2009-07-15 

Die Motive der Welle und der Hüter der Republik

Nachreflexionen über eine eigentlich “anomale” Aktion

10. Juli 2009

Wir versuchen, einige Tage nach der Operation “Rewind” eine krampflose und ruhige Reflexion über Sinn, Ziel und Adressaten des neuen Werbetrailers des institutionellen Trios Regierung-Staatsanwaltschaft-Ordnungskräfte, die, oft sie auch an entgegengesetzen Ufern stehen, heute in frisch erneuerter Eintracht gegen den gemeinsamen Feind, der einmal mehr in den Bewegungen ausgemacht wird, vereint sind.

Die Bewegungen bedanken sich und finden sich in der Dichotomie wieder: auf der einen Seite, die Bewahrer der bestehenden Ordnung. Auf der anderen, jene, die demütig und hartnäckig, aber mit größter Freude versuchen, im Zeichen des Wandels zu agieren. Was bestreben der Innenminister und die Turiner Staatsanwaltschaft mit dieser neuen Groß-Operation? Warum so viel Verbissenheit und mediale Deckung bei einem (eigentlich) ganz normalen Repressionsmanöver?

In dem Zeitalter, in dem Politik (größtenteils auch) Kommunikation ist, wird die Blitzaktion auf nationaler Ebene koordiniert, wie bei den spektakulärsten Aktionen der Mafiabekämpfung. Die Zutaten wären alle vorhanden: angefangen bei dem Protagonisten, dem Helden, seiner Heiligkeit Caselli (1), für den die “Gewalttaten im Voraus geplant waren”, von “300, die zu Allem bereit”, und “paramilitärisch organisiert waren” (2). Man könnte glatt darüber lachen, wenn nicht die Freiheit von 21 jungen Leuten auf dem Spiel stünde.

l onda non si arresta pisa 20090710

Caselli: “genetische Mutation” oder ewige Rückkehr des Immergleichen?

Die politische Ausrichtung der Operation ist gerade durch das öffentliche und unvermittelte Antreten einer allerheiligsten Gestalt der legalitären und impotenten, die Magistratur (3) wie Viagra einsetzenden Linken, die den Kampf gegen Berlusconi auf die obszöne Praxis des Voyerismus reduziert. Also hebt sich der Vorhang für den Staatsanwalt Caselli, ein von oben herab für die Besiegelung der unantastbaren Güte und Richtigkeit eines Manövers der politischen Repression und der sozialen Einschüchterung durch das letzte segnende Wort gesenkter Hut.

Um die Inszenierung auszuschmücken, setzt der Staatsanwalt sogar eine sonst muffige und bürokratische Sprache auf produktive Weise ein. Jene Subjekte, die in Turin auf die Straße gingen, seien für den sozialen Körper gefährliche Mutanten, da sie an einer gerade stattfindenden “genetischen Mutation” erkrankt seien. Es mutet wie die Synopse von “Die Dämonischen” (4) an, einem bekannten amerikanischen Science-fiction Streifen der 50er Jahre, in dem der alien mutant agent nichts anderes als die filmische Übertragung der “roten Gefahr” ist, gegen die der McCarthismus zur öffentlichen Denunziation aufrief (und tatsächlich maßt sich die Operation an, die bösen “Mutanten” zu treffen, um die guten Demonstranten zu schützen). Der Staatsanwalt dürfte ein ganz passabler Cineast sein, der oft genug die “Rewind” Taste gedrückt hat.

Wer aber ist, und was will dieser kleine Mann (wir meinen die moralische, nicht die körperliche Statur), der sowohl ein Meister der Vorzeigbarkeit ist, als auch ein Meister realer Misserfolge auf dem Feld, auf dem er einem Nationalhelden gleich heilig gesprochen wird: dem, der Mafiabekämpfung. Der Staatsanwalt Caselli liebt Don Ciotti (5) (Inhaber eines Multis des sozialen) und die jungen Sprösslinge der Antimafia-Verbände (die Sprungbretter für Karrieren in der institutionellen Politik sind) aber ganz besonders unterlässt er es nicht (wenn es was bringt – für Kleingekeiten bewegt er sich nicht, der Staatsanwalt) die jungen Leute zu prügeln, die sich wirklich für Veränderung und Wandel schlagen – und hierfür vielleicht auch bereit sind, manches Risiko einzugehen.

Wo sind Caselli und seine Kollegen, wenn es darum geht, strukturell in den Ganglien, die Herde der Reproduktion und Vermehrung der mafiösen Wirtschaft sind, einzugreifen: den Sesseln der öffentlichen Verwaltung, die Schnittstelle und Tauschware der legalen illegalen Wirtschaft ist; im Immobiliengeschäft und in der Renditenwirtschaft, einem nicht uneigennützigen Betätigungsfeld von vielen öffentlichen Verwaltern; im großen Deal mit der Müllentsorgung und dem daraus resultierenden Bau von vielen Verbrennungsanlagen? Nein. viel eher ist es stattdessen möglich, dass der gute Caselli und seine Kollegen auf der Ebene gegen jene vorgehen, die sich in den Territorien organisieren, um sie zu verteidigen, wie es sicher jener compagno aus Neapel (6) tat, der gewiss auch im Kampf von Chiaiano (7) engagiert war.

Möglicherweise ist das dem guten Caselli letzlich jedoch alles ziemlich Schnuppe. Ihm, dem kleinen Mann, liegt besonders viel daran, seine Brötchen zu verdienen (und was für welche!), weiter die Edelclubs in der Stadt zu besuchen, mit den Entschiedern aus den starken Machtinstanzen zu dineren, das Häuschen in den Bergen und das Boot im Hafen zu unterhalten, den braven Kindern der legalitären Linken väterlich auf die Schulter zu klopfen und den Riegel für die, die an ihrem Platz nicht bleiben können vor zu schieben…

Alles in Allem ist dies das Profil dieses schäbigen Inquisitors: schwach mit den Starken, stark mit den Schwachen. Die Hörner hat er sich (auf der Haut Anderer) in den 70er Jahren abgestoßen, mit der Repression der sozialen Bewegungen, als er auf die These einer KPI (8) einging, nach der alles, was links von ihr lag, bewaffneter Kampf war, und sich diese zu eigen machte. Es waren die Zeiten, in denen die Partei die von den Schneidermeistern Berlinguer und Moro zugeschnittenen Linie des Compromesso Storico (9) vorgab. Selbst wenn Julius (10), der Verbündete bei der Erhaltung des Systems, hinter den Kulissen von damals zu stark und unantastbar war. Einige Jahre später, als alle es auf Andreotti abgesehen hatten, mischte er gleich mit. Nach Jahren der Arschkriecherei, kam die Zeit der Wendehälse und der Verfolgung. Was für ein miserables Profil!

Kaum hatte er seine spärlichen Resultate bei der Bekämpfung der OK gemacht, war er schon (mit höchster Auszeichnung – der Staat zollt seinen Dienern Dankbarkeit) zum Generalstaatsanwalt von Turin befördert.

Die Zielsetzungen der Operation: Selbstschutz, Abschreckung, Konstrukte-Produktion

Das Portrait des göttlichen Staatsanwalts bei Seite (wir haben schon viel zu viel darüber geredet!), lohnt eine Beschäftigung mit den Implikationen und Zielsetzungen der Aktion dieser Tage gegen die Welle.

Von mehreren Seiten wurde darauf hingewiesen, dass sich hinter der öffentlichen Kampagne der jüngsten Zeit gegen die Laster des Cavaliere (11) der Wille von einigen Teilen der heimischen politischen Klasse und der durch diese vertretenen Machtinstanzen verbergen könnte, mit Berlusconi Schluss zu machen, um die Ehrbarkeit eines weit über die Missetaten des Cavaliere strukturell durch und durch faulen Systems zu retten. Eine Art Revolution von Oben, in der Tradition von Mani Pulite (12), nach der italischen Tradition, die besagt, dass, um gar nichts zu verändern, alles verändert gehört. Protagonisten und Darsteller des “neuen Kurses” müssten also zuallererst in der Lage sein, sich als unanfechtbare Vollstrecker der Staatsräson darzustellen (die Anmerkung ist angebracht, dass die authentischsten Produkte der Mani Pulite Angelegenheit die Geburt von Forza Italia (13) und die politische und soziale Etablierung der Lega Nord (14) als neue und jüngste Massenpartei waren). Die Verfolgungs-Operation gegen die Welle müsste dann als erstes Exempel dieser Fassadentransformation verstanden werden. Eine interessante These, über die weiter nachgedacht werden darf, während man versucht, die von den oberen Etagen ersonnenen und von einem populistischen und fern(seh)gesteuerten Konsens flankierten Schachzüge vorauszusehen und diesen zuvor zu kommen.

Von unserer Seite sind wir jedoch den Verführungen verschwörungstheoretischer Erzählweisen kaum geneigt. In ihrer Erbärmlichkeit (zu der heute auch noch die Unfähigkeit zur Weitsicht und zur Entwicklung von Entwürfen) ist die Institutionelle Politik oft viel einfacher gestrickt und kurzbeinig (und kurz-sichtig). Sollte es der Fall sein, dass derlei Überlegungen sich also als fruchtbar und weitsichtig erweisen sollten, so wird dies vielleicht in Bezug auf einen umfassenderen systemischen Rahmen gelten.

Bezüglich der Evaluation der Zweckmäßigkeiten dieser Operation aber scheint uns, dass drei Ebenen ausgemacht werden können.

Auf der Ebene der ganz kurzfristigen Anlassbezogenheit (auf die sich die Politik als Kommunikation reduziert) ging es darum, termingerecht zum G8 ein “Resultat” zu produzieren – mit zweifacher Zielsetzung: einerseits, die Abschreckung der Bewegungen, die im Aufbruch nach L’ Aquila waren (Sichtweise der Bewegungen), andererseits, “die Hinderung der Randalierer an der Organisation von neuen Auseinandersetzung” (polizeiliche Sichtweise). Wenn die präventive und repressive Zweckmäßigkeit außer Zweifel steht, so verbirgt sich hinter dieser Interpretation eine vereinfachende und karikaturhafte Vorstellung der Bewegungen und der Subjekte, die sie beleben. Als ob der Grad des Konfliktgehalts eines Events von 21 (oder 300, das ist egal) gut identifizierbaren und in die vaterländischen Knäste eingrenzbaren Subjekten abhängen würde. Die Ereignisse in jenen Tagen beweisen viel mehr das Gegenteil: nämlich, dass das Wesen eines Protestes, einer Revolte, einer öffentlichen Bekundung von Dissens hingegen in ihrer Fähigkeit liegt, sich zu häuten, sich ein Stückchen weiter weg zu reproduzieren, Form und Geografie zu ändern. Selten sind sie am Reißbrett voraussehbar (wie die Experten in den Polizeizentralen recht anmaßend meinen).

Andererseits (was uns als der effektivste und produktivste Aspekt erscheint), geht es darum, dem Land, seinen Machtinstanzen sowie der schweigenden Mehrheit, die diese durch die passive Ausübung des Wahlrechts aktiv unterstützt zu zeigen, dass die Polizia di Stato arbeitet und Resultate produziert. Ein Spot zur Eigenwerbung im Kontext jenes größeren Mega-Werbespots, der dieser surreale und gleichzeitig schaändliche G8 ist. Der Erste ist ebenso sinnlos wie der Zweite, wobei die sozial wenig anerkannte Legitimität von verdorbenen und im Grunde nutzlosen Institutionen aber, in der Öffentlichkeit gefeiert wird: ein G8, der durch die Krise, die gerade im Gange ist, überholt wurde und eine Polizia di Stato, die dazu fähig ist, einen kolossalen Apparat und seine ganz schweren Kaliber zu mobilisieren, um 21 Studenten zu verhaften. Diese werden mit einigen Wochen Haft davon kommen. Mit den Aquilanern aber, wird gerade auf dem Gebiet der Kontrolle und der Masseninternierung experimentiert, um, auch in jener Provinz, die Produktivität der Shock Economy auszutesten.

Auf mittelfristiger Ebene geht es hingegen um das für Polizeizentralen immer aktuelle Bedürfnis, die neuen sozialen Subjekte einzuschüchtern, die persönlich und ohne Mittler erste Schritte auf der sozialen und politischen Bühne machen – oft mit der vollen Ladung Enthusiasmus und Protagonismus, die den Bewhrern des Bestehenden, wegen der prekären Gleichgewichte desselben, nicht wenige Sorgen bereiten.

Im Angesicht einer Krise, die keine Anzeichen einer Umkehr aufweist, lässt die Radikalität, zu der die Welle in einigen Situationen fähig gewesen ist, der gesamten hierarchischen Kette des Innenministeriums (angefangen bei Maroni bis zum letzten Kiezpolizistchen) wegen einer potenziellen Generalisierung der Konfliktpraktiken, Angst und Bange werden.

Auf dieser Ebene wird der gute alte systemische Einsatz der vorbeugenden Verwahrungsmaßnahme als politisches Mittel der Abschreckung wieder entdeckt. Zahlreiche Verfahren verfallen, Anklagekonstrukte stürzen jämmerlich ein. Jene aber, die es gewagt hatten, den Kopf zu erheben, sitzen eine Weile in Haft oder baden andere “vorbeugende” Maßnahmen aus (Hausarrest, Meldeauflagen, Wohnsitzbindung usw.).

Wir vermuten eine dritte Ebene für künftigen inquisitorischen Gebrauch. Und es ist der, der sich unterschwelllig abzeichnet, wenn man die logischen Schlüsse aus einigen Andeutungen des Staatsanwalts zieht. Man lässt nämlich durchblicken, dass die, die verhaftet wurden, letztlich nicht die “echten” Demonstranten sind, sonder vielmehr, “Profis der Auseinandersetzung”, “Unterwanderer”, “Mutanten”… Der Sprachschatz bedient sich vollmundig des gewaltigen Repertoires der Sinistra-di-Stato (15), jenes, nach dem alles, was sich ihrer Kontrolle entzieht, in die Sparte “Provokateure” abgelegt gehörte (einst schrieben sie: “Wer bezahlt sie?”, heute wissen sie nicht einmal, wo sie heimliche Geldgeber und Drahtzieher finden sollen).

Im speziellen Fall des 19. Mai ging es darum, die Nichtzugehörigkeit der Verhafteten zum Studentendasein zu beweisen und, im weiteren Sinne, der 300 zu Allem bereiten zur Mehrheit im Demonstrationszug. Keine der beiden Operationen scheint aber funktioniert zu haben.

Sie sind keine Studenten!

Das ist die Rechtfertigungsleier, die im Hintergrund der Operation “Rewind” steht. Zählt man aber nach, sind 15 oder 16 der 21 von den vorbeugenden Maßnahmen betroffenen Personen Studenten, also 3/4 von ihnen – obwohl wir nicht interessiert sind, auf dieser Ebene zu argumentieren. Wenn wir aber berücksichtigen, mit welchem Repräsentativitätsgrad Regierende, öffentliche Verwalter, Branchenvertreter, Gewerkschaftsvertreter, Studentenvertreter gewählt werden, ist es jedoch ein sehr wohl signifikanter Prozentsatz.

Nimmt ein Student an eine Arbeiterdemonstration Teil, so werden seine solidarischen Qualitäten und sein Altruismus gelobt. Warum soll ein Arbeiter oder ein Arbeitsloser nicht an einer Studentendemonstration teilnehmen dürfen?

Die wirkliche Frage scheint uns jedoch eine andere zu sein, die weit tiefgründiger und dringlicher ist: was ist heute ein Arbeiter, was ein Student? Ist eine scharfe Trennung von sozialen Gestalten in immer stärker überlagerungsfähigen Wirklichkeiten mit unscharfen Konturen noch möglich? Worüber reden wir, wenn wir von Prekarität sprechen? Ist sie heute nicht die existenzielle Situation eines handfesten und breiten Teils des gesamten sozialen Körpers?

Kraft und Intelligenz der Welle hatten auch aus dem Vermögen bestanden, eine Synthese der Bedürfnisse und Instanzen eines multiformen, fragmentierten, jugendlichen und nicht jugendlichen Subjekts herzustellen, das sich in der programmatischen Parole wiedererkennen konnte: “Wir bezahlen sie nicht, die Krise!”.

Die “genetische Mutation” ist also nicht so sehr die der zu Paramilitärs mutierten Demonstranten, sondern vielmehr, die der zeitgenössischen Zusammensetzung der Arbeit und lebendigen Wissens. Männer und Frauen, die zur gleichen Zeit Studenten sind, fest angestellte Arbeiter, wiederholt arbeitslos, immer prekär (technische Zusammensetzung). Aber auch: Aktivisten der welle, Militanti der sozialen Zentren, Medienaktivisten, Männer und Frauen, die sich bei der Verteidigung ihres Territoriums engagieren, unkonventionelle Nutzer der Gewerkschaft als schlichtes, durch deren Gebrauchswert bestimmtes Instrument (politische Zusammensetzung).

Versuchen wir, mit großer Natürlichkeit, den typischen Werdegang dieses zeitgenössischen Mutanten nachzuzeichnen. Wenn das Subjekt, von dem die Rede ist, auch nur ansatzweise intelligent und mit Neugier, für das, was ihn umgibt, ausgestattet ist, kommt es dazu, dass er oder sie an der Universität in die Welle involviert wird. Innerhalb der Versammlungsdynamiken wird er oder sie eine oder einen Artgenossen oder Artgenossin treffen, der oder die auch in einem sozialen Zentrum verkehrt. Ist es eine Frau (oft aber auch, wenn es ein Mann ist) wird sie sich die Kampf- und Widerstandsinstanzen gegen die Attacken der Regierung auf dem Gebiet der Fortpflanzung zu eigen machen (Abtreibung, künstliche Befruchtung); lebt er oder sie in einer Großstadt, wird er oder sie leicht in den Kämpfen zur Unterstützung der Migranten involviert sein, der Hausbesetzer oder dessen, was sich lokal bewegt. Wenn er oder sie in Turin lebt, studiert oder arbeitet, wird er oder sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit für die Gründe des Kampfes der No Tav (16) erwärmen. Ist er oder sie in Neapel, wird er beim Präsidium (17) in Chiaiano verkehren (18). In Bologna wird er oder sie keine Gelegenheit auslassen, sich gegen einen Cofferati (19) (heute Del Bono), der jede und jeden räumen lässt und sogar verbietet, dass man auf der Straße ein Bier trinkt zu kämpfen. In Venetien wird es für sie oder ihn normal sein, als nicht passiver Zuschauer oder als nicht passive Zuschauerin der durch den Globalen Krieges verursachten Desaster an den Mobilisierungen gegen den neuen Stützpunkt Dal Molin (20) Teil zu nehmen.

Was an all dem komisch ist? Nichts, oder besser: Nichts, für jene, die auf diesen Höhen des zeitgenössichen Alltags leben. Für die Casellis und deren Mitarbeiter sind die Promiskuität und die Porosität dieser Grenzen nicht tolerierbar. Für sie sind Leute, die studieren, Studenten und Leute, die arbeiten, Arbeiter. Jeder soll seinen Job machen: Studieren (um arbeiten zu lernen), arbeiten (um konsumieren zu können) wählen (um zu glauben, dass man irgendwas zählt)… Wenn man wirklich ein absoluter Unglücksrabe und völlig isoliert und perspektivlos ist, wird man sich immer noch bei den Carabinieri melden können… oder vielleicht als in einem der vielen Kriege, die wir jenseits der Grenze exportieren, als gut bezahlter Söldner arbeiten. Ist es eine Frau, wird Bersuconi hingegen anraten, eine Velina (21) zu werden (oder eine Begleitdame).

Der Austausch, das Zusammenlegen, die Suche nach und Bestimmnung von einem effektiven Aktions- und Transformationsprogramm ist geradezu das, was die Untertanen-Bürger sich nicht einmal vorstellen dürfen, zu tun. Zwei Jahrhunderte der Geisteswissenschaften und einige Jahrzehnte Managementschule dienen auch und besonders dazu. Synthese und Neuzusammensetzung können und sollen nur auf höherem Niveau stattfinden.

Aber diese (ihre) Wissenschaft ist Wissenschaft des Kapitals (und seines Kommandostabs).

Unter den explizit von der Welle fokussierten Themen, war auch die Kritik der systemischen Ideologie, die die Neutralität der Wissen (22) unterstellt. Am Dienstag, den 19. Mai hat man auf dem Corso Marconi auch gegen diesen Ansatz gekämpft. Gegen ein Gipfeltreffen, das versprach, in diese Trennung von Wissen und Arbeit eingebettete Strategien, um aus der Krise zu kommen zu liefern – ohne auch nur im Ansatz etwas von der derzeitigen Hierarchie der Machtinstanzen in Frage zu stellen (und sich statt dessen in den Dienst von deren ewiger Reproduktion stellend).

Die Linke ist tot… aber die Welle rollt weiter (und mit ihr die sozialen Bewegungen)

Wenn es in dieser ganzen Geschichte einen großen Abwesenden gibt, ist es genau die institutionelle Linke. Wir haben kein einziges Wort gehört. Es wurde kein Sterbenswörtchen gesprochen! Der so oft herausposaunte Garantismus (23) ist verschwunden. Alle gaffen ohne etwas sagen zu wollen (oder sagen zu können). Die Krise der Repräsentanz scheint sich in die regelrechte Auslöschung dieses politischen Teils zu wandeln. Hier ist es nicht mehr eine Frage von prozentualen Anteilen (über 20% oder unter 4%). Das Schweigen zu einer Angelegenheit von dieser Größenordnung zeugt von deren sozialen kulturellen und politischen Verschwindens.

Dies ist weder eine Klage noch ein verzweifelter Hilferuf. Es ist eine einfache und unwiderlegbare Feststellung. Diese Herren mögen ja meinen, dass wir allein geblieben sind. Da kommt einem glatt der Spruch: “besser allein als in schlechter Gesellschaft” über die Lippen. Die Wahrheit ist aber, dass unsere Einsamkeit eine bevölkerte ist. Das beweisen die Demonstrationen, die Aktionen und Besetzungen, die im ganzen Land die Antwort auf diese traurige und impotente Operation aufgezogen haben. Die Versammlungen und die Presidien, die die no Tav für unsere Befreiung abhalten (jene Bergleute haben Erfahrung mit der gespaltenen Zunge, mit der die Parteien reden). Der Sauerstoffkick eines Anti-G8, der den Anschein gemacht hatte, ziemlich leise gestartet zu sein. Das sind aber nur die ersten Anzeichen eines Herbstes, der verspricht, weit heißer und partizipierter zu sein.

Wir kommen zurück in die Straßen und Piazze und wir werden es weiter tun, wir kommen zurück in die Vollversammlungen und zu den Präsidien, nicht um die Befreiung von diesen 21 compagn* und derer, die an den darauf folgenden Tagen verhaftet wurden zu erbitten, sondern, um sie zu velangen. Und wir versprechen nichts: weder, dass wir zur Normalität zurück kehren, noch, dass wir still halten werden. Wie schärfen die “Waffen” für die nächsten Anlässe.

A sara dura… per voi!

Liberi tutt*! Liber* subito! (24)

Network Antagonista Torinese

Csoa Askatasuna – Csa Murazzi

Collettivo universitario autonomo – Kollettivo studenti

A.d.Ü.:

(1) Generalstaatsanwalt von Turin

(2) Siehe: http://gipfelsoli.org/Home/L_Aquila_2009/7555.html

(3) Richter- und Staatsanwaltschaft. In Italien gibt es zwischen Staatsanwälten und Richtern keine Ämtertrennung, es sind also beide Kategorien gemeint

(4) “Der klassische Invasion of the Body Snatchers nach einer Literaturvorlage von Jack Finney ist eine Studie über Außenseitertum, Paranoia, zur Entfremdung von der eigenen Umgebung, und nur in Zusammenhang mit der Kommunistenhatz der McCarthy-Zeit und der damit in Verbindung stehenden „Hollywood blacklist“ 12zu verstehen, und eine Parabel auf die Atmosphäre in Phasen des Kalten Krieges 1314 (vielleicht in Deutschland damals anders verstanden); gleichzeitig trage er „Rorschach-Handlungen“, in die man eigene Überzeugungen hineinprojiziert 1514. Es werden gefühlskalte und temperamentlose Hülsen von Menschen gezeigt, organisiert und in Scharen, 14 deren Gebaren Don Siegel zufolge zurückzuführen sei auf neue Wege der Kriegsführung und die Gräuel des 20. Jahrhunderts”. Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Don_Siegel und http://de.wikipedia.org/wiki/Die_D%C3%A4monischen

(5) Gründer der Gruppe “Abele” (“alternative” Resozialisierungsprojekte), Vorsitzender der Vereinigung “Libera” (Anti-Mafia-Bewegung)

(6) Siehe: http://www.gipfelsoli.org/Repression/L_Aquila_2009/7430.html

(7) Widerstand gegen die hochgradig die Umwelt und die Gesundheit der Menschen gefährdende Mülldeponie in Chiaiano, einem Stadviertel am Rande Neapels (siehe u.a.: http://www.youtube.com/watch?v=fbAatlrcgag&feature=related , http://www.youtube.com/watch?v=Lh9gbZ1Z29Y ). Auch in Chiaiano zieht sich eine lange Spur der gewaltsamen Repression gegen die Widerstandskomitees und auch in Chiaiano kündigte Berluconi die anwendung von Gewalt und die Entsendung der Armee an ( http://www.youtube.com/watch?v=4rNqNn6mivY ) , was auch prompt erfolgte.

(8) http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Italiens

(9) Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Historischer_Kompromiss , http://www.offen-siv.com/2008/08-04_Aldo-Moro.shtml

(10) Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Giulio_Andreotti

(11) Silvio Berlusconi

(12) Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Mani_pulite

(13) 1993 von Silvio Berlusconi gegründete, mittlerweile im "Popolo della Libertá (Volk der Freiheit) aufgegangene Partei, siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Forza_Italia

(14) Lega Nord, die drittgrößte Partei Italiens. In der Regierung Berlusconi stellt sie derzeit vier Minister, darunter den Innenminister Roberto Maroni, siehe: http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/382310/index.do

(15) Staats-Linke

(16) Widerstandsbewegung gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitsbahn TAV. Besonders breit und hartnäckig im Susa-Tal bei Turin. 2005 kämpfte während der harten Wintermonate ( http://www.youtube.com/watch?v=1N0HYVj9S4o ab min. 8:54) die gesamte Bevölkerung trotz härtester polizeilicher Gangart ( http://www.youtube.com/watch?v=vXOyEUcIB2I&feature=related ) bei der Repression geschlossen gegen erste Baumaßnahmen. (siehe u.a.: http://www.youtube.com/watch?v=_B-Zzcwvo0E , http://www.youtube.com/watch?v=pAZ0EY9ci04 ) Die Verwirklichung des Projektes kommt durch den Widerstand nur schleppend voran. Silvio Berlusconi kündigte bereits an, dass er nicht zögern wird, den Bau der Hochgeschwindigkeitsbahn unter Anwendung von Gewalt durchzusetzen ( http://www.youtube.com/watch?v=C9p9Nb2CYpw )

(17) Ein “Präsidium” ist eine “fixe” Menschenasammlung, die jedoch, wie die Bezeichnung aussagt, “dezidierter” ist als eine “Mahnwache” oder “Kundgebung”. Ein “Präsidium” kann gegebenfalls, symbolisch oder auch konkret einen regelrechten “Blockade-" bzw. "Besetzungscharakter” haben – in Verbindung mit einem bestimmten konkreten Ort.

(18) Widerstand gegen die hochgradig die Umwelt und die Gesundheit der Menschen gefährdende Mülldeponie in Chiaiano, einem Stadviertel am Rande Neapels (siehe u.a.: http://www.youtube.com/watch?v=fbAatlrcgag&feature=related , http://www.youtube.com/watch?v=Lh9gbZ1Z29Y ). Auch in Chiaiano zieht sich eine lange Spur der gewaltsamen Repression gegen die Widerstandskomitees und auch in Chiaiano kündigte Berluconi die anwendung von Gewalt und die Entsendung der Armee an ( http://www.youtube.com/watch?v=4rNqNn6mivY ) , was auch prompt erfolgte.

(19) Als Gewerkschaftsboss war Sergio Cofferati ein Held der italienischen Linken. Als er später Bürgermeister von Bologna wurde, betrieb er mit eine ausgesprochen repressive Politik. Siehe: http://jungle-world.com/artikel/2005/49/16515.html

(20) Zivilflughafen am Rande der nordostitalienischen Stadt Vicenza. Ende 2003 verabredeten die italienische und die US-Amerikanische Regierung die Umwandlung des Flughafens in eine Militäranlage – hinter verschlossenen Türen. Die Pläne wurden erst 2006 öffentlich. Die derzeit zwischen Deutschland und Italien aufgeteilte 173 Airborne Division soll dort wegen der Nähe zu Häfen und Luftwaffenstützpunkten geschlossen unterkommen ( grafische Darstellungen: http://www.youtube.com/watch?v=OqQyuaetfhk&feature=related ). U.a. soll der auf der operativen US-Army Achse Aviano-Camp Darby in Norditalien liegende Stützpunkt auch so genannten N.B.C. Storage betreiben (http://de.indymedia.org/2007/06/186192.shtml). Rasch formierte sich eine Widerstandsbewegung ( http://www.youtube.com/watch?v=-goCGWpNX1k ), die bereits mehrere Demonstrationen, Blockaden und Besetzungen ( siehe Playlist http://www.youtube.com/view_play_list?p=0A103A0115BDBA34 ) durchgeführt hat.

(21) In Original: “Veline”. Die “Velina” war ursprünglich das unter Betonung “weiblicher Reize” in TV-Talks und anderen Sendungen auftretende, “hübsche Beiwerk”, das nicht unerheblich zum Erfolg der Privatfernsehanstalten in Italien beigetragen hat. Mittlerweile gilt “Velina” allgemein für ähnliches “Beiwerk”, z.B. auf Veranstalztungen, Parties und anderen Events. “Velina” werden darüber hinaus auch praktisch in Form von reinen Abschriften von behördlichen oder institutionellen Miteilungen oder Zusammenfassungen von ebensolchen daherkommende Medienberichte.

(22) Im Original: “saperi”, also Plural. Es gibt kein absolutes und einheitliches Wissen.

(23) Grob: Verankerung von Leistungen im System zur Einlösung des Postulats sozialer Menschenrechte

(24) Es wird hart werden… für euch! (A sará dura / es wird hart werden, ist die “Kampfparole” der No Tav im Susa-Tal). Alle frei! Sofort!