2011-03-25 

Carlo Giuliani: ein positives Urteil, das Italien verurteilt

Von Federico Ferraù

Gestern ist das Urteil des Straßburger Gerichtshofs zum Fall Carlo Giuliani eingetroffen. Es misszuverstehen ist sehr leicht. Zu behaupten, dass unser Land für den Tod Carlo Giulianis nicht “verantwortlich” ist, ist nicht korrekt. Das hat Enzo Cannizzaro, Dozent für internationales Recht an der Universität La Sapienza in Rom ilsussidiario.net erklärt. Der Gerichtshof hat gesagt, dass Italien Artikel 2 der Konvention nicht verletzt hat: Carlo Giuliani, der junge Anarchist, der am 21. Juli 2001 während des G8 in Genua beim Versuch ums Leben kam, einen Jeep der Carabinieri zu attackieren, ist nicht willkürlich getötet worden. "Der Gerichtshof hat festgestellt, dass es keine materielle Verletzung von Artikel 2 gegeben hat, also, dass der Tod nicht auf willkürliche Weise zugefügt wurde, da er “im Rahmen einer legitimen Operation erfolgte”. In anderen Worten besagt das Urteil nicht, dass Italien “das Richtige” getan hat. Es geht aber weiter. Laut Cannizzaro hat das Gericht einige sehr relevante Aspekte nachgeordnet. Die, im Wesentlichen, zu Lasten unseres Landes ausfallen.

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Herr Professor, das Straßburger Gericht hat Italien frei gesprochen, das somit für den Tod von Carlo Giuliani nicht verantwortlich ist.

So zu sprechen ist nicht korrekt. Italien ist nicht für den Tod Carlo Giulianis für nicht verantwortlich erklärt worden, weil das eine Aufgabe ist, die nicht dem Straßburger Gericht obliegt, das vielmehr festgestellt hat, dass der Tod Giulianis, bei dem niemand die Verantwortlichkeit Italiens leugnen kann, keine Verletzung von Artikel 2 der Konvention (Recht auf Leben, die Redaktion) darstellt.

Was ändert das?

Das Gericht hat festgestellt, dass es keine materielle Verletzung des Artikels 2 gegeben hat, also, dass der Tod nicht auf willkürliche Weise zugefügt wurde, weil er im Rahmen einer legitimen Operation erfolgte. Das Gericht hat auch eine Verletzung der prozeduralen Aspekte von Artikel 2 ausgeschlossen, die sich auf die Art der Durchführung der Untersuchungen bezieht.

Kann man vereinfachen daraus ableiten, dass Italien auf die richtige Art und Weise gehandelt hat?

Nein. Das Gericht kann das nicht sagen. Es kann lediglich zum Schluss kommen, dass es keine willkürliche Deprivation des Lebens gegeben hat. Es gibt einen sehr wichtigen Paragraphen, in dem das Gericht praktisch sagt: wir sind kein Strafrichter, also ist es nicht an uns festzustellen, ob es eine Verletzung des Strafrechts, einem Mord oder nicht gegeben hat. Wir müssen lediglich sagen, ob es eine Verletzung der Konvention gegeben hat. Das ist fundamental, um die Bedeutung des Urteils nicht fehl zu deuten. Es könnte nämlich auch ohne Vorliegen eines Mordes eine Verletzung gegeben haben. Auch das Gegenteil könnte eintreten, wenn auch es schwieriger wäre.

Ist es möglich, zu sagen, dass das Gericht – um die im Urteil verwendeten Begriffe zu benutzen – den “gewalttätigen und illegalen” Angriff seitens der Demonstranten an jenem 20. Juli in Genua stigmatisiert?

Ja. Das Gericht stellt eindringlich auf dem Umstand ab, dass es einen Angriff der Demonstranten gab und dass für die Ordnungskräfte die Notwendigkeit vorlag, ihn abzuwehren. Mein Eindruck, der bei einer ersten Lektüre des Urteils entstand ist, dass das Gericht eine Reihe von Argumenten, die Gegenteiliges hätten belegen können nicht in ausreichendem Maße gewürdigt hat. Darunter besonders den Umstand, dass der Rückgriff auf die Anwendung von Gewalt und zwar zu jener Art von Gewalt nicht “unbedingt erforderlich” war.

Er war nicht unbedingt erforderlich? Es ging doch um Urban Guerilla.

Man muss sich hier verstehen. Der Gebrauch von Gewalt ist zulässig, wenn er die einzige Möglichkeit darstellt, einen Angriff abzuwehren. Es reicht also nicht, dass er angebracht, wünschenswert oder auch nur nötig sei. Er muss “unbedingt erforderlich” sein. Nicht “unbedingt erforderlich sein” bedeutet, dass die Anwendung von Gewalt nicht das einzige tatsächlich zur Verfügung stehende Mittel war, um den Angriff abzuwehren. Ich verstehe, dass der Terminus “unbedingt” zu Missverständnissen führen kann, seine Bedeutung muss aber verstanden werden.

Erklären sie das, Herr Professor.

Lasst uns rekapitulieren. Das Gericht hat festgestellt, dass die Anwendung von Gewalt seitens des Carabiniere unter jenen bestimmten Umständen keine Verletzung der Konvention darstellte. Das Urteil hat jedoch nicht überzeugend erklärt, dass die öffentlichen Ämter wirklich alles was möglich war getan hätten, damit es nicht zu jener Situation kommt. Um eine verantwortliche Anwendung von Gewalt zu erlauben, ist es nötig, dass die Subjekte, die dazu legitimiert sind, von ihr Gebrauch zu machen, über eine Ausbildung verfügen, die ausreicht, um auf eine bewusste Art und Weise eine Entscheidung zu fällen; es ist nötig, dass die Beamten über die nötigen Instrumente verfügen, um die Anwendung von Gewalt stufenweise zu regulieren, beispielsweise durch Verwendung von Gummiprojektilen an der Stelle von scharfer Munition und so weiter. Kurzum: selbst dann, wenn sich die Aktion des Carabiniere in jener konkreten Situation rechtfertigen ließe, könnten Nachlässigkeiten der Behörden durch Nichtergreifung sämtlicher Maßnahmen, die zur Verhinderung des Zustandekommens einer solchen Situation nötig sind vorliegen. Bezüglich dieser Aspekte, die nicht erst von zweitrangiger Bedeutung sind, hinterlässt das Urteil des Gerichts manche Bedenken.

Der Vater von Carlo Giuliani hat gesagt, dass er ein zivilrechtliches Verfahren anstrengen wird, um eine gerichtliche Verhandlung zu erwirken. Er hat gesagt: “Das Einzige, was nicht eines Gerichtsverfahrens für würdig gehalten wurde ist die Ermordung Carlos”.

Ich kann mir vorstellen, dass er die Möglichkeit, ein Zivilverfahren zu eröffnen meinte. Bisher hat es in Bezug auf die Angelegenheit eine strafrechtliches Feststellungsverfahren gegeben, das ausgeschlossen hat, dass eine Verletzung des Strafrechts vorgelegen habe. Heute hat das EGMR ausgeschlossen, dass es eine Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention gegeben habe. Das schließt die Möglichkeit nicht grundsätzlich aus, dass der Tod Giulianis auf die Verletzung weiterer Normen durch Organe des Staates gegeben habe. Um diese Frage zu klären können die Geschädigten, nämlich die Angehörigen Giulianis ein Zivilverfahren auf Schadensersatz eröffnen.