2011-03-26 

Zur Gerechtigkeit kommt es nicht durch das Gesetz

Vor wenigen Tagen hat das europäische Gericht für die Menschenrechte in Straßburg ein Urteil gesprochen, das den italienischen Staat bezüglich des Todes von Carlo Giuliani am 20. Juli 2001 im Laufe der Demonstrationen gegen den G8 in Genua von jedem Vorwurf frei spricht. Unter dem Menschen, denen die Erinnerung an Carlo lieb ist und die zusammen mit ihm und weiteren 300000 Personen in jenen Tagen in der ligurischen Hauptstadt demonstrierten, ist die Reaktion nicht einhellig gewesen. Sicher: wir alle denken, dass der italienische Staat des Todes Carlos schuldig ist; auch wissen wir alle, dass Polizei und Justiz Alles getan haben, um die Wahrheit zu vertuschen, von der unmittelbaren Beschuldigung eines Demonstranten vor Ort, Carlo mit einem Steinwurf getötet zu haben bis zu lächerlichen Beweisaufnahmeverfahren, in denen von einem vom Carabiniere Placanica in die Luft abgefeuerten Schuss die Rede war, der durch einen Stein, der dort durch die Gegend flog auf Carlos Gesicht umgelenkt worden sei. Dabei haben nur einige mit Wut, Empörung und Bestürzung reagiert; andere haben auf dieses Urteil mit Gleichgültigkeit reagiert, weil sie denken, dass es nicht anders hätte ausfallen können, und - noch radikaler - dass es selbst wenn es anders ausgefallen wäre jedenfalls für keinerlei Gerechtigkeit hätte sorgen können.

Bild: Ausstellung

Den Fernsehzuschauer der europäischen Demokratien unserer Zeit kommen Instanzen zu Ohr, von denen nur wenige einigermaßen etwas wissen: Haager Gerichtshof, Hohes Gericht für Menschenrechte, Tribunal der Menschenrechte in Jakarta usw. Welche aber ist die Rolle dieser Institutionen? Die Gerichtshöfe der einzelnen Länder, die in der Versammlung der Vereinigten Nationen sitzen (Italien und Saudi Arabien, USA und Israel, Russland und China, Burma und Tschad und alle anderen) verurteilen Tag für Tag Millionen Menschen zu Gefängnis, Zwangsarbeit, zum Tode, zur Deportation, zur Folter oder zur Steinigung; die Gesetze, in deren Name diese Urteile gesprochen werden sind die unterschiedlichsten, und sie beziehen sich auf die unterschiedlichsten Verfassungen. Die Straftaten, wegen denen die Angeklagten verurteilt werden reichen von Der Vergewaltigung zum Diebstahl, von der nicht genehmigten Demonstration zum Rassenmord, von der politischen Korruption zur Bekundung des eigenen Dissenses. Was in einem Land eine Straftat ist, wird in einem anderen akzeptiert, und es ist kein Geheimnis, dass die Staaten im Namen ihrer juristischen Hoheit in Gegensatz zueinander stehen (Demokratisch oder sozialistisch oder Gottesfürchtig oder aber Ergebnis antikolonialer Revolutionen usw. sein ). Die Art und Weise, wie die US-amerikanische und europäische Ideologie
China oder Iran darstellen ist zum Beispiel nicht anders, als die, mit der China oder Iran die westlichen Länder darstellen. Auf dieser Seite sind wir, auf der anderen, die Barbaren.

Es gibt jedoch Erklärungen und Konventionen (die juristisch einen geringeren Stellenwert als Verfassungen haben) die von 1948 an zumindest theoretisch für alle Staaten und für alle Völker gültige, mit Rechtskraft versehene ideale Prinzipien festlegen. Deren Wert wird von jenen, die sie niederschrieben und von jenen, die sie akzeptierten, als universal angesehen, er steht über jede ideologische, historische, kulturelle Differenz. Deren konkrete Wirkung kann sich aber nicht anders als sich durch jene Staaten definieren, die sie unterzeichnet haben. Die europäische Konvention über die Menschenrechte stellt den Referenzpunkt der Urteile des Gerichtshofes in Straßburg dar. Viele glauben, dass unter den in jener oder in anderen Chartas festgeschriebenen Rechten auch der sei, dass man nicht auf einer Demonstration getötet werden darf. Natürlich täuschen sie sich: wie könnten die Staaten, die ihre eigene Souveränität im Falle massenhafter illegaler Verhaltenweisen und im Falle von Rebellionen auch Mithilfe der Androhung von Repression aufrecht erhalten Dokumente unterschreiben, die die Niederschlagung einer Revolte oder einer Revolution verhindern? Folgerichtig besagt das 3. Komma in Absatz 2 des Artikels 2 der EMRK: "Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um [...] einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen". Die Feststellung, dass die Repression im Einklang mit den Gesetzen erfolgen muss hilft wenig, weil das fragliche Gesetz dasjenige der einzelnen Staaten ist, das durch die Richter der einzelnen Staaten auf Grundlage der von den Polizeien der einzelnen Staaten durchgeführten Ermittlungen angewendet wird; "unbedingt erforderlich" ist ein bewusst vage gehaltener Begriff, damit ihn jeder Staat mit seinen eigenen Kriterien (und mit seinen eigenen Gewalttaten) füllen kann.
Das Recht auf Aufruhr, auf Insurrektion und auf Revolution gehören daher nicht zu den Menschenrechten. In dem Augenblick, in dem sie die legitime Form der sozialen Insurrektion gegen eine unerträgliche und ungerechte Ordnung annehmen sind nicht nur die Demonstrationen in Genua und Seattle, sondern auch die In Tunis, Kairo, Damaskus oder Amman nach internationalem Recht illegal. Sicher werden die politischen Berechnungen der Gruppen an der Macht oder der Nationen oder deren Seilschaften in einem zweiten Schritt eingreifen und das eine oder andere Urteil forcieren, um den Schrecken der einen oder anderen Regierung zu behaupten, und in den Krieg ziehen zu können: Man darf davon ausgehen, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn sich Carlo 2011 gegen die Gewalt der Militärpolizei in Bengasi aufgelehnt hätte. Jenseits dessen ist es aber fundamental zu begreifen, dass es keiner Forcierung durch einen Richter oder des Drucks durch den einzelnen Staat bedarf, damit der, der um Freiheit kämpft, durch das Gesetz auf den höchsten Stufen verurteilt und dass der, der selbigem zuwider getötet hat frei gesprochen wird.
Das ist der Grund für eine verständliche Gleichgültigkeit: weil die Gerechtigkeit niemals weder durch die Gesetze noch durch die Gerichtshöfe zustande kommen wird, wie die einfachen Leute oft viel besser wissen, als die Moralapostel der Bewegung. Eine bequeme und letzten Endes heuchlerische Ideologie hätte gerne dass die Welt, zumindest hinsichtlich des Rechts, längst am Ziel sei. Das Gegenteil ist wahr: nicht nur drücken die Gesellschaften viele Dinge aus, die das Gesetz nicht vorsieht und nicht umfasst. Der arabische Frühling lehrt: nur in dem es vermieden wird, sich den juristischen Diktaten und den Vorschriften der Staaten und der internationalen Versammlungen anzupassen kann man frei sein und die Zukunft nicht vorhersehbar machen. Um nicht darüber zu sprechen, dass unmöglich werden würde, vorzugehen, wenn man in Straßburg oder Jakarta für jede und jeden getöteten Genossin bzw. Genossen, für jede und jeden getöteten Aufständische bzw. Aufständischen einen Prozess führen würde. Nur das, was für jene Gerichtshöfe illegal ist - eine Weltrevolution - wird eines Tages vielleicht die Situation zum Besseren wenden.
Dieses Verfahren wurde geführt, weil in Italien, im extrem zivilisierten Europa, am Anfang dieses noch nicht zu entziffernden Jahrtausends ein Aufruhr stattgefunden hat und weil die Eindämmung jenen Aufruhrs den Standardmaßstäben der Darstellung nach, die der gesetzlichen Gewalt im Westen eigen ist nicht ausreichend demokratisch gewesen ist. Wenn die Toten Araber sind, wie in Palästina oder in Irak, oder Afghanen oder Tunesier, wird keinem von ihnen die Ehre eines solchen Verfahrens zuteil werden. Im Gegenteil: es werden "unsere Jungs" sein, die man heiligen wird, wenn sie unter den Schüssen ihren Widerstandes fallen, und jene, die den Kugeln ihrer "Sicherheitskräfte" entkamen werden nichts als "clandestinos" sein, wenn sie Lampedusa bevölkern werden. Die Wahrheit ist, dass Carlo beim Vollzug eines massenhaften Gehorsamsverweigerungsaktes gefallen ist bei dem er als Teil eines bewussten urbanen Aufruhrs handelte und mit den Mitteln, die er hatte, gegen die Androhung von Gewalt und der Bedrohung der Waffen, die jeder Staat vorführt, wenn der Dissens die Straßen überrollt Widerstand leistete. Sein Tod hat die Übelkeit erregende Heuchelei der westlichen Demokratien offenbart, die die Revolte, den Tod und das Leiden gerne außerhalb ihrer Grenzen verbannen würden. Und es ist genau gegen diese Weltordnung, von der eine solche Heuchelei Frucht und Bedingung zugleich ist, dass Carlo, wie wir Alle, Widerstand geleistet hat.