Jahre, die Personen, die “Sachen”, und nicht Menschenleben beschädigt haben, im Knast absitzen sollen. Das ganze liegt in der gleichen Spur, der sich das erstinstanzliche Urteil folgte, das Gewicht der Sanktion bstätigt und unterstreicht es um so mehr. Dieser Teil des Gerichtsurteils ist für die Absurdität beispielhaft, die in einer Anwendung des Stragsetzbuches liegt, als sei dieser das Evangelium (sagen wir das den zurzeit umher schweifenden Fürwortern der Justiz ruhig ganz offen), unter Ausschluss der Berücksichtigung von Umständen, Kontext und vor Allem der Folgen: Die Neonazis, die in Verona Nicola Tommaseoli 1 zu Tode geprügelt haben, kamen mit weniger davon.

Nach diesem Urteil, kann Sachbeschädigung gleich wie Töten sein. Eine offensichtliche Absurdität, die, nebenbei bemerkt, vom ersten Moment an der Wahl des den Angeklagten vorgeworfenen Vergehens “Verwüstung und Plünderung” inne wohnt.

Im zweiten Teil des Urteils aber – dem, der 15 weitere Positionen betrifft – verbleibt man nicht nur in der Spur des erstinstanzlichen Urteils, sprich, der des Zugeständnisses an die Demonstranten auf der Via Tolemaide, die in Artikel 4 vorgesehene Diskriminante gelten zu lassen, derjenigen nämlich, die sich auf die Illegitimität der Angriffe auf die Demonstration aus dem Carlini-Stadion bezieht: man fügt sogar mildernde Umstände hinzu, die im Verhältnis zu den erschwerenden “überwiegen”, wodurch das Greifen der Verjährung des Vergehens ermöglicht. Verjährung, die auch materiell die Tilgung des Vergehens bedeutet und damit die Auswirkungen von gefährlichen Vorstrafen annulliert. Auch diese ist – ebenso wie die Entscheidung, die Strafmaße für die der Verwüstung angeklagten Demonstranten zu erhöhen – eine politische Entscheidung. Wie aber konnen wir ein Urteil wie dieses “nutzen”? Wöfür steht es, also? Logisch, das erste, was einem dazu einfallen könnte ist – und das ist legitim und korrekt – dass der Staat nicht nur sich selbst – besonders in Form der separaten Abteilungen, die das Monopol der Gewaltanwendung betreiben – den Prozess nicht machen wird – das ist weder im Zuge der Stragi 2 noch bei anderen niederträchtigen Übeltaten passiert – sondern auch, dass er nicht bereit sein wird, auf Racheakte gegen jene zu verzichten, die dieses Prinzip in Frage stellen.

Die, die glaubten, dass parlamentarische Untersuchungsausschüsse und nationale wie supranationale Gerichtshöfe die Antwort auf die statuale Gewalt in Genua darstellen könnten, irrten. Der Grund für den Freispruch De Gennaros und der Spitzenränge der Polizei und für das Nicht-Verfahren wegen der Ermordung Carlos liegt allain darin: in der Unmöglichkeit, den Staat dabei zu erleben, wie er sich selbst den Prozess macht. Zudem entscheiden die selben Richter, die 15 Jahre wegen des Vorwurfs, irgendetwas beschädigt zu haben, 15 Jahre verhängen, diejenigen, die beschuldigt waren, auf der VIa Tolemaide Widerstand geleistet zu haben, in den Genuss der Verjährung kommen zu lassen. Warum? Sind sie dissoziierte Schizophrene, oder haben sie sich in einem gigantischen Widerspruch verstrickt wiedergefunden? Ich glaube an die zweite Möglichkeit, und nicht, weil hier über “radikale” Verhaltensweisen auf der einen und über “gemäßigte” Verhaltensweisen auf der anderen geurteilt wird.

Die Versuche, den Ungehorsam, der auf der Via Tolemaide sein Recht auf Widerstand aufgrund des Angriffs der Carabinieri ausgeübt hat, zu einem schlichten “kriminellen” Verhalten zu zwängen, haben nicht funktioniert. Sie haben es versucht – Beweis dessen sind die Strafanträge der Generalstaatsanwaltschaft in dieser Berufung. Jener Artikel 4 aber – die Illegitimität der Polizeiübergriffe – hat es verhindert. Noch mehr: die Tatsache, dass die massenhaften illegalen Verhaltensweisen mit jenem Umstand in Zusammenhang gebracht wurden hat den Richter gezwungen, sowohl formal als auch de facto, den politischen Raum anzuerkennen, den jene Demonstration in Genua erobert hat. Und nicht nur. Die Haltungsdiversität der Richter ist, wie wir besprochen haben das Ergebnis einer politischen Tatsache. Einmal die vollständige Nicht-Prozessierbarkeit jeden einzelnen Angeklagten in jenem verfluchten Verfahren festgehalten und unabhängig von den seitens der Anklage unterstellten Straftaten, die dürftig belegt sind und jedenfalls schändlich sanktioniert wurden, gibt es auch vom Standpunkt der Bewegungen aus eine politische Tatsache, die zugegeben werden solte.

Die Entscheidung in der Bewegung zu sein und nicht darüber, daneben, oder sonstwo, ist sakrosant und richtig gewesen. Die Entscheidung der Demonstration aus dem Carlini-Stadion, trotz Beibehaltung der eigenen Autonomie, ein Teil vom und nicht eine Alternative auf das Genoa Social Forum zu sein, hat sich als grundlegend heraus gestellt. Es verstanden zu haben, eine Interpretation des Raumes und der Formen des Konflikts, die geeignet waren, die Beziehungen zwischen Vielen und Unterschiedlichen aufrecht zu erhalten, ist kein Zustand der Reduktion oder Einschränkung gewesen, sondern die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass das Recht darauf, gegen die Gewalt des Staates Widerstand zu leisten, unter Zustimmung der Allgemeinheit unter Jahren der Inhaftierung begraben würde. Diese Dinge besagt das Urteil auch. Und ich glaube, dass es sowohl in der Gegenwart, als auch in der Zukunft, nützlich sein kann.

Die Radikalität misst man am Grad von Krise, die wir es vermögen, dem Staat zu verschaffen, in dem wir verhindern, dass er uns isoliert, dass er uns erscheinen lässt, wie Kriminelle, und uns schließlich eine Krise verpasst. Es bleibt – und das, für jeden, der ein Befürworter rechtstaatlichen Garantismus und Demokrat ist, die Widerlichkeit dieser Verurteilungen. Aber auch die Lektion mit den Verjährungen.

Von hier aus müssen wir uns, jeder, wie er meint, unsere Wege finden und uns wieder in Bewegung setzen.

1 Siehe: http://aka.blogsport.de/2008/05/06/in-verona-von-nazis-erschlagen. Zwei der Täter wurden zu jeweils 14, einer zu 12 und einer zu 10 Jahren Haft verurteilt. Ein fünfter wurde frei gesprochen. Er erhielt lediglich eine Bewährungsttrafe (16 Monate), weil er kurz bevor es zur Tötung Tommasolis kam, eine Punk angegriffen hatte.

2 Stragi di Stato = Staatsmassaker, wie die von italienischen Neofaschisten mit – wie inzwischen erwiesen ist – tatkräftiger Unterstützung und Anleitung durch Geheimdienste und CIA verübten Attentate und Massaker der 60er und 70er Jahre in Mailand, in Brescia und im Schnellzug von Florenz nach Bologna und andere, von der Mafia verübte
Ansachläge.