2011-07-14
Bei den Krawallen in Genua 2001 wurde der Demonstrant Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen. Die postheroischen sozialen Bewegungen brauchen keine Märtyrer mehr, doch der postdemokratische Staat erzeugt sie trotzdem.
von Georg Seeßlen
Auf den Demonstrationen in Ägypten waren in den vergangenen Tagen Transparente mit den Namen jener Menschen zu sehen, die von Polizei und Agenten ermordet worden waren. Die Getöteten erhielten ausdrücklich den Status von »Märtyrern«, und die neuen Demonstrationen gegen die Verschleppung der versprochenen Reformen und die Behinderung der Demokratisierung wurden in den Reden als aus Ausdruck einer »Verpflichtung« gegenüber den Toten gedeutet. Den Toten, die man als »Märtyrer« bezeichnet, sind die Lebenden, so ist es Sprach- und Mythengebrauch, »etwas schuldig«. Die historische Aufgabe, für die sie gestorben sind, muss erledigt und gleichzeitig muss ihr Tod durch »Gerechtigkeit« gesühnt werden. Diese doppelte Sinnproduktion verknüpft das Opfer mit dem Aufruhr. Aus Geschichtsbüchern und Hollywood-Filmen weiß man: Der Märtyrer ist der Beginn vom Ende des Diktators.
Das jedenfalls ist der Mythos. Die Wahrheit ist hingegen, dass eine ökonomisch gut funktionierende Diktatur sich jede erdenkliche Anzahl von Opfern leisten kann, und im Zweifelsfall sogar nicht nur einzelne Menschen oder Parteien, sondern ganze »Völker«, »Rassen« oder Religionen »opfert«.
Erst in der Phase der Schwäche der Diktatur (das Alter des Diktators, die Aushöhlung des Regimes durch seine Korruption, die ökonomische Verschuldung, der Verlust von verlässlichen Komplizen etc.) kann das Auftauchen von Märtyrern (jenen Opfern des Regimes, die auf eine ganz spezielle Weise sichtbar werden) von entscheidender Bedeutung sein.
Erst durch den Märtyrer, in dessen Bild sich die Trauer um ein Opfer ungerechter und gewalttätiger Macht in Zorn und in eine politische Mythologie verwandelt, erhält eine politische Bewegung ihren heroischen Gehalt. Viele ihrer Gesten, in denen Widerstand und Opposition zum Ausdruck kommen, sind nun Wiederholungen der Märtyrerbilder, und das Märtyrerbild wird zur Ikone. Was uns dabei verlegen machen könnte, ist der Umstand, dass die Produktion des Märtyrerbildes unabhängig vom politischen Inhalt der Bewegung ist: Märtyrer gibt es bei den Rechten wie bei den Linken, bei politischen, religiösen, kulturellen Bewegungen und sogar im Sport, und auch »unpolitische« Riots gegen Polizeigewalt und Stadtverwaltungen haben Märtyrer. Im Märtyrer vollzieht sich der radikale Bruch; es ist das Opfer, nach dem es keine Versöhnung, keinen Ausgleich, kein Zurück mehr geben kann. Die Demonstration der Stärke eines Systems schlägt um in ein Sinnbild seines kommenden Sturzes und seiner moralischen Verurteilung. Märtyrer scheinen einen Konflikt eindeutig zu machen, der es vorher nicht war.
Märtyrer sind in aller Regel Spiegelbilder der Verbrechen der Mächtigen und ihrer Helfershelfer, die, vielleicht überraschenderweise, von einer nicht zum Schweigen zu bringenden Gruppe von Menschen zur Kenntnis genommen werden. Wie die öffentliche Gewalt der Mächtigen eine Waffe ist, so ist auch der Märtyrer eine Waffe; sein Bild ist, wie die Strategen der Macht nur allzu gut wissen, gefährlich.
In diesem Opfer-Bild wird die Grenze der »zivilen« Auseinandersetzung überschritten. Eine demokratische Gesellschaft ist, neben vielem anderen, eine, die versucht, das Opfer in jeder politischen Auseinandersetzung zu vermeiden. Die Wandlung einer demokratischen zur postdemokratischen Gesellschaft lässt sich daher auch an der wachsenden Bereitschaft erkennen, das Opfer- und Gewaltbild zu produzieren. Was in einer demokratischen Gesellschaft noch eine »Entgleisung« der Polizeimacht ist, ist in der postdemokratischen Gesellschaft der Regelfall. Deshalb ist es für eine zivile, humanitäre und kritische soziale Bewegung nur bedingt eine Option, auf die metapolitische Sprache von Opfer und Märtyrer zu verzichten. Ganz gewiss »wollte« die ägyptische Opposition die Märtyrer ihrer Bewegung nicht. Sie kann nicht einmal darauf verzichten, ihrer öffentlich zu gedenken. Sie sind Teil der moralischen Begründung der Revolte. Und doch archaisieren auch diese Märtyrer eine zivile Bewegung.
Vor zehn Jahren starb der Student Carlo Giuliani in Genua durch die Kugel eines jener Polizisten, die damals in einem unverhältnismäßigen, rechtsstaatswidrigen Einsatz die gegen den G8-Gipfel Demmonstrierenden misshandelten und die offensichtlich zusätzlich persönliche oder kollektive sadistische und mörderische Energien innerhalb und jenseits des rechtsstaatswidrigen Einsatzes freisetzten. Auch Giuliani ist in diesem doppelten Sinne ein »Märtyrer«, insofern sein Tod eine Verpflichtung ist, das Potential der Empörung weder einschlafen noch unterdrücken zu lassen, und insofern, als es nie eine rechtsstaatlich akzeptable Aufarbeitung seines Todes und des ganzen polizeilichen Vorgehens in Genua gegeben hat. Es gelang der Regierung Berlusconi unter anderem durch ihre Medienmacht, die Opfer ihrer Gewalt nicht etwa zu verschweigen, sondern sie sogar zu verhöhnen und zu den eigentlichen Tätern zu machen.
Ist nach zehn Jahren, in denen sowohl die Verpflichtung zur Fortsetzung der Revolte als auch die Forderung nach Gerechtigkeit an der Arroganz der Macht scheiterten, die Bildkraft des Opfers im Märtyrer verbraucht? Vielleicht ist es genau andersherum: Die Entwicklung der sozialen Bewegungen in der postheroischen Kultur macht es möglich, hinter dem Märtyrerbild wieder den Menschen zu sehen, der heute »einer von uns« wäre. Das Opfer macht den Bruch zwischen der Dissidenz und dem Mainstream »total«: Wenn es um eine Auseinandersetzung innerhalb der Demokratie geht, dann darf es keine Opfer geben.
Das Bild des toten Carlo Giuliani wurde nicht vergessen. Aber es wird deutlich, dass dieses Bild in der politischen Mythologie nicht mehr so richtig funktioniert. In der Welt, in der die Medien die Sprache der Mächtigen sprechen und auch noch das ernsthafteste politische Geschehen in Entertainment verwandelt wird, verliert das Märtyrerbild seine Wirksamkeit. Und in der Welt, in der jeder und jede die »Macht der Bilder« kennt und durchschaut, wird die Anwendung dieser drastischen politischen Sprache obsolet.
Denn eines ist klar: Das Opfer ist unmenschlich. Die Menschlichkeit einer sozialen Bewegung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie das Opfer vermeiden will. Und umgekehrt sind es die unmenschlichsten aller sozialen und religiösen Bewegungen, die ihren Mitgliedern einreden, das Opfer sei notwendig oder gar heilig, das Martyrium das erstrebenswerteste Ideal. Unmenschlich verdient aber auch eine Staatsmacht genannt zu werden, die das Menschenopfer bei der Verteidigung ökonomischer und politischer Interessen billigend in Kauf nimmt und seine Exekutoren ihrerseits zu »Helden« erklärt.
»Ziviler Ungehorsam« ist eine Kampfform der sozialen Bewegung, die nicht auf die Produktion von Opfern und Märtyrern ausgerichtet ist. Die Gegenseite scheint diese Postheroisierung der Revolte (phänotypisch wird sie auch gern »Verbürgerlichung« genannt) nicht zu akzeptieren. Die polizeilichen Einsätze sind seitdem sogar eher brutaler geworden, in Stuttgart haben Wasserwerfer und Pfefferspray immerhin noch eine leichte Entrüstung im Mainstream ausgelöst, der Einsatz der Polizei Ende Juni im italienischen Val di Susa gegen die Gegner des Tunnelprojektes wurde von den Politikern und Journalisten rhetorisch verteidigt – bis ins »Mitte-Links«-Bündnis hinein.
Und in beiden Fällen, in Stuttgart wie im Val di Susa, wird die Polizei eingesetzt, um ökonomische Interessen durchzusetzen, nicht um rechtsstaatliche Prinzipien zu verteidigen. Die Demonstration, mit deren Auflösung die brutale Polizeiaktion in Norditalien begann, fand auf einem Platz im Ortskern statt, für dessen Benutzung die Organisatoren der Stadt Miete bezahlt und einen ordnungsgemäßen Vertrag abgeschlossen hatten. Die Polizei ging über diese zivilrechtliche Vereinbarung nicht nur arrogant, sondern bewusst hinweg: Nicht das Recht wird in der Postdemokratie gegen die Rechtsbrecher durchgesetzt, sondern das Recht des Stärkeren, inmitten eines sich in Auflösung befindenden Rechtssystems und Rechtsverständnisses. Kurzum: Auf die Entheroisierung des zivilen Widerstands antwortet die postdemokratische Macht mit einer Rebarbarisierung und Dramatisierung des Konflikts.
Im Val di Susa grenzte es tatsächlich an ein Wunder (oder es war vielleicht auch der guten Organisation der Demonstranten zu verdanken), dass es nicht erneut Schwerverletzte oder gar Tote gegeben hat. Dadurch, dass die Polizei gezielt Rückzugswege versperrte und Fallen stellte, brachte sie nur allzu deutlich zum Ausdruck, dass es ihr nicht allein um die Räumung des (Bau-)Platzes ging, sondern um Gewalt gegenüber dem »Gegner«. Die »Profis der Gewalt«, wie die Polizisten anerkennend genannt wurden, hatten durchaus zur Nebenaufgabe, Bilder der Gewalt zu erzeugen, propagandistisches Material zur Abschreckung. Immer wieder scheint es, als sei man geradezu auf die Produktion des Opfers aus.
Je weniger die »bürgerlich« genannten Bewegungen gegen die Arroganz der Macht »heroisch« sein wollen, desto mehr demonstriert die Staatsgewalt, welche Opfer die Unbotmäßigkeit verlangt. Sie ist es, die die Auseinandersetzung archaisiert. Eine Polizei, die nicht auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit agiert, verteidigt keine demokratische Ordnung, sondern ist Partei in einem latenten Bürgerkrieg. So nimmt die Postdemokratie Elemente womöglich kommender Tyranneien vorweg.
Vielleicht braucht die Opposition keine Märtyrer mehr, aber die gewaltbereite Mehrheit in Staat, Wirtschaft und Mediengesellschaft braucht ihre Schurkenbilder. Ohne Gewaltbilder scheinen unsere Medien an sozialen Bewegungen nicht das geringste Interesse zu haben (allenfalls gibt es noch die Macht der großen Zahl oder den Auftritt von »Prominenz«). Wenn also Demonstrationen gegen Großprojekte von der Polizei gewaltsam aufgelöst werden, kann das nur zwei Gründe haben: Erstens drängt die Zeit. Im Val die Susa geht es um einen Termin für den Baubeginn, mit dem Zahlungen der EU verbunden sind, und die Verpflichtung zum »Baubeginn« spielt auch in Stuttgart ihre unrühmliche Rolle. Zweitens will man das Gewaltbild erzeugen, im festen Glauben daran, dass die entsprechenden Medien damit schon exakt die Geschichte erzählen werden, die man benötigt. Doch beide Strategien funktionieren nur noch begrenzt gegenüber einer postheroischen Bewegung, die immer wieder andere Strategien der Sichtbarkeit jenseits des mythischen Gewalt- und Märtyrerbildes entwickelt. Eben dies ist die Stärke einer solchen Bewegung: Sie muss nicht mehr zwangsläufig in die Gewalt- und Opferfalle laufen, die der postdemokratische Staat ihr stellt.