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05.03.2008

Die europäische Sicherheitsarchitektur einstürzen!

Für mehr sicherheitskritisches Verhalten in Europa: Gegen NATO, G8 und die schwedische EU-Präsidentschaft 2009

Aus dem Widerstand gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm lassen sich, wie auch bei anderen Protesten zuvor, Schlussfolgerungen zum Gelingen einer breiten Mobilisierung ziehen. Neben den drei großen selbstorganisierten Protest-Camps und einer internationalen Infotour im Vorfeld des Gipfels wurde eine internationale Bezugnahme und Vernetzung durch ein Vorbereitungscamp und Treffen außerhalb Deutschlands versucht. Innerhalb der Bewegungen wurde entschieden, sich nicht auf die G8-Klima-Debatte einzulassen und stattdessen die Proteste unter eigene Kampagnen-Themen zu stellen: Migration, Antimilitarismus und Globale Landwirtschaft.

Mit diesem Text wollen wir einige dieser Punkte mit Blick auf den NATO-Gipfel in Strasbourg/ Kehl und den G8 in Italien, aber auch die schwedische EU-Präsidentschaft 2009 aufgreifen. Wir schlagen eine Kampagne gegen eine “Europäische Sicherheitsarchitektur” vor. Wir skizzieren Entwicklungen polizeilicher Zusammenarbeit auf EU-Ebene und wünschen uns eine europäische Antirepressionsarbeit, die über eine bloße Kritik und Skandalisierung von Polizeigewalt hinausgeht. Diese politische Antirepressionsarbeit muss neue Formen sozialer Kontrolle als integralen Bezugspunkt von radikalen Bewegungen ernst nehmen.

Bild: Genua

No Future für Freiheit

Spätestens nach dem 11. September 2001 haben sich nicht nur die außenpolitischen Koordinaten der EU verändert. Unter der Devise “Terror comes home” wurden seitdem weit reichende Veränderungen europäischer Innenpolitik und Polizeiarbeit hin zu einem “präventiven Sicherheitsstaat” beschlossen. Während die EU-Außengrenzen mit neuer Technik und grenzüberschreitender Zusammenarbeit weiter abgeschottet werden, nehmen Überwachung und Kontrolle innerhalb der EU stetig zu. Dazu kommen militärische und polizeiliche Auslands-Operationen der EU in sogenannten “Drittstaaten”. Die EU will Modell stehen für einen Sicherheitskomplex, den sie als “Servicanbieter” in andere Länder exportieren kann. Diese Zuspitzung richtet sich nicht nur gegen MigrantInnen und “sicherheitskritisches Verhalten”. Sie bietet willkommene Spielräume, einer wiederaufflammenden globalisierungskritischen Bewegung ein paar Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Die Europäische Union definiert Europa seit 1999 als einen “Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts”. Zukünftig gibt es mehr polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen. InnenpolitikerInnen träumen von einem EU-Innenministerium.

Auf polizeilicher Ebene haben Organe der EU mehr Kompetenzen erhalten, neue Institutionen und Programme sind entstanden. 2007 trat erstmals die sogenannte “Future Group” zusammen. Sie konstituiert sich aus den Innenministern der Länder die den EU-Vorsitz der nächsten 6 Jahre innehaben. Die “Future Group” bezeichnet sich selbst als “informell” und nimmt Einfluss auf innenpolitische Weichenstellungen in Bezug auf den EU-Vertrag und die Verhandlungen in Lissabon. Die Einrichtung der “Future Group” fiel zusammen mit der EU-Präsidentschaft Deutschlands im Jahr 2007. Unter dem Motto “Europa sicher leben” hat der deutsche Bundesinnenminister Schäuble erfolgreich an einer Verschärfung europäischer Innenpolitik gearbeitet 1.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Bisher war grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit nur zwischen einzelnen Ländern im “Vertrag von Prüm” geregelt und fand ihren Ausdruck z.B. beim G8-Gipfel 2003, als deutsche Polizei in Genf mit 500 Kräften und 5 Wasserwerfern gegen DemonstrantInnen eingesetzt war. Der “Vertrag von Prüm” war ein Test und wird nun in den “Rechtsrahmen der EU überführt”. Er ist damit für alle Mitgliedsländer gültig. Alle Polizeibehörden werden Zugriff auf DNA- und Fingerabdruckdateien sowie Fahrzeugregisterdaten haben. Informationsaustausch zu “Terrorismusverdächtigen und reisenden Gewalttätern” wird vereinfacht, um Reisesperren zu verhängen oder damit “Randalierer schnell erkannt und festgenommen” werden können. Zur Europameisterschaft 2008 in Österreich und in der Schweiz waren 1.700 deutsche PolizistInnen eingeplant.

Europol als Schnittstelle polizeilicher Zusammenarbeit in Den Haag darf nun nicht mehr nur Daten sammeln und Polizeien der EU-Mitgliedsländer beraten. Durch einen EU-Parlamentsbeschluß vom Januar 2008 wird aus dem “Europäschen Polizeiamt” nun eine EU-Agentur zur “Koordinierung, Organisation und Durchführung von Ermittlungen und von operativen Maßnahmen”. Der Zuständigkeitsbereich erweitert sich von “organisierter Kriminalität” um “andere Arten schwerer Straftaten”, also auch politische Aktionen. Der Zugriff auf das “Europol-Informationssystem” erfolgt zukünftig ohne Umweg über “Verbindungsbeamte”.
Diese “Verbindungsbeamte” werden von Polizeien aller Mitgliedsstaaten in europäische Kontroll- und Entscheidungsgremien entsandt. Dazu sind sie in polizeilichen Lagezentren bei Großereignissen vertreten. Sie haben offiziell eine “beratende Funktion”. Tatsächlich stellen sie wichtige Knoten im informellen Netzwerk europäischer Polizeikooperation dar. Sie haben Zugriff auf alle Datenbanken des Entsenderlandes und sind mit Kenntnissen z.B. von politischen Gruppen bei Gipfelprotesten ausgestattet. Verbindungsbeamte koordinieren z.B. Reisesperren, die zuletzt beim G8 2007 dazu führten dass 600 Personen nicht einreisen durften weil sie z.B. zuvor “im Zusammenhang mit G8 auffällig wurden”.

Europa – Ein Raum von Überwachung und Kontrolle

Die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten wird ausgeweitet. In Deutschland haben das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz ein “Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum” bezogen, wo sie zwar räumlich getrennt sind, aber tägliche gemeinsame Lagebesprechungen durchführen und sich mittags in der Cafeteria treffen. Diese Kooperation führte zu einer massiven Überwachung der Anti-G8-Bewegung und der Einleitung von Ermittlungsverfahren mit Terrorismus-Vorwurf. Der deutsche Terrorismus-Paragraph erlaubt weitgehende Eingriffe in die Privatsphäre und führte z.B. zur Feststellung aller Mobiltelefone bei Treffen des linksradikalen dissent!-Netzwerks gegen den G8. Die Akteneinsicht Betroffener ergab dass die Ermittlungen zwar von der Polizei betrieben, aber vom Geheimdienst initiiert waren. “Gemeinsame Terrorismusabwehrzentren” sollen auf Vorschlag des deutschen Innenministeriums in allen EU-Mitgliedsstaaten entstehen.

Die Überwachung des Internets nimmt europaweit zu. Das deutsche Bundesinnenministerium hat eine europäische Initiative “check the web” zur Bekämpfung eines “internationalen Terrorismus” gestartet. Am 8. Mai 2007 hat Europol ein “Informationsportal” freigeschaltet. Deutsche Polizei und Geheimdienste wollen zukünftig eine gemeinsame “Internet Monitoring und Analysestelle” betreiben. Europaweit sollen solche “Internetüberwachungszentren” entstehen, die Webseiten zum Teil automatisiert überwachen und in polizeilichen Datenbanken archivieren. Neue Software findet in diesen Datenbankeinträgen “Entitäten”, also begriffliche Übereinstimmungen oder Schnittstellen zwischen Personen und Objekten (“Semantische Technologien”). Die Sicherheitsindustrie entwickelt Programme, die sogar in unterschiedlichen Dateiformaten suchen kann. Damit können Text-, Audio-, Video- und GPS-Daten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Verfolgungsbehörden einiger Länder nutzen bereits Software der Firma SPSS, die nach Auswertung von Datenbeständen eine “Vorhersage von Straftaten” ermöglichen soll. Die Firma beschreibt diesen Vorgang als die “Evolution in der Verbrechensbekämpfung”.

Mehr polizeiliche Repression und justizielle Verfolgung lässt sich auch in anderen Ländern Europas beobachten. In Italien wurden beispielsweise in zahlreichen Verfahren im Kontext des G8 2001 oder Demonstrationen gegen Militarismus und Faschismus Haftstrafen zwischen 6 und 12 Jahren verhängt. In anderen Ländern werden Polizeigesetze geändert, um Polizeien mehr Spielraum gegen “sicherheitskritisches Verhalten” zu verschaffen.
Radikale Veränderungen haben unter der Sarkozy und Berlusconi stattgefunden. In Frankreich können diejenigen Flugpassagiere, die als erstes gegen die Mitnahme von Abschiebehäftlingen protestieren, wegen Rädelsführerschaft angeklagt werden. Die italienische Polizei will Kinder von Roma Fingerabdrücke abnehmen, wenn sie allein auf der Straße angetroffen werden. Italienische Polizei wird fortan von 2.500 Militärs bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit unterstützt.
Das neue österreichische Sicherheitspolizeigesetz vereinfacht rassistische Kontrollen von MigrantInnen. Die deutsche Bundespolizei bekommt mehr Kompetenzen für Einsätze im Ausland, aber auch im Inland etwa gegen politische Proteste. EU-Mitgliedsstaaten setzen europäische Vorgaben um und “harmonisieren” ihre Landesgesetze beispielsweise im Rahmen der “Vorratsdatenspeicherung” (Data Retention). Telekommunikationsanbieter und Provider müssen Verbindungsdaten speichern und der Polizei auf Anfrage übermitteln. Die Polizei ist damit in der Lage jede Kommunikation nachzuvollziehen und soziologische Beziehungs-Diagramme zu erstellen. Schutz vor Überwachung wird zunehmend eingeschränkt. So sind NutzerInnen von Verschlüsselung in Österreich und Großbritannien gesetzlich gezwungen der Polizei Paßwörter herauszugeben. InnenpolitikerInnen betreiben eine allgemeine Zusammenlegung aller polizeilichen Datenbanken europäischer Polizeien.

Institutionen und Forschungsprogramme der europäischen Sicherheitsarchitektur

Um massenhaften Widerstand etwa bei G8-Gipfeln besser kontrollieren zu können wurden neue Institutionen und Forschungsprogramme ins Leben gerufen. Europäische Polizeieinheiten führen gemeinsame Trainings und Manöver in der Bekämpfung von Demonstrationen durch. In europäischen Polizei-Akademien werden Einsatztaktiken für “Crowd Managment” entworfen. Eine zentrale Rolle spielt die Europäische Polizeiakademie, CEPOL, mit Sitz in Hampshire, Großbritannien: “CEPOL’s mission is to bring together senior police officers from police forces in Europe – essentially to support the development of a network – and encourage cross-border cooperation in the fight against crime, public security and law and order by organising training activities and research findings”.
Nach den Gipfelprotesten in Genua und Göteborg 2001 initiierte die EU 2004 das Forschungsprogramm “Coordinating National Research Programs on Security during Major Events in Europe” (EU-SEC). EU-SEC koordiniert Polizeibehörden von EU-Staaten und Europol und gibt ein Handbuch gegen Gipfelproteste heraus. Polizeien wird empfohlen, Protestbewegungen zu überwachen, Daten auszutauschen, Reisesperren zu verhängen und eine aggressive Medienstrategie zur Delegitimierung des Widerstands zu betreiben. Mittels Fragebögen werden Informationen über europäische Gruppen und Personen gesammelt: Aktionsformen, Webseiten, Mailadressen, internationale Kontakte, bevorzugte Reisewege, Transportmittel und Unterkünfte.
EU-SEC wird koordiniert und gesteuert vom “United Nations Interregional Crime and Justice Research Institute” (UNICRI). Unter dem Motto “Advancing security, serving justice, building peace” unterhält das UN-Institut mehrere Arbeitsgruppen zu Themen rund um Sicherheit. UNICRI gibt das “Counter-Terrorism Online Handbook” heraus.
Beim UNICRI angesiedelt ist eine Arbeitsgruppe “International Permanent Observatory on Security during Major Events” (IPO) mit Sitz im italienischen Turin. Das IPO berät Regierungen bei der Planung der Sicherheitsarchitektur für Großereignisse. Die Inanspruchnahme ist für die anfragende Behörde kostenlos. Zur Zeit wird an einem “Handbuch für G8-Staaten” gearbeitet. Offizielle Einsatzgebiete seit der Gründung 2006 waren bisher die G8-Gipfel in St. Petersburg und Heiligendamm, der Weltbank-/ IWF-Gipfel in Singapur und das APEC-Treffen in Vietnam. Auch die Olympiade 2008 in Peking sowie der G8-Gipfel in Japan 2008 werden vom IPO “betreut”.

Ein stark gekürzter Auszug des Unterstützungsangebots:

  • Aufklärung: Geheimdienstdatenbanken, Ziel- und Problemidentifizierung, Erhalt und Auswertung von Informationen, Internet- und Telekommunikationsangelegenheiten
  • Notfallplanung und Krisenmanagement: Strafverfolgungsplanung, Festnahmen und Gerichtsmassnahmen, Beschwerden gegen Polizei und Sicherheitskräfte
    » Verkehrsmanagement: Automatische Kennzeichenerkennung
  • Kommandogewalt und Kontrolle: IT Infrastruktur, Videoüberwachungsanlagen, Kommandozentralen, Gegenangriffe für Cyber-Attacken
  • Planausarbeitung und Projektmanagement: Rekrutierung von Planungspersonal, Finanzmanagement
  • Sicherheit am Veranstaltungsort: Zäune, Absperrungen, Schranken und Tore, Gegenangriffe, Reaktionen auf öffentliche Unordnung, Pferde und Hunde, Handhabung von Menschenmassen, Strategien für “schwache Ziele” wie z.B. Sponsoren und Medienzentren sowie Hotels
  • Medien- und PR Strategien: Pressebeziehungen, Medienbeziehungen, Einbezug der lokalen Gemeinden, Geschäftsinteressenten
  • Schutz von wichtigen Personen: geheimer Schutz, Management von Roten Zonen, Konvoi-Management, Evakuierungsplanung, Gatten/Partnerprogramme
  • Luftraumunterstützung: Hubschrauberoperationen, Luftraumobservation und Logistik
  • Logistik und personelle Ressourcen: Unterkunft und Ausrüstung, Transportzeitplanung, Erholung und Essensversorgung

Border Control: Migrationskontrolle wird militarisiert

Mit der Erweiterung der EU-Mitgliedsländer und dem Wegfall von Grenzkontrollen werden die neuen EU-Grenzen technisch aufgerüstet: Nachtsichttechnik, automatisierte Auswertung von Videoüberwachung, Hochfrequenzkabel die den Wassergehalt von in der Nähe befindlicher Körper messen und weitergeben. Neue gemeinsame Lagezentren sind entstanden. Durch die Ausweitung des Schengen Informationssystems II (SIS II) stehen den Polizeien mehr Daten zur Verfügung. Im Visum Informationssystem (VIS) sollen Fingerabdrücke und biometrische Daten von MigrantInnen gespeichert werden. InnenpolitikerInnen beklagen die unzureichende polizeiliche Kontrolle von MigrantInnen und wünschen sich den Einsatz von RFID-Chips (Chips mit Radiowellen) in Reisepässen. Die Chips könnten etwa an öffentlichen Orten InhaberInnen abgelaufener Visa akustisch identifizieren, ohne dass der Pass vorgezeigt werden müsste.

Mit der Gründung der “Grenzschutzagentur Frontex” in Warschau hat die EU-weite “Migrationsabwehr” ein weiteres Standbein bekommen. Der Generaldirektor Ilkha Laitinen, ein finnischer Grenzoffizier, fasst das “Integrated Border Management” von Frontex mit dem folgendem Kriterium zusammen: “Alle, die es nicht verdienen und die man nicht auf seinem Territorium haben will, müssen aufgehalten werden”. In einem “Risikoanalysezentrum” werden Flüchtlingsbewegungen prognostiziert, Informationen an beteiligte Grenzschutzpolizeien weitergegeben und Maßnahmen “empfohlen”. Frontex führt ein “technisches Zentralregister” (“Toolbox”) für Ausrüstung der Mitgliedstaaten zur Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen. Frontex führt gemeinsame Operationen mit nationalen Polizeien durch (“Frontex Joint Support Teams”). Zwar verfügt Frontex über keine eigenen Einheiten zur Flüchtlingsbekämpfung. Grenztruppen der Mitgliedsländer werden aber massiv aufgerüstet. So haben die italienischen Carabinieri neue Boote, Hubschrauber und Überwachungstechnik erhalten. Im Zentralregister von Frontex sind nach eigenen Angaben 115 Schiffe, 27 Hubschrauber, 21 Flugzeuge eingetragen. Neben Trainings führt Frontex Forschungsprogramme durch. So wird etwa der Einsatz von “Drohnen” zur Überwachung der Grenzen untersucht und empfohlen.
Direktor Laitinen wünscht sich zukünftig eigenes Material und operative Kräfte.

Polizeiliche Aufstandsbekämpfung außerhalb der EU

Der Vertrag von Lissabon sieht “Reformen” auch im Bereich der Militärpolitik vor. Die “Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik” (ESVP) fordert eine “schrittweise Verbesserung der militärischen Fähigkeiten”. Spätestens 2010 soll die EU bewaffnete Einheiten bereitstellen. Die erste EU-Battlegroup wurde im Januar 2007 für vollständig einsatzfähig erklärt, eine andere war bereits 2006 maßgeblich am EU-Militäreinsatz in Kongo beteiligt.
Die EU hält allerdings ein weit weniger beachtetes Mittel zur Intervention in “Drittstaaten” vor: Die “Europäische Gendarmerietruppe” (EGF). Die EGF ist eine paramilitärische Polizeieinheit, ihre Einrichtung wurde auf den G8-Gipfeln 2002 und 2004 beschlossen. Sie soll innerhalb von 4 Wochen 3.000 PolizistInnen mobilisieren können. Truppen stellen bisher die Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien und Portugal. Die EGF soll nach Militäreinsätzen in Krisengebieten die polizeiliche Kontrolle übernehmen und die “Öffentliche Ordnung” beim “Auftreten öffentlicher Unruhen” gewährleisten.
Der Einsatz von Polizei im Ausland gilt als “Ziviles Instrument”. Bisher ist die Wahrung der “Öffentlichen Ordnung” in “Drittstaaten” Aufgabe der Militärs, die bereits mit polizeilichen Einheiten zusammenarbeiten. In Bosnien wurden z.B. Angehörige der deutschen Bundeswehr von italienischen Carabinieri ausgebildet. Zu den offiziellen Aufgaben der EGF gehört z.B. “das gesamte Spektrum polizeilicher Einsätze, zivile Befehlsgewalt oder militärisches Kommando, Kontrolle lokaler Polizeibehörden, Strafermittlungstätigkeiten, Tätigkeiten zur geheimdienstlichen Informationsbeschaffung, Schutz des Eigentums” etc. Das Statut der EGF schließt einen Einsatz innerhalb der EU nicht aus.
Das Hauptquartier der EGF ist im italienischen Vicenza in einer Kaserne der Carabinieri untergebracht.
Ebenfalls in Vicenza unterhält die Polizeitruppe eine eigene Akademie (COESPU), auf der die eigenen Kräfte sowie Einheiten anderer Länder ausgebildet werden. Die Akademie wird von den G8-Staaten finanziert. Bei der COESPU erhielten auch pakistanische und kenianische Polizeiführer eine Ausbildung in “Riot Control”, die im Dezember 2007 Hunderte DemonstrantInnen das Leben kostete.

Die Bedeutung für radikale Bewegungen

“Die Unterscheidung zwischen Völkerrecht im Frieden und Völkerrecht im Krieg passt nicht mehr auf die neuen Bedrohungen”, erklärt der deutsche Innenminister Schäuble. “Die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit ist obsolet”, pflichten die deutsche Kanzlerin und der Chef des Bundeskriminalamts bei.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die politische Praxis von radikalen Bewegungen im Allgemeinen und der europäischen globalisierungskritischen Bewegung im Besonderen, außer “noch mehr Repression”? Eine Auseinandersetzung mit Repression muss ein integraler Bestandteil einer radikalen Bewegungspraxis sein. Deutlich wird, dass sich die Spielräume für linke Intervention durch den Sicherheitswahn nach dem 11.September nicht gerade vergrößert haben. Wir denken, dass es nicht nur das Tempo oder das Ausmaß der Maßnahmen ist, das sich verändert. Die gesamte gesellschaftliche Matrix, in der linksradikale Politik gemacht wird, gerät in Bewegung. Die Qualität von Überwachung und sozialer Kontrolle hat eine andere Form angenommen. Das hat neben neuen technologischen Möglichkeiten vor allem zu tun mit transnationaler Koordination von Kontrollinstanzen und der politischen “Verschränkung innerer und äußerer Sicherheit”. “Krieg” und “Repression” sind dann irgendwann von gestern, heutzutage dreht sich alles um “Sicherheit”.
Gleichzeitig sehen wir jedoch auch konkrete Möglichkeiten, die sich vollziehende Einengung von Bewegungsräumen als Chance für neue Bündnisse zu begreifen, die breite gesellschaftliche Diskussionen und unerwartete Interventionen ermöglichen. Eine Verknüpfung von klassischer Antmilitarismus-, Antirepressions- und Migrationspolitik liegt jedenfalls auf der Hand. Und die Tatsache, dass das Ausmaß der neuen Maßregeln und Institutionen bis weit in den Alltag einer jeden Europäerin hineinreicht dürfte genügend Anknüpfungspunkte bieten, einen pro-aktiven Ungehorsam gegenüber der europäischen Sicherheitsarchitektur auszutragen.
Unseres Erachtens bietet der G8-Gipfel 2009 hier einige Anknüpfungspunkte.

Gegen die europäische Sicherheitsarchitektur

Die Entscheidung, das 60jährige „Jubiläum“ der NATO im Frühjahr 2009 gemeinsam im französischen Strasbourg und dem deutschen Kehl zu zelebrieren löste bereits hektische Betriebsamkeit innerhalb der antimilitaristischen Linken in einigen Ländern Europas aus. In Frankreich wie in Deutschland will die etablierte Friedensbewegung die Proteste gegen die NATO primär am Afghanistan-Krieg verankern. Gerade der NATO-Gipfel wäre aber eine gute Gelegenheit, das komplexe Gebilde dieser „globalen Sicherheitsarchitektur“ und die Rolle beteiligter Institutionen in den Focus zu nehmen. Militär und Polizei unterhalten ein stets an neuer Technikforschung ausgerichtetes Unterdrückungsrepertoire: Computergestützte Kommandoführung, Ermittlungssoftware, Wärme- und Körperflüssigkeitsdetektoren an Grenzen, GPS-Sender, Satellitenüberwachung, fliegende Kameras, Taser etc. Militärische und polizeiliche Arbeitsfelder überschneiden sich zunehmend im Bereich von neuer Gesetzgebung und operativem Einsatz, aber auch der Schaffung von Querschnittsorganisationen wie der Europäischen Gendarmerietruppe in Vicenza. Genug Gründe also, mit der Anti-NATO-Mobilisierung eine radikale Kritik an der Militarisierung sozialer Konflikte im Innern wie in der Außenpolitik zu formulieren.

Der G8 in Italien böte die Möglichkeit, die internationale polizeiliche Koordinierung gegen Gipfelproteste öffentlich zu machen und zu kritisieren. Das EU-SEC-Programm gegen politische Massenproteste nahm nach dem G8 in Genua seinen Anfang. Die UN-Initiative “International Permanent Observatory on Security during Major Events” wird von Turin aus koordiniert. Wir gehen davon aus dass der G8 2009 nach den Erfahrungen des G8 2001 für alle diese Einrichtungen ein Prestige-Projekt wird. Ihre Vorbereitungen für den G8 2009 dürften längst begonnen haben.

Würden sich italienische Bewegungen für Militarismus als ein prominentes Mobilisierungsthema gegen den G8 entscheiden, könnte diese Kritik einer militarisierten Außenpolitik zusammengehen mit dem Widerstand gegen die neuen Koordinaten einer europäischen Innenpolitik. Widerstand gegen diese “Verpolizeilichung innerer und äußerer Sicherheit” könnte an der Bewegung gegen die NATO-Basis Dal Molin im italienischen Vicenza anknüpfen. Es gibt eine jahrelange Protestbewegung gegen den Ausbau der Basis, die bereits zu einigen Großdemonstrationen mobilisiert hat. Vicenza als Sitz der Europäischen Gendarmerietruppe könnte fortan ebenso ein Symbol für den Widerstand gegen die paramilitärische Organisierung europäischer Polizei werden.
Hinzu kommt, dass nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit “Eulex” die größte EU-Polizeimission mit 2.000 Polizeikräften, hauptsächlich aus Deutschland und Italien, beschlossen wurde. 700 von ihnen sollen bei Demonstrationen eingesetzt werden. Von italienischer Seite dürfte diese Aufgabe von den Carabinieri-Einheiten der EGF übernommen werden. “Eulex” unterstützt die KFOR-Truppen der NATO im Kosovo mit dem Aufrechterhalten der “öffentlichen Ordnung” und verbindet militärische mit “ziviler” Intervention.

Die Mobilisierung nach Italien wird einen Umgang mit der Erinnerung an die Tage und Nächte von Genua finden müssen. Vermutlich werden etliche AktivistInnen wegen Erfahrungen mit Polizei und Carabinieri (oder auch nur Berichten ihrer FreundInnen) nicht an einem G8-Protest in Italien teilnehmen wollen. Viele fühlen sich seitdem traumatisiert, vielleicht lässt sich das sogar für die Bewegungen des “Summer of Resistance” in Göteborg und Genua 2001 verallgemeinern. Mit dieser Traumatisierung wäre ein Ziel polizeilicher Repression erreicht: Die Unterbindung von Protest. Eine der möglichen Strategien zur Überwindung eines Traumas ist das Erinnern und Wiedererzählen. Eine Mobilisierung gegen militarisierte europäische Außen- und Innenpolitik könnte z.B. die Rolle der paramilitärischen Carabinieri in Genua verbinden mit ihrer gegenwärtigen Einbindung in die “europäische Sicherheitsarchitektur” (Frontex, EGF).
Es ist davon auszugehen, dass 2009 noch nicht alle Hauptverfahren rund um den G8 in Genua gegen DemonstrantInnen und Angehörige der Polizei abgeschlossen sind. Verurteilte AktivistInnen gehen in Revision. Vermutlich wird die Öffentlichkeitsarbeit zu diesen Prozessen in die Mobilisierung 2009 integriert.

2009 endet das „Haager-Programm“ des EU Kommissariats für Freiheit, Sicherheit und Recht. Veränderungen und neue Zielsetzungen der „europäischen Sicherheitsarchitektur“ werden ab 1. Juli unter schwedischer EU-Präsidentschaft in einem neuen 5 Jahres-Programm festgeschrieben. Die Zusammenarbeit der Polizeien Europas sowie von Europol, Eurojust und Frontex sollen optimiert und effizienter gestaltet werden. Durch den „ständigen Fachausschuss“ im Europarat „COSI“ wünschen sich InnenpolitikerInnen die schrittweise Installation eines EU-Innenminsteriums.

Im September 2008 findet im schwedischen Malmö das Europäische Sozialforum statt. Dort soll es ein Panel zu Repression geben. Wir schlagen vor, das Sozialforum wie auch ein geplantes paralleles autonomes Treffen als eine der Etappen für eine europäische Koordinierung von polizeikritischen Gruppen, Antirepressionsinitiativen und solidarischen JuristInnen zu nutzen. Dort könnten innenpolitische Entwicklungen von Überwachung und Kontrolle in Europa zusammengetragen werden. Interessieren würde uns z.B., welchen Widerstand es in Europa gegen die “Europäische Sicherheitsarchitektur” gibt, wie Forderungen in anderen Ländern in die Öffentlichkeit getragen werden, wie sich auf Grund- und Freiheitsrechte bezogen wird. Daran anknüpfend könnten gemeinsame Perspektiven ausgelotet werden. Vielleicht könnte aus diesem Treffen auch eine europäische Vernetzung zur Antirepressionsarbeit beim G8 in Italien hervorgehen.

Dieser Text ist als eine Skizze zu verstehen, die einen Beitrag zum “Summer of Resistance 2.0” 2009 liefern möchte. Bestimmt ist es auch genauso plausibel, statt eine Kritik der europäischen Sicherheitsarchitektur eher Migration, Prekarisierung oder radikale, antikapitalistische Positionen zu Klimapolitik in den Mittelpunkt unserer Proteste zu rücken. Über mehr englischsprachige Berichte, Positionen und Diskussionen freuen wir uns. Wir sind erreichbar über euro-police [at] so36.net.

Activists from Gipfelsoli | Prozessbeobachtungsgruppe Rostock | MediaG8way

1 “Europa sicher leben | Living Europe Safely | L’Europe, bien sûr(e)”:
http://euro-police.noblogs.org/gallery/3874/Europa_sicher_leben.pdf

Siehe auch http://euro-police.noblogs.org und http://www.imi-online.de

Source: Gipfelsoli