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2010-05-07

Griechenland: Statement zu den Toten von AnarchistInnen

Translations: Suomi | Español | Deutsch | Türkçe | Français

Was bedeuten die Ereignisse des 5.5. wirklich für die anarchistische/antiautoritäre Bewegung? Wie verhalten wir uns angesichts des Todes dreier Menschen – unabhängig davon, wer dafür verantwortlich ist? Wo stehen wir als Menschen und kämpfende Subjekte? Wir, die nicht an „Einzelfälle“ (von Polizei- und Staatsgewalt) glauben und täglich den Zeigefinger erheben gegen diese Gewalt des Staates und des kapitalistischen Systems. Wir, die den Mut haben die Dinge beim Namen zu nennen, jene anzuklagen, die Migranten auf Polizeiwachen misshandeln oder unser Leben aus glamourösen Büros und TV-Studios heraus diktieren wollen. Was haben wir zu den Ereignissen zu sagen?

Wir könnten uns hinter dem Statement der Gewerkschaft der Bankangestellten (OTOE) und den Anschuldigungen der Kollegen der Toten verschanzen, dass die Getöteten am Streiktag zur Arbeit in einem Gebäude ohne ausreichenden Feuerschutz gezwungen, ja sogar eingesperrt, wurden. Wir können uns darauf ausruhen, was für ein Arschloch Vgenopoulos, der Besitzer der Bank, ist. Oder wie diese Tragödie genutzt wird, eine nie dagewesenen Repressionswelle loszutreten. Wer sich traute Mittwoch Nacht durch Exarcheia zu gehen, konnte sich ein Bild davon machen. Aber das ist nicht der Punkt.

Pic: Greece

Der Punkt ist, welche Verantwortung wir alle tragen. Wir sind alle gemeinsam verantwortlich. Wir haben alles Recht mit aller Macht gegen die ungerechten Maßnahmen zu kämpfen, die uns aufgezwungen werden. Es ist richtig, all unsere Stärke und Kreativität auf die Vision einer besseren Welt zu richten. Aber als politische Menschen sind wir verantwortlich für jede einzelne unserer politischen Entscheidungen – für die Mittel die wir im Kampf wählen und auch für das Schweigen, wenn wir uns Schwächen und Fehler nicht eingestehen wollen. Wir reden dem Volk nicht nach dem Mund, es geht uns nicht um Wählerstimmen. Wir haben nicht das Interesse irgendjemanden auszunutzen. Gerade wir haben die Möglichkeit unter diesen tragischen Umständen ehrlich zu uns selbst und mit den anderen zu sein.

Die anarchistische Bewegung ist momentan in einem Zustand der totalen Starre. Der Prozess der Selbstkritik wird unter den gegeben Umständen weh tun. Neben dem dramatischen Umstand, dass Menschen getötet wurden, die auf „unserer Seite“ standen, der Seite der Arbeiter (die, nebenbei, vermutlich an unserer Seite demonstriert hätten, wären sie nicht zur Arbeit gezwungen worden), müssen wir uns mit Demonstranten auseinandersetzen, die das Leben anderer gefährden. Auch, und davon gehen wir aus, wenn kein Tötungsvorsatz bestand, müssen wir uns mit den Mitteln zur Erreichung unserer Ziele auseinandersetzen.

Dieser Vorfall ereignete sich nicht in der Nacht während einer Sabotageaktion. Er passierte im Verlauf der größten Demonstration der jüngeren Geschichte Griechenlands. Das ist der Punkt, wo wir uns einer Reihe unangenehmer Fragen stellen müssen: Besteht während einer Demo von 150.000-200.000 Menschen, der größten seit Jahren, wirklich ein Grund zur Eskalation der Gewalt? Wenn tausende „Brennt das Parlament nieder!“ skandieren und die Polizisten beschimpfen, bringt dann eine weitere ausgebrannte Bank die Bewegung überhaupt noch weiter?

Wenn die Bewegung richtig groß wird – etwa wie im Dezember 2008 – was kann dann eine Aktion bewirken, die über das hinaus geht, was unsere Gesellschaft im Moment vertagen kann oder gar Menschenleben auf Spiel setzt?

Wenn wir auf die Straßen gehen, sind wir eins mit den Menschen um uns herum. Wir sind ganz an ihrer Seite. Das ist letztlich, weshalb wir uns die Ärsche aufreißen, Flugblätter schreiben und Plakate kleben. Wir sind ein Teil der Bewegung, die dort entsteht. Es ist an der Zeit, offen über Gewalt zu sprechen und eine spezielle Kultur der Gewalt zu hinterfragen, die sich in den letzten Jahren in Griechenland etabliert hat. Unserer Bewegung ist nicht wegen der manchmal drastischen Wahl ihrer Mittel gewachsen, sondern wegen unseres politischen Ausdrucks. Der Dezember 2008 ist nicht in die Geschichte eingegangen, weil tausende Steinen und Brandsätze geworfen haben, sondern wegen des sozialen und politischen Charakters. Selbstverständlich wehren wir uns gegen die Gewalt, die sich gegen uns richtet. Dennoch müssen wir unsere politischen Entscheidungen ebenso hinterfragen wie die Mittel der Auseinandersetzung. Dabei müssen wir unsere Grenzen und die unserer Mittel anerkennen.

Wenn wir von Freiheit sprechen, heißt das, dass wir in jedem Augenblick in Frage stellen, was gestern noch sicher schien. Wir kämpfen bis zum Ende und sehen der Realität ins Auge. Gewalt ist kein Selbstzweck und wir werden nicht zulassen, dass sie die politische Dimension unserer Aktionen überdeckt. Wir sind weder Mörder noch Heilige. Wir sind Teil einer sozialen Bewegung mit Stärken und Schwächen. Statt durch diese riesige Demonstration bestärkt, fühlen wir uns heute wie betäubt, was einiges aussagt. Wir müssen diese Tragödie zur Einkehr nutzen, uns gegenseitig inspirieren. Letztlich handeln wir alle ausgehend von unserem Bewusstsein. Die Schaffung eines solchen kollektiven Bewusstseins steht auf dem Spiel.

Source: http://de.indymedia.org/2010/05/280640.shtml