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2003-07-27

militant errors - Auswertung Thessaloniki 2003

militant errors

von der Un-Ästhetik des Widerstands

Eindrücke, Kritik und Fragen zu den Protesten gegen den EU-Gipfel in Thessaloniki und an die anarchistische Bewegung in Griechenland, Juni 2003

Dieser Text wurde kurz nach den Protesten gegen den EU-Gipfel in Thessaloniki Sommer 2003 geschrieben und sollte einen Diskussionsprozess anregen. Eigentlich wollten ihn Leute, die mit uns beim Gipfel waren, überarbeiten und verbessern. Leider ist das aus verschiedenen Gründen (wie das eben so läuft) nicht passiert. Wir haben uns entschlossen, ihn trotz erheblicher Verzögerung und obwohl er nur unsere Meinung wiederspiegelt zu veröffentlichen, da wir die angesprochenen Fragen für zeitlos halten - wie Formen und Taktiken von Militanz und Widerstand, Sexismus und Machismo, den Umgang mit Medien, um die wesentlichsten Punkte zu benennen.
Dieser Beitrag, der sich an die radikale Linke richtet und nicht auf Griechenland beschränkt bleibt, möge trotz aller Kritik und Infragestellung als solidarisch verstanden werden.
Denn schließlich sind Kritik und Selbstkritik wesentlicher Bestandteil einer revolutionären Utopie einer befreiten Gesellschaft.
Also - für eine konstruktive und faire Diskussion und Auseinandersetzung.

drei leute aus berlin - Oktober 2004
drei-aus-berlin@web.de

Der Gipfel
Am den Protesten gegen den EU-Gipfel vom 19.-21.Juni 2003 in Thessaloniki und Chalkidiki beteiligten sich sehr unterschiedliche Gruppen, von Sozialforen über die Kommunistische Partei, Gewerkschaften, diverse sozialistische Grüppchen bis zu unterschiedlichen anarchistischen Gruppierungen - insgesamt an die 100.000 Menschen.
Die AnarchistInnen (aber auch sozialistische Studi-Gruppen und Teile des Sozialforums) besetzten Teile der Aristotelus Universität in Thessaloniki, um sie als Anlaufstelle, Unterkunft und Koordinierung für die Proteste der kommenden Tage zu nutzen.
Die Uni war bewusst und gut gewählt, da für die Universitäten allgemein ein Asyl gilt, sprich sie sind eine no-go-area für Bullen. Der Polizei ist es nicht gestattet, ohne vorherige Genehmigung und Einverständnis der Universitätsleitung und der Gewerkschaft der ProfessorInnen das Gelände zu betreten. Ein bisschen vergleichbar mit dem Kirchenasyl, allerdings ist dieses Asyl in Griechenland viel stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert. Es geht auf die Zeit der Militärdiktatur (1967-1974) zurück, als im Jahr 1973 die Politechnische Universität in Athen vom Militär gestürmt wurde, die von widerständischen StudentInnen besetzt war. Dabei wurden etwa 200 StudentInnen vom Militär ermordet.

Die Besetzte Uni
Unterschiedlichste anarchistische Gruppen, zum Teil heftigst untereinander zerstritten, was für uns nicht unbedingt immer nachvollziehbar war, richteten sich also an der Uni ein.
Die Anti-Authoritären, Salonika 2003, die mehr mit Mainstream-Medien zusammenarbeiten und Bündnisse mit anderen politischen nicht-anarchistischen Gruppen eingehen, von anderen aber zum Teil als sehr autoritär bezeichnet werden, besetzten die Theologische Fakultät, der Black Bloc, Internationale und andere griechische AnarchistInnen die Philosophische und Indymedia, das Medical Team und andere Gruppen die Juristische Fakultät der Universität.
SALONIKA 2003 wurde am Anfang schnell zum Anlaufpunkt vor allem für die aus anderen Ländern Angereisten. Es gab eine Infowand, eine Cafeteria und Plena wurden mehrsprachig durchgeführt. Diese minimale Infrastruktur, die hier vorhanden war, wurde von anderen anarchistischen Gruppen aus Griechenland leider nicht oder kaum zur Verfügung gestellt. Eine Ausnahme bildeten hier sicherlich Indymedia, die einen Super-Stadtplan mehrsprachig verteilten, und das Medical Team. Ein großes Lob auch an die Internationale Fahrradkarawane, die jeden Tag für Hunderte kochten und kochten.

Machismo und Sexismus
Die Situation auf dem Uni-Gelände war ziemlich krass. Die Atmosphäre war extrem machoid und gewalttätig. Jeden Tag eskalierten Streits, kaum ein Plenum wurde ohne Geschrei und sehr häufig auch mit handfesten Prügeleien und Faustkämpfen beendet.
Gleich zu Anfang eskalierte ein Streit in die erste von zahllosen Schlägereien.
Die AnarchistInnen, die in die Philosophische Fakultät eingedrungen waren, brachen in die Kantine ein und in Räume von ProfessorInnen und zerstörten Computer. Darüber eskalierte die Auseinandersetzung mit denen, die damit nicht einverstanden waren.
Bis auf eine, verließen daraufhin anarchistische Gruppen aus Athen geschlossen die Philosophische.
Andere Gruppen aus Griechenland oder auch Italien, Frankreich u.s.w. blieben in dem "Black Bloc Squat".
Zu einem späteren Zeitpunkt, am Samstag nach der sogenannten Black Bloc -Demo drehten einige völlig durch : Neben zerstörten Computern und Arbeitszimmern wurden einige sehr alte Bücher der philosophischen Fakultät in Brand gesteckt (konnten noch gelöscht werden ), auf die Flure gekackt und sexistische und gewaltverherrlichende Parolen an die Wände gesprüht.
Quasi permanent waren wir mit einer aggressiven Grundstimmung konfrontiert.
Anmache , sexistische Sprüche, das Ignorieren von Frauen, dominantes Redeverhalten auf Treffen waren keine Seltenheit.
Bereits am Montag kam es aufgrund all dieser Vorkommnisse und der Stimmung zu einem Frauenplenum, am Dienstag-Abend dann zu einer Frauen-Aktion auf der Bühne des auf dem Uni-Campus stattgefundenen Rock-Konzertes, wo circa 20 Frauen auf der Bühne ein Anti-sexistisches Manifest verlasen. Die Reaktion des Publikums waren sehr zweigeteilt. Von Zustimmung, Applaus bis zu derben sexistischen Sprüchen und Buhrufen war alles vorhanden. In den darauffolgenden Tagen gab es gemischte Plena, die Einrichtung eines Schutzraumes und Anlaufstelle für direkt von Anmache oder Ähnlichem Betroffenen sowie ein in englischer und griechischer Sprache verteiltes Anti-Patriarchales Flugblatt über die Ereignisse an der UNI.

Antisexist Manifesto
of women squatting the stage at Thessaloniki anti-authoritarian camp
(slightly modified version of the first declaration from the stage on 17th of June)

We are here today because we all feel uncomfortable as women and men in this space. There have been cases of sexual harassment and also women have been suppressed or not taken seriously because of their gender.
There have been violent muggings and fistfights.
In this camp men have sexually insulted women and reduced them to sexual objects - all this continues.
Additionally, women have not been listened to, not taken seriously and not treated as equal persons.
Even when we tried to point it out from this stage two nights ago, the response was insulting and disrespectful.
All together, the atmosphere in the camp is very masculine-dominated.
To our knowledge, this camp is supposed to be anti-authoritarian and anti-
hierarchical, but in this camp the sexism that exists in society is being reproduced.

Sexism is a form of oppression as is racism and homophobia.

We will not tolerate masculine oppression within this camp anymore.

Smash sexism - smash patriarchy!

Medien-Konflikt
An einem Tag kam es erneut zu einer Schlägerei aufgrund des unterschiedlichen Umgangs mit Medien. Einige wollten ein Interview mit dem Fernsehteam von ARTE machen, andere fanden das allerdings keine gute Idee. Vielleicht drei, vier Leute bespritzten das Fernsehteam mit Wasser und wurden daraufhin von den anderen, ca. 30 Leute , den BefürworterInnen verprügelt, zu Boden gezerrt und immer wieder mit Tritten traktiert.
Klar, dass sich dahinter der Konflikt im Umgang mit Medien verbirgt.
SALONIKA 2003 zB. gibt Interviews, waehrend der Grossteil der AnarchistInnen in Griechenland jegliche Zusammenarbeit mit Mainstream-Medien konsequent ablehnt.
Buergerliche Medien, einschliesslich der linksliberalen ELEFTIROPIA, seien fuer sie nur Handlanger des Staates und Vertreter der kapitalistischen Welt. Ihre Erfahrungen seien schlichtweg negativ, die Berichterstattung sei verzerrend und linke Medien oder wohlwollende Medien wuerden bei Ihnen so nicht existieren.
Sie wuerden lieber auf ihre eigenen Kraefte vertrauen.
Das fuehrte jedoch soweit, dass selbst ein Mitglied von Indymedia Athen, der ab und an für bürgerliche Medien schreibt, vom Indymedia-Zentrum der Juristischen Fakultät auf Betreiben von Indymedia Thessaloniki ausgeschlossen wurde.
Überall hingen Plakate, wo ein brennendes Presseauto zu erkennen war mit der Überschrift
" no kamera-no problem ". Auch bei zahlreichen unabhängigen, "unseren" Medien-und Kamera-Leuten führte das zu einiger Verunsicherung und spaeter gar zu ernsthafteren Problemen.
Je größer die Kamera, desto schwieriger schien es, zu filmen.
Andererseits - und dies ist nicht neu und schon gar kein rein griechisches Phänomen - wurden später mit gierigen Blicken saemtliche Riot-Szenen aus Fernsehen und Zeitungen bewundert und mit Eifer gesammelt. Ein spaeter innerhalb der anarchistischen Szene Griechenlands zirkulierender Video enthielt viele Riot-Images , aufgenommen von staatlichen und privaten Fernsehanstalten. "Riot-Porn" pur ohne Reflektion und Kritik.

Antirassistische Demo - La Mejor Parte
Am Donnerstag fanden die ersten großen Demos in Thessaloniki statt. Motto war die Thematisierung der Situation bzw. Solidarisierung mit ImmigrantInnen. Einmal eine Demo des Sozialforums, parallel eine Demo der verschiedensten anarchistischen Fraktionen, auf der an die 3.500 Leute waren. Diese Demo führte durch MigrantInnen-Kieze und war sehr laut und powerful. Ständige Parolen und permanente Sprühaktionen rund um die Demo prägten das Bild. Gerade im Nachhinein war das wohl die beste Demo mit super Stimmung und einem Miteinander der verschiedenen Fraktionen, die sich weder zu Gewalttätigkeiten untereinander hinreißen ließen noch auf die Bullenprovokation einstiegen.

Antirassistische Aktion an der Grenze - buen accion
Von den gleichen Gruppen, die Tags zuvor die Antira-Demo organisiert hatten, ging für Freitag auch die Initiative aus, zu einem aus Roma-Familien bestehendes Flüchtlingscamp an der griechisch-mazedonischen Grenze zu fahren. In einer konkreten Solidarisierung und der Thematisierung der Behandlung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen sahen viele Leute mehr Sinn, als in einem symbolischen Sturm auf die Festung in Chalkidiki. Ziel war, mit möglichst vielen Lebensmittel, Trinkwasser, Windeln etc. fehlende humanitäre Hilfe zu leisten und den Leuten potentiell auch zu ermöglichen, über die Grenze zu kommen.
Mit drei Bussen (ca. 250 Leuten), drei Anwälten und Asylantragsformularen ging es Freitag morgens los. Da im Vorfeld letztlich zu wenig über realistische Einschätzungen und Ablauf der Aktion gesprochen wurde und der Konvoi mittlerweile sogar im Radio angekündigt worden war, war schon auf der griechischen Seite der Grenze erst mal Schluss: Als Reaktion auf das martialische Bullenaufgebot mit Sondereinheiten, Grenzpolizei, Gasmasken und wurfbereiten CS-Granaten fiel uns nicht mehr ein als uns ebenso martialisch aufzubauen, Parolen zu brüllen - und das war es. Schnell war klar, dass mit der Taktik kein Blumentopf zu gewinnen war und so wurden (für die griechischen Leute schweren Herzens) Verhandlungen aufgenommen.
Nach einigem Hin und Her war klar, dass EU-BürgerInnen mit Reisepass ein Grenzübertritt nicht verwehrt werden kann. Die ganze Story war mittlerweile schon beim Innenministerium und in den Vorhallen des EU-Gipfels angekommen. So wurden kleine Gruppen über die Grenze gelassen. Plötzlich nur noch fünf Leute. Der Rest ist sauer, fängt an zu drücken, bekommt Schlagstöcke ab. Einzelne Journalisten aus dem Konvoi können ihre EU-Akkreditierung für einen Grenzübertritt samt Lebensmittel nutzen. Auf einmal ist der Umgang klar: Nein, niemand kommt mehr rüber, alle sollen verschwinden und zwar in Richtung Griechenland. Nix zu machen.
Die Romas bekamen von dem ganzen Trouble per Handy mit und begannen zu rufen - wir beantworteten das mit "no border - no nation - stop deportation". Eigentlich ziemlich frustig.
Fazit: Wäre das ganze etwas konspirativer geplant worden und wäre es nicht gerade vor den Augen der Bullen von der Uni aus losgegangen, wäre vielleicht mehr drin gewesen. Außerdem hätten schon tausend Leute an der kleinen Grenze drängen und schubsen müssen um zu erreichen, dass eine Delegation samt Lebensmitteln ins Roma-Camp gelangt wäre. Ein Durchbruchversuch hätte sicherlich zu vielen Verletzten und Festnahmen geführt.
Auf jeden Fall wurde ein internationaler Grenzkonflikt mit der klaren Aussage "Hilfe für die Roma" produziert und einige anwesende JournalistInnen berichteten über die Aktion. Die Situation der Roma wurde publik gemacht und auch in Griechenland zum Thema.

Angriff auf die Rote Zone (Tagungsort in Chalkidiki) - what a show
Die restlichen Leute machten sich auf zum Tagungsort, der von einer Roten Zone umgeben war. Diese sollte symbolisch angegriffen werden. Zwölf Busse wurden mit Steinen, Farbeiern, Schleudern etc. beladen und fuhren, ohne ein einziges Mal angehalten zu werden, von der Uni direkt zum kleinen Örtchen Chalkidiki. Vor Ort war erst mal viel Rumstehen in sengender Hitze angesagt. Der Black-Bloc war erstaunlich groß, einige tausend Leute, und recht überraschend hatten sich Teile des Sozialforums (sprich reformistische bis kommunistische Kräfte) der Aktion angeschlossen, die eigentlich von Anarchos ausging. Es wurde dann ewig verhandelt (wer an welcher Stelle geht oder auch nicht), während wir (schwarz vermummt, schwer beladen, schwitzend) am Strand saßen und auf Ergebnisse warteten. Etliche Boote und Hubschrauber kreisten und die Absperrungen in Form von riesigen Containern und Betonblöcken waren deutlich zu sehen.
Letztlich setzte sich der Demozug in Richtung Bullenabsperrung über eine kleine Dorfstrasse in Bewegung. An der Spitze ging die Gruppe Virus, die ganz im "tute biance - style" für die direkte Konfrontation mit den Bullen mit Helmen und Schutzkleidung ausgerüstet war.
Das Ganze fand letztlich ein jähes Ende. Schon bei der ersten Absperrung, an der sich die Bullen hinter Steinblöcken und
Wannen verschanzt hatten (die Presse gesammelt dahinter), wurde der Demonstrationszug auseinander getrieben. Nach ein wenig Schieben und Drücken und ein paar Steinen wurde direkt mit Tränengas reingeschossen. Das Gas war so stark, dass ohne Gasmaske einfach nichts zu machen war - und viele hatten auch trotz Gasmaske ihre Schwierigkeiten. Nach den ersten Erstickungs- und Panikanfällen war mensch für die nächste halbe Stunde außer Gefecht. Blind vor Tränen, nach Luft ringend, torkelten die meisten davon während einige andere, die eine vernünftige Gasmaske aufgetrieben hatten, sich noch kleinere Gefechte mit den Pigs lieferten.
Allerdings bleib es gefährlich, da hinter jedem Hügel und bei jeder Biegung Bullen postiert waren, die uns noch auf dem Rückzug angriffen. Es gab einige wenige Festnahmen. Wirklich großartig war die Versorgung durch das Medial Team, die schnell und flächendeckend allen ein Gegenmittel ins Gesicht sprühten.
Fazit: Mehr als ein symbolischer Angriff war wohl nicht drin und dafür hätte es eigentlich viel schlimmer laufen können. Vor allem waren wir nun alle vorgewarnt, was das Tränengas anging. Und alle hatten das Gefühl: Der nächste Tag kann kommen.

Zwei Black-Bloc-Demos - Grande Finale oder ein Ende mit Schrecken?
Am Samstag gab es, neben einer riesigen Bündnisdemo der Sozialforen und anderer Gruppen und einer Demo der kommunistischen Partei mit insgesamt an die 100.000 Leuten, zwei anarchistische Demos, die beide vom Unigelände loszogen.
Ein Teil der AnarchistInnen und andere antirassistische und anti-autoritäre Gruppen demonstrierten mit ca. 1800 Leuten eine ähnliche Route, wie bereits am Donnerstag, nicht direkt in der City, etwas weiter ab mit dem Ziel zur makedonischen Bezirksregierung zu gelangen, entglasten und zerstörten dort eine Bank sehr erfolgreich und gingen danach zur Uni zurück bzw. schlossen sich den anderen anarchistischen inzwischen schon in der Innenstadt versprengten Gruppen oder dem Ende der anderen Demo an.
Sie hatten im Vorfeld ihre Ziele klar abgesteckt und votierten deutlich für eine gezielte und klar begrenzte Militanz, die in der Zerstörung der Bank auch ihren Ausdruck fand.
Es schien alles relativ geplant, koordiniert und organisiert vorbereitet gewesen zu sein.
Während der Demo war auffallend, dass sie bunter wurde: auf der einen Seite viele Vermummte, auch einige mit Brechstangen und Knüppeln, aber keine Molotovcocktails, andererseits Andere locker Gekleidete. Entschlossen und lautstark zog die Demo unter den Blicken der MigrantInnen weiter, bis sie sich schließlich nach der Zerstörung der Bank auflöste.
Fazit für zumindest einen Teil von uns : Die beste Alternative für diesen Tag, die es im Angebot gab. Andere anarchistische Gruppen wiederum kritisierten die zu autoritär strukturierte Demo.

Die zweite Demo, der wir uns größtenteils angeschlossen hatten, mit dem grossen anarchistischen Black Bloc mit vielleicht bis zu 3000 Personen war da schon deutlich offener konzipiert aber auch vager, unklarer und chaotischer in dem, was zu erwarten sei.
Schliesslich beteiligten sich auch nur vergleichsweise wenige an den Plenas und Vorbereitungstreffen fuer diese Demo. Selbst wir wussten bis 30 Minuten vor Beginn nicht wirklich, wo wir mitlaufen sollten.
Klar war nur, dass die Demo durch die Innenstadt Richtung Bankenviertel gehen sollte und dass es auf jeden Fall heftige Auseinandersetzungen mit den Bullen geben wuerde.
Sie startete von der UNI und war martialisch ausgerüstet mit Einkaufswagen voll mit Mollies, grossen Schildern, Helmen, Gasmasken, jede Menge Tüten mit Wurfmaterial u.s.w.
Doch es kam alles ganz anders.
Die Demo, die in losen Formationen sich vorwärts bewegte, führte zunächst von der Uni direkt auf die Egnatia, die Hauptstrasse mit vielen Geschäften Richtung Innenstadt. So ziemlich alles wurde geplättet und entglast. Doch zu unserem Entsetzen nicht nur Banken oder McDonalds etwa, sondern auch kleine Läden, wie ein Schlüsselladen, Apotheken oder kleine Mobil-Telefon-Shops von Pächtern. Doch zu noch viel mehr Erschrecken führten die zahllos und völlig wahllos in die Geschäfte geworfenen Mollis, vor allem dort, wo klar erkennbar über eben jenen Geschäften Wohnungen und Apartments sind.

Dieses völlig unverantwortliche Handeln diskreditiert nicht nur politisch sinnvolle Militanz, wo es auch nach aussen nichts mehr zu vermittlen gibt, sondern bedarf auch einer absolut notwendigen Auseinandersetzung und Kritik innerhalb der griechischen und international angereisten AnarchistInnen und Linksradikalen über Ziel, Sinn und Zweck einer Strassenmilitanz. Oder um es noch drastischer zu formulieren - mit dieser Form und diesen Aktionen wollen wir nix mehr zu tun haben - das ist nicht unsere Politik.

Nachdem die Bullen in der ersten Seitenstrasse, in der sie auftauchten, massiv mit Mollis eingedeckt worden waren und sich auch tatsächlich ein wenig von dieser Stelle zurückzogen und auswichen, starteten sie kurz danach über andere Seitenstrassen und von vorne den massiven Angriff auf die Demo mit dem Einsatz von extrem heftigem Tränengas. Schließlich gelang es Ihnen relativ schnell die Demo zu spalten und nach und nach aufzureiben und auseinander zu treiben.
Die Demo konnte dem nicht wirklich etwas entgegensetzen, zu wenige hatten wirklich Vollgasmasken, die diesem Tränengas standgehalten hätten, es gab kaum Ketten und eine geringe Organisierung von Blöcken oder Verantwortlichkeiten. Die, die am Anfang mit Schildern noch die erste Reihe stellten, waren auf einmal weg, wobei sich auch die Frage aufdrängt, warum ausgerechnet die Internationalen, nicht unbedingt die Ortskundigsten, vorneweg gelaufen sind.
Alles schien innerhalb weniger Minuten ins Chaos zu gleiten, nach dem Motto, rette sich wer kann. Auch gab es kein Plan B, was passieren würde , wenn....
Das abrupte Ende war aus unserer Sicht eine strategische Katastrophe - unsere Handlungsfähigkeit war sofort dahin und eine Kommunikation unter uns war nicht mehr möglich. Schlimmer noch : ein Teil der Demo wurde von beiden Seiten von Bullen eingekesselt und massiv mit Tränengas beschossen. Panik kam auf, es ging weder in die eine noch in die andere Richtung, Gruppen wurden gesprengt, Leute haben sich gegenseitig verloren, und einzelne wurden verhaftet. In der Panik, wo du nix mehr sehen konntest geschweige denn atmen wurden Türen von Wohnhäusern und Geschäften aufgebrochen, um sich in frische Luft zu retten.
Nachdem die Demo also zersprengt war, konnte ein Teil der Demo-TeilnehmerInnen zurück zur Uni gelangen, wo die Auseinandersetzungen mit den Bullen, die immer wieder beworfen wurden und ihrerseits Tränengas aufs Gelände schossen, noch ein paar Stunden auf "low-level-Niveau" andauerten.
Ein Zivi-Bulle, der auf dem Uni-Gelände auftauchte, wurde fast gelyncht, konnte aber noch von einigen Beherzten in Sicherheit gebracht werden.
Die Bullen betraten das Uni-Gelände nicht, doch am Abend hieß es, dass die griechische Regierung und die Bullen die Uni-Leitung um Erlaubnis baten, das Asyl zu brechen.
Der Vertreter der ProfessorInnenschaft, dessen Zustimmung benötigt wird, stimmte jedoch dagegen.

Der Tag vor Gericht
Am Sonntag sollten die Verhafteten dem Richter vorgeführt werden. Ein paar Dutzend Leute hatten sich also gegenüber dem Gerichtsgebäude eingefunden, um ihre Solidarität mit den Eingefahrenen auszudrücken und auf ihre Ankunft zu warten. Nach Samstag war die Stimmung in der Stadt sehr aufgeheizt. Überall hing noch das Tränengas in der Luft, die Cops waren aggressiv, vereinzelt wurden noch Leute festgenommen, Zwillen, Hassis(Masken) etc. beschlagnahmt, links Aussehende auf offener Strasse zusammen geprügelt.
Vor dem Gericht beschränkten wir uns zunächst aufs sporadische Slogans-Rufen, gingen immer wieder auf die Strasse und präsentierten den Bullen den Slogan "no justice - no peace" auf nackten Hintern. Stück für Stück wurde dann der Verkehr umgeleitet, die Bullen bauten sich im Halbkreis zwischen uns und dem Gerichtsgebäude auf der Strasse auf und zogen langsam einen Kessel um uns rum zu.
Genau in dieser Situation kam es zum x-ten Zwischenfall wegen einer Kamera.
Ein Szene-Fotograf aus Deutschland, der u.a. Fotos für AntiFa-Berichterstattung macht, hatte Bilder auch hinter den Bullenreihen gemacht und Einzelleute aufgenommen, obwohl ihm deutlich zu verstehen gegeben wurde, dass er das lassen soll. Hat er aber nicht, sondern stelle sich mitten in die Menge vor dem Cafe und fotografierte munter weiter.
Eine der gefilmten Personen wollte den Film von ihm und ihm auch die Kamera abnehmen. Einige andere mischten sich ein, plötzlich ging alles sehr schnell, der Typ wurde gewürgt, Leute gingen schreiend aufeinander los, die Scheiben klirrten, es war ein richtiger Tumult. Genau in diesem Moment griffen die Bullen an. Mit Pfefferspray, Tränengas und Knüppeln gingen sie auf uns los, zielten auf Köpfe und alles was sich bewegte.
Um es kurz zu machen: Eine Person verlor das Bewusstsein, der Notarzt musste kommen, ein kleiner Junge ging der Mutter verloren die völlig hysterisch wurde, alle zerstreuten sich in heller Panik. An diesem Punkt war ich schon fast beeindruckt, wie bei diesem Gipfel jede noch so friedlich-harmlose Situation ihre schlimmstmöglichste Wendung nahm.

Applaus für die Antirepressions-Arbeit
Nach dem Gipfel waren einige Leute lange Zeit im Knast. Und es sah ziemlich übel aus: In ähnlichen Fällen hatten die Gerichte in Griechenland sich von widersprüchlichen und lückenhaften Bullenaussagen und offensichtlich gefälschten Beweisen selten abschrecken lassen, martialische Strafen zu verhängen. Besonders krass war die Situation, als sich sieben Gefangene bereits seit Wochen im Hungerstreik befanden und kein Einlenken der Behörden in Sicht war. Vor einem Geschworenengericht hätten ihnen Haftstrafen von 5 bis 20 Jahren gedroht. Und dann kam alles anders: Die Anklage gegen zwölf Personen wurde fallen gelassen. Und auch elf weitere Leute, die noch mit Verfahren zu rechnen hatten, wurden ohne Meldeauflagen aus der U-Haft entlassen. Es kam sogar zu einer Untersuchung von Folter-Vorwürfen. Denn auch wenn die Folter in Griechenland seit 20 Jahren verboten ist wurde noch nie ein Polizist dafür verurteilt.
Diese überraschende Entwicklung ist vor allem der hervorragenden Antirepressionsarbeit, die international aber vor allem auch in Griechenland gelaufen ist, zu verdanken. Auch wenn so mancheR es nicht mehr für möglich gehalten hätte: Die verschiedenen zerstrittenen Gruppen haben zusammen eine unglaubliche Öffentlichkeit für die Gefangenen hinbekommen. Mit großen Solidaritätsdemos und Konzerten, Besetzungen öffentlicher Gebäude, Medienzentralen und Radiosender, in denen Unterstützungserklärungen für die Gefangenen verlesen wurden, haben sie immer wieder auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Und mit der Stärke und öffentlichen Präsenz dieser Antirepressions-Bewegung wurden doch noch so einige innere Sicherheits-Pläne der griechischen Regierung zumindest erschwert.

unterm Strich ... Kritik - Resümee - Selbstkritik und ...
Trotz der Teilnahme von mehreren Tausenden zeigte sich auch, dass Mega-Proteste wie in Genua 2001 zumindest in dieser Groesse nicht so wiederholbar sind. Auch sind die unterschiedlichen Rahmenbedingungen im jeden Land, die allgemeine politische Lage und der Charakter des Treffens der Mächtigen der Welt nicht unwesentlich für das Ausmaß und die Intensität der Proteste.
Auch dürfen wir nicht vergessen, dass selbstverständlich die Herrschenden auch dazu lernen und ihre Taktiken und Konzepte ändern oder anpassen. Der EU-Gipfel 2003 fand deshalb auch sehr weit außerhalb von einer Stadt, nämlich am Strand von Chalkidiki statt, sowie auch der G-8-Gipfel 2003 in Evian (Frankreich). Das Ausweichen auf kleinere bzw. abgelegene Orte ist sicherlich aber auch als Erfolg der massenhaften weltweiten Proteste der letzten Jahre zu werten.
Aber auch die Polizei war bestens auf die Proteste eingestellt: Ein zweites Genua sollte unbedingt vermieden werden. Und das ist Ihnen auch gelungen. Sie haben die Proteste laufen lassen, in entscheidenden Momenten aber eingegriffen, vor allem mit massivem Einsatz von Tränengas, auf den ein Teil der DemonstrantInnen so auch nicht vorbereitet gewesen war. Die Anzahl der Festnahmen war nicht so hoch. Dafür saßen sie Monate im Knast und erreichten erst durch einen langen Hungerstreik ihre "Freiheit". Sie sollen exemplarisch verurteilt werden.
Während die Berlusconi-Regierung nach den Protesten in Genua und den Gewaltexzessen der Polizei gegen Demonstrierende und Schlafende nicht mehr herauskam, gab sich die sozialdemokratische Regierung von Simitis, einem ehemaligen Mitglied der bewaffnet kämpfenden PAK gegen die Papadopoulos -Diktatur (1967-1973/74), die seit den Parlamentswahlen 2004 vom neuen Ministerpräsidenten Griechenlands Karamanlis Nea Dimokratia (ND) abgelöst worden ist, moderat und liberal.
Demonstrieren ja - aber ansonsten alles unter Kontrolle. Diese Devise ging auf.
Dennoch haben sich Tausende vor allem aus Griechenland versammelt, um gegen die Politik der EU zu protestieren. Im Mittelpunkt der Kritik stand vor allem die länderangleichende Abschottungspolitik gegen MigrantInnen. So gesehen waren die Proteste wie an der Grenze oder die Demos auch nur konsequenter Ausdruck der formulierten Kritik.

Was uns als Internationale unklar blieb und nicht ausreichend vermittelt werden konnte, war der Konflikt und die de-facto Spaltung zwischen einem Teil der anarchistischen Bewegung Griechenlands und einem anderen Teil, Salonika 2003.

Das der unterschiedliche Umgang mit Medien ein Punkt des Konfliktes ist, wurde uns ja bewusst.
Wobei sich schon die Frage stellt, warum werden alle Mainstream Medien generell ohne Differenzierung als Feind und pauschal immer als Handlanger des Staates gesehen.
(no kamera - no problem) Ist das wirklich so oder gibt es auch einzelne kritische JournalistInnen, wo unterschieden werden müsste ? Kann es nicht auch Momente geben, in denen eine Öffentlichkeit, gerade auch Mainstream gut sein kann, zum Beispiel im Falle der Solidarität mit den Gefangenen ? Warum müssen immer gleich die Kamera-Leute mit körperlicher Gewalt angegangen werden, wenn es manchmal auch ausreichen würde, den Film zu beschlagnahmen.?
Klar sind uns die Probleme gerade mit Medien bekannt, und wir haben auch nicht die Antwort, sondern vielmehr Fragen, die aber auch gestellt werden sollten.
Klar ist aber auch, dass gerade auch unabhängige und linksradikale, anarchistische MedienvertreterInnen sich über unterschiedliche Bedingungen in den jeweiligen Ländern informieren sollten. Da ist mehr Sensibilität angesagt. Das hätte auf jeden Fall solch unnötigen Eskalationen wie vor dem Gerichtsgebäude verhindern können.
Fehlende Sensibilität auch in anderen Bereichen wie z.B. das Nichtwissen von Konflikten und Trennlinien innerhalb der anarchistischen Szene ist sicherlich auch ein Ausdruck der eigenen Ignoranz, sich vorher nicht eingehender damit beschäftigt zu haben.

Mackertum, Militanzfetisch, und Sexismus sind für uns jedoch die wesentlichen Kritikpunkte, wobei wir gleich vorweg schicken wollen, dass sich diese Kritik selbstverständlich nicht nur an griechische GenossInnen richtet, sondern an alle anderen Internationalen aus sämtlichen Ländern, eben an alle, die zu dieser Atmosphäre mit beigetragen haben.
Sexismus und das Patriarchat, so banal das eben ist, existieren überall auf der Welt, auch wenn es in verschiedenen Ländern verschiedene Erscheinungsformen gibt.
Neben der bereits erwähnten Kritik an der Stimmung und Atmosphäre in der Uni, dem Redeverhalten, den Prügeleien, sind das für uns vor allem die ritualisierte und immer wiederkehrende Gewaltverherrlichung und der Militanzfetischismus.
Das fand seinen Ausdruck in Sprühereien an der Uni aber auch in Plakaten und Demoaufrufen wie z.B. bei einem Plakat, auf dem ein brennendes Auto und ein einzelner Mann Fäuste reckend auf dem Auto stehend zu sehen sind - der "heroische Einzelkämpfer", "Held der Strasse" fehlt nur noch der Hauch von Abenteuer. Ähnlich platte Plakate kennen wir allerdings auch von Mobilisierungen für den 1.Mai in Berlin.
Völlig unklar für uns auch die Frage, ob und wie viele der Fußballfans von PAOK oder anderen Vereinen bei Demos mitmischen ? Gibt es da Absprachen oder zählt als gemeinsamer Nenner nur noch der äußere Feind - die Bullen ? Führt das nicht zu Beliebigkeit und Entpolitisierung und genau zu jener Ungenauigkeit von Militanz, wie wir sie in Thessaloniki gesehen haben ?
Nun ja, ähnliche Geschichten, vielleicht nicht von dieser Intensität und Dichte, aber von der Struktur und dem Erscheinungsbild gab es auch in Genova (2001) beim G8-Gipfel oder beim jährlichen 1.Mai in Berlin-Kreuzberg, und sie werden wahrscheinlich immer wieder auftauchen. Nur - können wir das auch verändern oder gegebenenfalls müssen wir eben unsere eigene Sachen machen.

Denn natürlich sind wir überhaupt nicht gegen MILITANZ. Ganz im Gegenteil, wir halten es für richtig und auch sinnvoll gerade auch bei Gipfeln die Symbole der Herrschaft und die Arroganz der Macht
anzugreifen und wenn möglich dem auch konkreten materiellen Schaden zu zufügen - doch bitte gezielt. Militanz ist eben kein Selbstzweck und Wohnhäuser und Apotheken sind keine Banken oder Konzerne.
Wir sind auch oft in unseren Erscheinungsformen zu eingefahren und berechenbar. Wo bleibt der spielerische, kreative Aspekt unseres Widerstands ? Gerade die Vielfalt und die Überraschungsmomente wie Pink-Silver in Prag 2000 zum Beispiel machen unsere Stärke aus. Und das ohne an Militanz oder Ausdrucksstärke einbüssen zu müssen.

In diesem Sinne
Vamos - No Pasaran - Venceremos !!!!

D r e i L e u t e a u s B e r l i n
Berlin im Juli 2003