2011-03-24 

Carlo Giuliani: EGMR spricht Italien frei

“Keine Verletzung der Menschenrechte” beim G8 in Genua 2001. Mit 13 Ja- und vier Nein-Stimmen hat die “Grande Chambre” – die “Große Kammer” des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) dem als Todesschützen geltenden Mario Placanica und Italien einen Freispruch erteilt. Die Eltern und die Schwester von Carlo Giuliani, der 2001 im Kontext einer Revolte gegen die Repression der Proteste gegen den G8 Gipfel jenen Jahres in Genua erschossen wurde, waren nach dem erstinstanzlichen Urteil des EGMR in Berufung gegangen. Sie hatten sich an den EGMR gewendet, weil es in Italien durch die Einstellung des Verfahrens nie zu einem Prozess wegen der Tötung ihres Sohnes und Bruder gekommen war.
Nach Auffassung des Gerichtes sei “der Rückgriff auf ein potenziell mörderisches Verteidigungsmittel wie es bei Schüssen aus einer Feuerwaffe der Fall ist” durch den als Todesschützen geltenden Mario Placanica – ein damals 22-jähriger Angehöriger der italienischen Carabinieri – “gerechtfertigt” gewesen. Der heute nicht mehr im Dienst der italienischen Sicherheitsapparate stehende Carabiniere habe “im guten Glauben gehandelt, dass sein Leben und das Leben seiner Kollegen im Angesicht des Angriffs bedroht seien”. Zum Zeitpunkt seiner Tötung war Carlo Giuliani im Begriff, einen Feuerlöscher zu werfen, den er unmittelbar zuvor vom Straßengrund aufgelesen hatte.

Pic: Genoa

Es ist dokumentiert, dass er dies offenbar deshalb tat, weil er aus dem Heck des Jeeps, aus dem dann die Schüsse fielen, eine auf revoltierende Demonstranten, die in der Umgebung standen gerichtete Pistole hervor lugen sah. Der Jeep selbst war zu dem Zeitpunkt umgeben von einigen Personen, die auf verschiedene Weise auf das Fahrzeug einschlugen umgeben. Einer von ihnen wurde in einem Verfahren gegen insgesamt 25, mit jeweils unterschiedlichen Vorwürfen konfrontierten Demonstranten aus jenen Tagen bereits in zweiter Instanz zu 10 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. Das Gericht bescheinigte den Demonstranten, die sich in den Stunden, die dem Tod Carlo Giulianis vorausgingen heftige Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften lieferten allerdings, dass es sich bei ihrem Aufbegehren tatsächlich um eine Revolte gegen ein illegitimes und extrem gewalttätiges Vorgehen der Ordnungskräfte gehandelt hatte, was in etwa 10 Fällen zu erheblichen Minderungen der Strafmaße führte. Zahlreiche Bilddokumente zeigen darüber hinaus, wie die Pistole, die Carlo Giuliani veranlasste, etwas gegen die von ihr aus für die Demonstranten ausgehende Bedrohung zu unternehmen, auf Mannshöhe gegen die gesamte sich auf dem Platz aufhaltende gerichtet war. Ein Präsentieren der Waffe seitens des Carabiniere zu einem etwaigen Zweck der Abschreckung bleibt nicht erkennbar. Das Gericht in Strasbourg ist jedoch der Meinung, dass “klar hervorgeht, dass er Warnhandlungen vorgenommen hatte, in dem er seine Waffe gut sichtbar hielt und dass er nur im Angesicht des Angriffs feuerte”. Gemeint ist freilich die nie vollzogene Geste Carlo Giulianis, der getroffen wurde, als den Feuerlöscher noch in den Händen hielt.

Wenn im Falle des Carabiniere, der geschossen haben soll, das zuvor in der ersten Instanz gesprochene Urteil schlicht bestätigt wurde, so wurde das vorherige Urteil gegen den italienischen Staat durch das heutige, endgültige Urteil aufgehoben. Dies geht aus mehreren Medienberichten hervor. Am 25. August 2009 war das EGMR zum Schluss gekommen, dass Zweifel bestünden, ob der italienische Staat die Durchführung einschlägiger Ermittlungen wirklich mit der gebotenen Gründlichkeit gewährleistet habe. Die Angehörigen Carlo Giulianis hatten einen hierzu umfangreichen Faktenkatalog zusammengetragen. Dieser beginnt mit zahlreichen dubiosen Vorgängen bereits ab dem Zeitpunkt der “Sicherung” des Tatorts durch Polizeikräfte unmittelbar nach den Ereignissen und mit den äußerst dubiosen Umständen, unter denen die Obduktion der Leiche Carlo Giulianis stattfand. Die Ergebnisse der Obduktion stellten sich laut EGMR-Urteil vom 25.08.2009 als “oberflächlich” heraus, das Gericht hatte unter Anderem bemängelt , dass die Angehörigen nur drei Stunden vor der Untersuchung der Leiche davon in Kenntnis gesetzt wurden, was sie daran hinderte, die Beteiligung eines unabhängigen Experten zu beantragen. Ebenfalls hatte das EGMR die Freigabe der Leiche zur Verbrennung vor dem Bekannt werden der Obduktionsergebnisse bemängelt. Diese erfolgte bereits am 23. Juli 2001, obwohl den Obduktionsgutachtern zur Vorlage ihrer Erkenntnisse 60 Tage Zeit eingeräumt worden waren. Die Leiche wurde also binnen 24 Stunden zu Asche gemacht – Carlo Giuliani war erst am 20. des selben Monats um 17 Uhr 23 erschossen worden. In der von den Angehörigen Carlo Giulianis dokumentierte Abfolge von Verdunkelungs-, Manipulations- und Vertuschungsversuchen und -manövern stellt auch die Darlegung eklatanter Ungereimtheiten in den Gutachterberichten dar. Wenn es in Italien nie zu einem Gerichtsverfahren wegen der Erschießung Carlo Giulianis kam, so deshalb, weil das Untersuchungsgericht eine der abenteuerlichsten bis dahin von Gutachtern präsentierten Theorien gelten ließ, nach der ein fliegender Putzbrocken den Schuss erst habe tödlich werden lassen, weil dieser mit dem Brocken zusammengetroffen und so von einer angeblich in die Luft gerichteten Bahn mitten ins Gesicht Carlo Giulianis umgelenkt worden sei. Die Entscheidung der Angehörigen Carlo Giulianis, wegen den Umständen der Einstellung des Verfahrens wegen der Tötung ihres Sohnes und Bruders in Strasbourg zu klagen kam genau in Folge dessen. Wie es nun scheint, hat das EGMR auch von den in erster Instanz zumindest in Form von Bedenken festgestellten Zweifel abgesehen und so neben dem Todesschützen auch dem italienischen Staat eine umfassend weiße Weste zugesprochen.

Die Angehörigen Carlo Giulianis werden ihren nunmehr zehnjährigen Kampf um eine gerichtliche Verhandlung aller Voraussicht nach im Rahmen eines Zivilverfahrens fortsetzen. Der zivilrechtliche Weg stellt dabei die letzte ihnen verbliebene Möglichkeit der Ergründung des wahren Hergangs der Tötung ihres Sohnes und Bruders im institutionellen Rahmen – einschließlich dessen, was mit ihm nach seiner Erschießung getan wurde, darunter die Zufügung einer Verletzung an der Stirn mit einem Stein, zu der es nachweislich erst dann kam, als der Tatort bereits polizeilich gesichert war. Wohl im Zuge dessen hatte ein Beamter am Platz seinerzeit einen Versuch der Verfolgung eines Demonstranten ausgelöst, dem er, vehement anklagend auf ihn zeigend zugerufen hatte: “Du bist es gewesen! Du! Mit deinem Stein!”. Die Angehörigen haben ihre Absicht bereits bestätigt und ihre Motive bekräftigt. Auch haben sie klar gestellt, dass es ihnen dabei keineswegs darum geht, beim Beschreiten des zivilrechtlichen Weges den Todesschützen im Sinne einer Schadensersatzleistung zu behelligen.

Das heutige EGMR-Urteil fällt an einem Tag, an dem in Italien ein Verfahren gegen verschiedene der Beteiligung am grausamen Tod eines im Oktober 2009 wegen Drogenbesitzes verhafteten jungen Mannes eröffnet wird. In den Jahren nach dem Tod Carlo Giulianis ist es gleich zu mehreren, furchtbaren Todesfällen durch Gewalt gegen Menschen gekommen, die sich in der Obhut der Ordnungskräfte bzw. des Vollzugsapparates befanden. Auch wurde kürzlich publik, dass sich die Benutzung von scharfen Waffen auf Mannshöhe durch Angehörige der Ordnungskräfte bei massenhaften und scharfen Protesten in Rom am vergangenen 14. Dezember belegen lässt. Dass der italienische Innenminister im Vorfeld die Möglichkeit angemahnt hatte, dass es Tote geben könnte, ist belegt. Die gleiche Aussage war auch seinerzeit in Genua gefallen. Schon damals wurde von kritischen Beobachtern auf das gefährliche Gewicht, das derlei Aussagen bei den Beamten im Einsatz haben hingewiesen.

Mehrere kritische Stimmen haben im Laufe der Jahre darauf hingewiesen, dass man aufgrund des Ausgangs der meisten gerichtlichen Auseinandersetzungen in Zusammenhang mit dem G8 Gipfel in Genua davon ausgehen darf, dass sich etliche Beamte durch manches Urteil ermutigt sehen, selbst bei Begehung schlimmster Straftaten und Amtsmissbrauchsakte fest mit dem absolutem Schutz der Institutionen rechnen. Den konsequentesten Kampf gegen diese Tendenzen führten in Italien die Angehörigen der Todesopfer der letzten Jahre. Teilweise vermochten diese es dabei, wenigstens in Ansätzen den Mantel der gesellschaftlichen Verdrängung einzureißen. Auch kam es gelegentlich zu einigen Schuldsprüchen gekommen, was ganz vordergründig nur durch ihre Hartnäckigkeit geschah, wenn auch in den meisten Fällen kein Angehöriger des Polizei- und Vollzugsapparates tatsächlich eine Haftstrafe verbüßen musste.

Zu den jüngsten Verurteilungen ohne konkrete Folgen eines Staatsbeamten in Zusammenhang mit dem G8 Gipfel 2001 gehört wiederum jenes, das im vergangenen Jahr gegen den damaligen Polizeichef Gianni De Gennaro gesprochen wurde, der wegen Anstiftung zur Falschaussage im Verfahren wegen der illegalen Durchsuchung einer genuesischen Schule in der Gipfelgegner übernachteten, bei der Dutzende brutal misshandelt und vier Personen lebensgefährlich verletzt wurden. De Gennaro wurde zu einem Jahr und vier Monaten verurteilt, amtiert ungeachtet dessen weiter als derzeitiger Chef der italienischen Geheimdienstzentrale DIS.