2011-03-24 

Kurze Unterhaltung mit Carlo Giuliani

Donnerstag, 24. März 2011 / 3. Germinal des Jahres 219

Hast Du gesehen, was sie dir wieder angetan haben, Bruder mein? Sag’ Du es mir… was aber hätten sie in Straßburg sonst sagen können? Was glaubst Du, was sie ein junger Mensch schert, der Rechte fordert und vom Staat Kugeln bekommt. Das Einzige, was die interessiert ist es, die bestehende institutionelle Macht zu schützen, das weißt Du doch, oder? Sie haben Italien frei gesprochen, sie haben sich selbst frei gesprochen. Hör mal, lass es uns so halten: ich will über die da gar nicht reden, auch weil… auch weil Du so wie wir bist, Du bist Teil von uns (und wir sind Teil von Dir), die können sich also auch tausend Mal frei sprechen, sicher ist jedoch, dass Du für uns lebendig bleibst. Weil Du es bist. Und das nervt sie, Du hast keine Ahnung wie sehr.

Manchmal denke ich an die ganze tragische Geschichte zurück. Ich sehe das Ganze aber nicht aus einer eingeschränkten Perspektive heraus, niemals! Ich betrachte sie aus der Vogelperspektive und von da oben erfasse ich deren Sinn, deren tiefere Bedeutung, wie soll ich es sagen? Ich komme durch die allgemeine Betrachtung zum Detail und weißt Du, was ich dann sehe, Bruder mein? Ich sehe eine Koalition von Raubtieren, die sich auf den Kopf stellen, um ihre eigene Gewalt zu rechtfertigen, um sie vor lauter Gesetz – dem Gesetz, das sie selbst geschaffen haben, um sich zu schützen – als eine Gute erscheinen zu lassen. Kurzum, die alte Geschichte, die es schon immer gab: auf der einen Seite, der allzeit zum geschlossenen Zusammenhalt und zur Unterstützung seiner Henker bereite Staat, ein Staat mit seinen Gesetzen, seinen Regierungen jeglicher Couleur und seiner Polizei; auf der anderen, das potenziell starke, aber tatsächlich so wehrlose und gespaltene Volk. So sehe ich die Zäsur zwischen der propagandistisch behaupteten Freiheit und jener, die verwehrt wird… und mehr noch als eine Zäsur sehe ich dabei eine Mauer! Ich sehe die Jahrhunderte alte Ungerechtigkeit, welche die Würde der Völker beleidigt und das Wesen des Menschen als Person verleugnet. Diese Ungerechtigkeit ist weiterhin ihr Markenzeichen – das Markenzeichen der Schurken!

Lass’ gut sein, Carlochen, werde nicht wieder wütend, wir sind es, vielmehr, die wütend werden müssten, selbst wenn der Tod des Volkes auf der Waage ihrer Justiz/Gerechtigkeit* immer wenig Gewicht hat. Aber seien wir mal ehrlich: zählt ihre Justiz/Gerechtigkeit noch was? Nein, mein Freund, sie zählt überhaupt nicht, sie hat nie gezählt, weil es kein Gesetz und keinen Staat gibt, die im Angesicht eines Freiheitsideals obsiegen könnten: das Recht ist stets auf unserer Seite. Deshalb grollen und verstecken sie sich hinter einer unechten und heuchlerischen Juristerei.

Eine einzige Sache musst Du mir aber sagen – und ich frage Dich, der im Gewissen der Gerechten lebst: wie lange noch werden wir warten müssen, bis alle die Täuschung durch die Staaten begreifen? Wie lange noch, bis allen verständlich gemacht werden kann, dass es keine guten Regierungen gibt? Wie weit ist der Weg zur Freiheit und zur Gerechtigkeit? Während ich Dir gerade diese Fragen Stelle, holt mich ein einschneidender Gedanke ein, ein Gedanke, so nackt wie die Wahrheit. Und ich begreife, dass Dein Name selbst die Antwort auf jene Fragen ist. Du hast Recht: den Weg des Kampfes zu gehen, ist bereits ein Erringen von Freiheit.

Wir sind deiner Familie nah.

*A.d.Ü.: