2011-04-13
Von Matthias Monroy
Der G8-Gipfel 2001 war für Bewegung und Polizei wegbereitend
Zweifellos waren die Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 ein herausragendes Ereignis für die globalisierungskritischen Bewegungen, genauso wie wenige Monate zuvor der breite, teils militante Widerstand gegen das IWF-Treffen in Prag und den EU-Gipfel in Göteborg. Nach den massiven Protesten anlässlich des WTO-Gipfels 1999 in Seattle, die mit Massenblockaden, politisch gezielter Sachbeschädigung und dem erstmaligen internationalen Auftritt von Indymedia immerhin einen Gipfel zum Abbruch gebracht hatten, war eine kühne Entschlossenheit auf Europa übergesprungen. Die Revolte in Genua jedoch als Höhepunkt globalisierungskritischer Bewegung zu analysieren, nach dem es nur bergab gehen konnte, ist verkürzt.
Grenzüberschreitende Militanz
Antikapitalistisch inspirierten, massenhaften Widerstand gegen Gipfeltreffen gab es schon vor dem „Summer of Resistance“ 2001. Erinnert sei an die Aktionen gegen den IWF-Kongress in Berlin 1988, den Weltwirtschaftsgipfel in München 1992, die IWF- und Weltbank-Tagung in Madrid 1994 oder auch an die Proteste anlässlich des G8-Gipfels 1999 in Köln, wenige Monate vor Seattle. Immer wieder gab es also ‚Höhepunkte’, die Zehntausende auch aus anderen Ländern auf die Straße brachten, während manche Gipfel nur für bestimmte Strömungen im austragenden Land wichtig waren.
Der Blick auf die vermeintlich hohe Zahl von internationalen DemonstrantInnen, für die Genua immer noch ein Alleinstellungsmerkmal zugeschrieben wird, trügt. Die Zahl der 300.000 DemonstrantInnen war sogar vergleichsweise gering – von italienischen Gewerkschaften getragene Proteste in Italien erreichen sonst durchaus die Millionengrenze. Im Gedächtnis bleibt eher die in Genua sichtbare Bereitschaft zur Militanz, die durchaus als Inspiration für „Castor? Schottern!“ oder Konzepte wie „Block G8“ verstanden werden kann. So betrachtet war der „Summer of Resistance“ nicht Höhepunkt, sondern zumindest für Europa eher Beginn einer immer wieder grenzüberschreitenden Protestbewegung.
Eine internationale Mobilisierung ohne Verankerung in Bewegungen vor Ort ist sinnlos – illustriert hat dies zuletzt der Klimagipfel 2009 in Kopenhagen, wo die Proteste nicht vor Ort gewachsen sind und dann international abfärbten, sondern es eher umgekehrt war. Genauer betrachtet sind Gipfelproteste zuallererst ein lokales Ereignis und können auch ohne internationale Beteiligung durchaus prägend für die dortige Linke und ihre gegenwärtigen Kämpfe sein. Der Widerstand gegen die Gipfel der EU in Essen 1994, der NATO in Prag 2002 oder der G8 in Russland 2006 und Japan 2008 war auch ohne größere internationale Beteiligung wichtig und konstituierend für lokale Bewegungen. Für die kanadische radikale Linke hat der militante Gipfelprotest 2010 gegen G8 und G20 einen sichtbaren Schub gebracht, obwohl nur eine Handvoll AktivistInnen nicht aus Nordamerika anreisten. Auch der G20-Gipfel in London 2009 kam ohne grenzüberschreitende Mobilisierung aus, zumal gleichzeitig in Strasbourg und Baden-Baden gegen die NATO demonstriert wurde.
Anlässlich des G8-Gipfels 1999 unter deutscher Präsidentschaft in Köln sorgte der „Carnival against Capitalism“ in London für Furore, wozu unter anderem unkontrollierbare Aktionen mit dem Ziel „Reclaim the Streets“ beitrugen. Der gleichzeitig am Austragungsort des G8-Gipfels in Köln vorbereitete Protest beruhte nicht auf großer internationaler Mobilisierung, was den OrganistorInnen durchaus Kritik eintrug. Immerhin machte eine Karawane 500 indischer BäuerInnen auf den Weg nach Köln in vielen Städten Station und stellte damit den internationalistischen Bezug heraus. Die Organisation der Karawane war ein Kraftakt und nicht denkbar ohne jahrelang gewachsene Kontakte und Strukturen innerhalb des Netzwerks Peoples’ Global Action, das sich nicht zuletzt immer wieder bei Gipfelprotesten getroffen hatte.
Beispiellose Repression
Einzigartig war Genua nicht nur wegen der Militanz, sondern auch bezüglich der Repression, die vor keinem Spektrum Halt machte und in den tödlichen Schüssen auf Carlo Giuliani nur einen ihrer Höhepunkte fand. Zwar wurde schon 1994 in Sevilla und im Juni 2001 in Göteborg auf DemonstrantInnen scharf geschossen. Die Brutalität der italienischen Carabinieri, Polizi a di Stato und Guardia di Finaza war jedoch für Viele – jedenfalls ausländische AktivistInnen – überraschend. Der Polizeisoldat Mario Placanica, der Carlo Giuliani erschoss, wurde wegen seinem „Recht auf Notwehr“ freigesprochen. Das Urteil wurde im März 2011 endgültig vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt.
Viele andere Verfahren gegen DemonstrantInnen und Polizisten sind allerdings noch anhängig, womit der Gipfel in Genua auch bezüglich der Dauer von Strafverfolgung und Justiz beispiellos ist. Vor Gericht wird seitens der Staatsanwaltschaft immer wieder versucht, eine grenzüberschreitende Verschwörung nachzuweisen. Hierfür präsentierten die Ankläger sogar das nach Seattle publizierte „N30 Black Bloc Communiqué“ vom Dezember 1999, um die behauptete internationale Konspiration zu untermauern.
“Das ist kein Urteil, das ist ein Racheakt”, hatte Carlos Mutter Haidi Giuliani vor zwei Jahren das zweitinstanzliche Urteil gegen 25 DemonstrantInnen kommentiert. Während 15 der Angeklagten immerhin ein „Recht auf Notwehr“ gegen den illegalen Polizeiangriff oder eine Verjährung zugesprochen wurde, sind die ohnehin harten Urteile bei anderen empfindlich erhöht worden: Wegen „Verwüstung und Plünderung“ wurden die Beschuldigten zu Haftstrafen bis zu 15 Jahren verurteilt.
Ein anderes juristisches Druckmittel gegen italienische AktivistInnen ist das „Cosenza-Verfahren“. Vorausgegangen waren 18 Monate Ermittlungen, die 2002 in Hausdurchsuchungen und Festnahmen endeten. Gegen 42 Beschuldigte wurden zunächst Untersuchungsverfahren eingeleitet, 13 von ihnen letztlich nach Anti-Terror-Paragraphen angeklagt. Um die „wirtschaftliche Ordnung des Staates gewaltsam umzustürzen“, sollen sie eine „politische Verschwörung“ mit 20.000 Mitgliedern organisiert haben – gemeint sind die AktivistInnen der damaligen Disobbedienti. 250.000 Mails von Betroffenen wurden ausgewertet, 60.000 fanden Eingang in das Verfahren. Nach einem Freispruch 2008 hatte die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, ein endgültiges Urteil steht noch aus.
Aber auch die Urteile gegen Angehörige italienischer Behörden wurden in zweiter Instanz nach oben korrigiert. Fast alle 27 angeklagten Polizisten im „Diaz-Verfahren“ wurden vom Berufungsgericht in Genua zu Haftstrafen von drei bis fünf Jahren verurteilt. Dem Verfahren lag der nächtliche Sturm der Diaz-Schule zugrunde, wo AktivistInnen genächtigt hatten. Zwei Drittel der Misshandelten mussten im Krankenhaus behandelt werden, ein Aktivist wurde fast tot geprügelt. Führende Polizeikräfte hatten gefälschte Beweismittel präsentiert, darunter andernorts konfiszierte Molotow-Cocktails. Suspendiert und ebenfalls zweitinstanzlich verurteilt wurde der italienische Polizeichef Gianni De Gennaro, gegen den wegen Anstiftung zu Falschaussagen ein Jahr und vier Monate Haft verhängt wurden. Dass er die Strafe antreten muss, ist unwahrscheinlich: De Gennaro ist jetzt Koordinator aller italienischen Geheimdienste.
In einem anderen großen Verfahrenskomplex sind 44 Polizisten, Vollzugsbeamte, Ärzte und medizinisches Personal wegen Autoritätsmissbrauch, Nötigung und Misshandlung verurteilt worden. Hintergrund war das brutale Vorgehen von Polizei und Carabinieri gegen rund 300 DemonstrantInnen in der Polizeikaserne Bolzaneto. Die damals Verhafteten dokumentierten Schläge, Beleidigungen, systematische Demütigungen und Folter. Betroffene mussten stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen und waren Schlafentzug, Androhung sexueller Gewalt sowie CS-Gas in den Zellen ausgesetzt. Die meisten erstinstanzlich Verurteilten waren aus „Mangel an Beweisen“ freigesprochen worden. Unter ihnen ist auch der durch seine Brutalität aufgefallene Gefängnisarzt Giacomo Toccafondi, der Verletzten die Behandlung verweigerte und sich stattdessen an Misshandlungen beteiligte. Wenn überhaupt, werden wohl nur Toccafondi und sechs Polizisten ihre Haftstrafen zwischen zwölf Monaten und drei Jahren antreten müssen. Die übrigen profitieren von der kürzeren Verjährungsfrist.
Viele andere Verfahren haben weniger Beachtung in den Medien erfahren, darunter das Urteil gegen die französische Aktivistin Valerie Vie, die zu fünf Monaten Haft verurteilt wurde, weil sie den Absperrzaun an der Roten Zone überklettert hatte. Auch die Einstellung von Ermittlungen gegen die österreichische „volXtheaterkarawane“ geriet aus dem medialen Blick, obschon die Begründung interessant ist: „Weil die Hypothese der Bandenbildung verworfen werden muss“. Trotzdem ist die strafprozessuale und juristische Aufarbeitung längst nicht zu Ende: Die großen Verfahrenskomplexe gegen Polizei und AktivistInnen werden sämtlich in der dritten Instanz vor dem Kassationsgericht verhandelt.
„Europäisierung der Anarchoszene“
Noch auf einer weiteren Ebene war Genua tonangebend – der grenzüberschreitenden Vernetzung europäischer Polizeien. Eilig wurden Forschungsprogramme und Arbeitsgruppen einberufen, die Konzepte und Regelwerk zur „Sicherheit bei polizeilichen Großlagen“ entwickeln sollten. Vor allem die deutsche Polizei reist seit Anfang des Jahrtausends mit Wasserwerfern und BFE-Hundertschaften zu Gipfelprotesten in die Schweiz oder nach Frankreich. Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck dafür ein, ihre Datensammlungen über bekannte GipfeldemonstrantInnen EU-weit anzusiedeln. Damit würde diese bis jetzt nur mit deutschen AktivistInnen gefütterte Datei „International agierende gewaltbereite Störer” (IgaSt) anderen Mitgliedsstaaten zugänglich gemacht und um Einträge anderer Länder angereichert.
Immer mehr Details des nebulösen internationalen Austauschs polizeilicher Spitzel dokumentieren, wer mit IgaSt adressiert wird. Der Präsident des Bundeskriminalamts erklärte in geschlossener Runde über den Spitzeltausch britischer und deutscher Polizisten, sie würden sich unter anderem gegen AktivistInnen aus Griechenland, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland richten. Am Werk seien dort „Euro-Anarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen“, die einen regelrechten „Tourismus“ betrieben. Die besagten Missionen zahlreich anreisender verdeckter Ermittler galten offiziell den G8-Gipfeln in Gleneagles und Heiligendamm sowie dem auch polizeilich grenzüberschreitend ausgetragenen NATO-Gipfel in Strasbourg und Baden-Baden.
Ein neues Vorhaben der Europäischen Union will jetzt erforschen, wie linke AktivistInnen bei Großdemonstrationen in den EU-Mitgliedsstaaten auf die neuen polizeilichen Strategien reagieren. Das von der schwedischen Polizei geführte Programm vereint Polizeien und ihre Hochschulen aus elf Ländern. Zahlreiche andere Maßnahmen sollen helfen, dass die Polizei mit dem europäischen Gipfel-Internationalismus Schritt halten kann. Dabei wird durchaus erkannt, dass die Bewegungen vielfältig sind und nur in Ergänzung ihrer Teilbereiche schlagkräftig sind. Der Jahresbericht von Europol von 2010 führt hierzu aus, die „anarchistischen Extremisten“ würden sich vor allem in den Bereichen Antikapitalismus, Antimilitarismus und „No Borders“ engagieren. In mehreren Ländern kämen auch Umweltthemen wie die Beschäftigung mit dem Klimawandel hinzu sowie Hausbesetzungen oder Migration.
Wie es mit den „Euro-Anarchisten“ weitergeht, ist schwer zu sagen. Die Mobilisierungen zu Gipfeln von NATO oder G8 spielen derzeit eine geringe Rolle – vielleicht weil die linken Bewegungen in Portugal und Frankreich andere Prioritäten haben. Eher zeichnet sich ein „neuer Internationalismus“ im Bereich von Migration ab, der in gemeinsamen Camps oder zuletzt der Karawane Bamako-Dakar immer mehr auf Augenhöhe mit MigrantInnen agiert. Diese Entwicklungen könnten helfen, den in die Jahre gekommenen Widerstand gegen die „Festung Europa“ durch frische Analysen und Praxen zu ersetzen.
Aus der Versenkung auftauchen könnte bald wieder ein neuer altbekannter Adressat: Nach den heftigen militanten Protesten gegen die EU-Gipfel in Göteborg 2001 oder Thessaloniki 2003 wurden die EU-Treffen nicht mehr pompös inszeniert. Innerhalb der Europäischen Union wird jetzt der Vorschlag diskutiert, die Gipfel der wechselnden halbjährlichen EU-Präsidentschaften wieder größer zu gestalten und mit Festakten anzureichern. Eine gute Gelegenheit für die antikapitalistischen, antirassistischen, polizeikritischen und antimilitaristischen Bewegungen in den jeweiligen Ländern, ihr zerrüttetes Verhältnis zum Staatsprojekt Europa auf die Straße zu tragen.
Matthias Monroy ist Journalist und Aktivist bei gipfelsoli.org. In der Printausgabe der iz3w erscheint eine gekürzte Fassung dieses Textes.