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2007-06-14

JULIA NEIGELS BLICK AUF ROSTOCK

(06.06.2007) Mittwoch Morgen: 1:30. Ankunft Bahnhof Rostock. Ein langer Weg
dahin: Bimmelbahn.

Drei erschöpft aussehende Organisatoren stehen vor uns, holen uns ab. Sie
sind vom Bündnis MOVE AGANIST G8, kaum betraut mit dem Umgang von derartig
großen Veranstaltungen, mehr mit Politik und Sozialarbeit. Meine Band ist
mit dem Nightliner auf dem Weg, sie werden morgens ankommen.

Wir fahren durch die Stadt: Passantenleer – dafür Polizei an der jeder Ecke.
Schaufenster mit Holz verrammelt, um das Glas und Ladeninhalt zu schützen.
Auf Anfrage, was am letzten Samstag die Eskalation zwischen Demonstranten
und Polizei ausgelöst hat, bekomme ich zur Antwort, dass sie es nicht sagen
können. Es gibt unterschiedliche Aussagen und Meinungen. Die Stadt hätte von
5 Millionen Euro Schaden berichtet, es waren aber nur 50 000 Euro. Es wurde
erst später korrigiert, aber der gehypte Skandal war schon raus. Die Presse
hackt auf dem Bündnis rum, sagen sie – dabei hat nie Jemand zur Gewalt
aufgerufen, nur zur friedlichen Demonstration. Sie können sich nicht
erklären, woher der “schwarze Block” stammt. Propaganda gegen die
Organisation, die sich hier versammelt hat, um gegen den G8-Gipfel zu
protestieren, ist überall, sagt man. Es wird von Augenzeugen berichtet. Es
geschah bei einem Konzert auf dem Hafenplatz. 70 000 Menschen geraten außer
Kontrolle, weil im hinteren Drittel des Platzes plötzlich die Lage zwischen
einigen Besuchern und der Polizei eskalierte. Ich habe die Fernsehbilder in
Erinnerung. Währenddessen spielt die Band einfach weiter, keine Ansage übers
Mikrofon, sagen sie. Ich frage Andere und bekomme es tatsächlich bestätigt.
Die Band spielte einfach weiter, ohne etwas dazu zu sagen. Sie sagen es
Alle. Ich schüttle unverständlich den Kopf. Wie kann so etwas nur einfach
von den Musikern ignoriert worden sein?

Es heißt, man habe gesehen, wie Rollstuhlfahrern von Polizisten geschlagen
wurde, andererseits weiß man nicht, wer sich hinter dem " schwarzen Block"
verstecke, ob Demonstranten, oder gar gezielt gestreute Unruhestifter, die
die Lage eskalieren lassen sollten? Ich erinnere mich an Bilder, wo
Polizisten auf sitzenden Demonstranten einschlagen. Was soll man glauben?

Ich grüble. Was ist hier wirklich los? Dreimal Kontrolle. Wir kommen im
Hotel an. Noch mal Polizeikontrolle. Ich komme mir vor, wie in Fort Knox. In
der Hotelhalle sprechen alle Amerikanisch. Ich bin schockiert. Die Stadt
existiert praktisch nicht mehr, der Staat hat es zu politischem
Sicherheitsboden gemacht. Überall ist die Präsenz der mächtigsten Politiker
der Welt zu spüren, sogar in der Luft. Das halbe Weiße Haus ist
einquartiert. Hubschrauber fliegen über die Stadt. Sirenengeheule. Wir gehen
an die Bar, ich will Fragen stellen, Alles wissen: Bis 8 Uhr morgens erfahre
ich, was bisher geschah. Ich bin schockiert. Alle wirken erschöpft und
emotional wund. Es ist schon Morgens. Zwischendrin klingeln die Handys.
Keiner hat geschlafen. Es gibt neue Infos. Das Camp wird belagert. Dies und
das. Friedliche Sitzblockade mit Wasserwerfen beschossen. Mein Gott…

Einige Stunden später: Pressekonferenz, Interviews, Besuche in den Camps. 19
Jährige Menschen, eingeschüchtert, misstrauisch, verängstigt. Sie wollen uns
kaum reinlassen, bis ich sage, wer ich bin. Ich sage, traut Euch wieder auf
die Strasse, wir werden ein friedliches Fest feiern. Erleichterung in deren
Augen. Sie versprechen zu kommen – wenn die Polizei sie lässt.

Stadthafen:
Die Band steigt aus dem Bus. Wildes Umhergerenne. Bands aus allen Herren
Länder. Große Umarmung, gute Laune, wenn noch etwas müde. “Ton, Steine,
Scherben” machen ein tolles Konzert. Danach – afrikanische Musik. Draußen
sitzen Menschen auf dem Platz, friedlich, bei sengender Hitze, während
Mannschaftswagen mit Polizei anfahren. Sie sehen sich nicht mal mehr um.

Es ist offensichtlich, dass die Polizei nur zu gerne Konzerte der
Organisation verhindern würde. Viele Rostocker blieben seit Samstag zu
Hause, gehen erst wieder vor die Tür, wenn der Gipfel beendet ist, oder
Herbert zum Konzert vorbeischaut und Hand in Hand Solidarität zeigt. Wird er
die Demonstranten besuchen? Ich hätte zudem nicht gedacht, dass ich
Polizisten aus Ludwigshafen treffen würde, die man hierher zitiert hat. Der
ganze Sicherheits-Staat wurde an die Ostsee gerufen. Es fühlt sich komisch
an, diese offensichtliche Machtdemonstration gegenüber Konzertzuhörern. Ich
gehe auf die Bühne und sehe in tausende Gesichter, die verwirrt sind,
emotional zerschlissen wirken, fast wie unter Schock stehen, die sich
freuen, dass ich ihnen vorschlage, einfach mal zu feiern, an was Anderes zu
denken, sich zu erholen. Ein wenig kommen andere Gedanken auf, man steht
auf, tanzt, klatscht, lacht – bis das Ordnungsamt den Strom abstellt. Ich
hatte 45 Minuten Zeit, den Menschen Freude zu bereiten.
Immer noch bin ich irgendwie benommen, kam mir vor wie eine Krisenmanagerin
unter verwundeten Menschen in einem geistigen Kriegsgebiet. Ich bin traurig
darüber, dass man 150 000 000 Euro ausgeben muss, um 8 Menschen zu schützen
und dabei ein ganze Stadt in Schach hält, Sperren baut, Kontrollen macht,
Alle abtastet, die einfach auf der Strasse laufen. Währenddessen -
Händeschütteln und Grinsen im Fernsehen. Man spricht von Durchbruch – 2050 -
eventuell – und lobt sich selbst. Wow! Wir Alle lachen traurig.
Währenddessen wird ein Schlauchboot von GREENPEACE einfach mal von einem
Militärboot platt gewalzt. Greenpeace – Staatsfeinde, die wie ein Tier
gejagt werden? Später wird man sagen, dass man Verständnis für die
Interessen des Umweltschutz hat, der ja schlichtweg von selbst gekommen ist?
Das soll also der Durchbruch sein? Ein 15 Millionen Euro Zaun, rund um ein
Hotel? Warum sind sie nicht gleich auf eine Insel gefahren? Haben eine
Festung drum herum gebaut? Was hätte man mit all dem Geld machen können? Vor
einigen Monaten habe ich ein Benefiz in einer Mannheimer Kirche gegeben -
gegen den Hunger von Kindern aus der Stadt. Es ist absurd. In Amerika
sterben Bienenstämme, weil sie genmanipulierten Nektar nicht verarbeiten
können und man redet hier von wirtschaftsfördernden Maßnahmen und der
Lizenzverteilung des genkontrollierten Saatgutes unter den G8-Staaten? In
Japan hatten bis vor 2 Jahrzehnten noch 40 000 Reissorten existiert – nun
sind es nur noch 12… Wenn die G8-Staaten ihr Globalisierungssystem noch
weiter perfektionieren wollen, blieben in einem Jahr bald nur noch 8 Sorten
übrig. Die Menschheit verkünstlicht die Natur bis zur Unkenntlichkeit. Ich
frage mich, wann man beim Menschen anfängt, nur noch 12 Menschenarten zu
züchten, gleiche Größe, gleiche Farbe, gleiche Form? Es ist leicht, in
diesen Tagen sarkastisch zu sein, beim Anblick eines Polizeiauflaufes, der
beinahe die Anwohnerzahl einer Hafenstadt übersteigt.

Meine Gedanken drehen sich. Ich komme mir so hilflos vor. Wir Alle scheinen
Marionetten in deren Machtspiel, ich will das nicht. Das muss aufhören. Ich
bin entsetzt, dass – unabhängig der berechtigten Vorwürfe an einer kleinen
Gruppe gewaltbereiter Demonstranten – eine 6-stellige Masse an Menschen in
ihren Grundrechten, öffentlich gegen solche Entwicklungen, die genau bei
solchen Treffen verhandelt werden, zu protestieren, derart beschnitten wird
- unter den tatenlosen, aber voyeuristischen Augen der ganzen Nation. Es ist
Anders als berichtet wurde: Handys der Organisatoren klingen, wenn man sie
benutzt, als würden sie abgehört, es knackt, knarrt, rauscht, piepst. Alles
Einbildung? Ich höre auch mal hin. Glaub ich nicht – ich bin neu und
unverbraucht – keine Einbildung, wie ich finde. Komischer Sound im Hörer…
Pressekonferenzen in Zelten sind voll mit ausländisch plappernden
Journalisten, die sich nicht wirklich über das Gesagte Gedanken machen. Die
Welt blickt auf eine Nation, Denen mit aller Macht verboten wird, einem
monopolistisches Treffen – abgehalten ohne demokratischer Kontrolle und
Aufsicht – kritisch zu begegnen. Wenn es ein Weltkartell-Amt gäbe, hätten
sie es längst verboten. Ich kritisiere über Rednerpult die Willkür der
Mächtigsten und dass man bitte aufhören möge, Monopoly mit der Welt zu
spielen. Während meine Stimme durch das Pressezelt hallt, wuseln Reporter
zwischen Handys und Laptops, Kameras klicken unentwegt, tuscheln, ich höre
Fragen der japanischen Reporter an die deutschen Kollegen, wer ich bin. Ich
versuche mich zu konzentrieren und rufe auf, die Erde für unser aller Kinder
zu schützen. Ein süffisantes, resigniert aufblickendes Lächeln der
Journalisten ist deren Antwort auf meine Bitte, fast so, als ob man sagen
wolle, was will man schon dagegen tun? Die machen doch eh, was die wollen…
Wir sind doch nur Voyeure bei Treff der Giganten. Man schreibt fleißig mit
und ist immer dabei, wenn es rund geht… Eigenartiges Gefühl, hier in
Rostock. An diesen Tagen – beim Aufruf an die Welt für eine bessere Welt .

Ich bin immer noch benommen…

Julia Neigel