2010-11-10
Der G20-Gipfel in Seoul ist für Südkorea das wichtigste Ereignis seit den Olympischen Spielen von 1988. Das Land will zeigen, was es kann – wirtschaftlich und politisch. Doch die Interessen der Gipfelteilnehmer sind zu verschieden. Und die Globalisierungskritiker Südkoreas besonders engagiert.
20 Meter hoch steht sie da und formt mit den Fingern ein Herz: In Übergröße strahlt Kim Yu-na, Eiskunstlaufstar und international das berühmteste Gesicht Südkoreas, von Seouls Rathaus. “Die Zukunft der Welt öffnet sich in Korea” lautet der Slogan, mit dem die Schlittschuhprinzessin für das wichtigste Ereignis wirbt, das ihr Land seit den Olympischen Spielen von 1988 ausrichtet: Am Donnerstag und Freitag treffen sich die Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in der südkoreanischen Hauptstadt, um über weitere Reformen des globalen Wirtschaftssystems zu beraten.
Seit Wochen ist der nahende G20-Gipfel das bestimmende Thema der koreanischen Medien. Denn die Südkoreaner, die sich von der Welt chronisch unbeachtet fühlen, wollen die geballte internationale Aufmerksamkeit für einen Imagesprung nutzen und endlich aus dem Schatten ihrer großen Nachbarn treten. Bisher leidet das Land darunter, dass seine Produkte auf dem Weltmarkt zwischen “Made in China” und “Made in Japan” angesiedelt werden, also als weder besonders billig, noch besonders gut gelten. “Wir arbeiten hart daran, Koreas Markenwert zu verbessern”, sagt Seouls Bürgermeister Oh Se-hoon. “Der G20-Gipfel bietet uns die Chance zu zeigen, dass wir in vieler Hinsicht Weltklasse sind, zum Beispiel bei Umwelttechnologien, Infrastruktur und Design.”
Um neben der politischen auch die wirtschaftliche Elite zu überzeugen, veranstalten die Südkoreaner erstmals neben dem Gipfel der Regierungschefs auch eine Unternehmerkonferenz, an der unter anderem Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und Bosch-Geschäftsführer Franz Fehrenbach teilnehmen. Alle großen südkoreanischen Konzerne geben sich Mühe, die globalen VIPs zu beeindrucken: Hyundai stellt den Mächtigen seine Luxuslimousine Equus zur Verfügung, mit der das Unternehmen in den internationalen Markt für Premiumautos vorzustoßen versuchen (US-Präsident Barack Obama bringt allerdings wie üblich sein eigenes Auto, einen Cadillac, mit, und auch Russlands Präsident Dmitri Medvedev lässt einen gepanzerten Mercedes aus Moskau einfliegen). Im Veranstaltungszentrum führt der Elektronikkonzern Samsung seine 3-D-Fernseher vor, und die Kosmetikfirma Sulwhasoo verteilt Ginseng-Seifen.
Übertroffen werden die Werbebemühungen nur noch durch den Sicherheitsaufwand. Seit Montag gilt in Seoul die höchste Alarmstufe. 45.000 Polizisten und Soldaten sichern den Konferenzkomplex, Hotels und Botschaften. Präsident Lee Myung-bak ließ vom Parlament vorab eigens ein zeitlich begrenztes Sicherheitsgesetz verabschieden, das Demonstrationen rund um das Veranstaltungszentrum oder nach Sonnenuntergang verbietet. Die Vorsicht ist nicht unbegründet: Südkoreanische Globalisierungsgegner haben international den Ruf, besonders gewaltbereit zu sein – und auch sie wollen sich das Heimspiel nicht entgehen lassen.
80 linksorientierte Gruppierungen haben sich unter dem Namen “G20 Gegenaktion des Koreanischen Volkes” zusammengeschlossen. Vergangenes Wochenende demonstrierten bereits 20.000 Menschen vor dem Rathaus, bisher allerdings friedlich. Im Juni war es beim G20-Gipfel im kanadischen Toronto zu Ausschreitungen mit verwüsteten Geschäften und brennenden Polizeiwagen gekommen. Rund 900 Menschen wurden damals verhaftet. Um ähnliches zu verhindern, habe Südkorea unter anderem die Einreisebestimmungen verschärft, mehrere Aktivisten wurden bereits abgewiesen. „Wir sind gut vorbereitet“, sagt Bürgermeister Oh. „Ich gehe davon aus, dass alles unter Kontrolle bleiben wird.“
Doch für einen echten Erfolg braucht der Gipfel vor allem eines: politischen Konsens bei drängenden Fragen. Davon ist bisher wenig zu sehen. Seit Monaten eskaliert der Streit um Protektionismus und Währungsmanipulation. Vor allem die Volksrepublik China steht wegen ihres künstlich billigen Yuan am Pranger – allerdings nicht mehr alleine, seitdem die US-Notenbank vergangene Woche 600 Milliarden Dollar ins System gepumpt hat.
Ein Erfolg ist kaum zu erwarten
Eine gemeinsame Linie bei den globalen Handelsungleichgewichten ist ebenso wenig zu erwarten. In dem gemeinsamen Kommunikee der Regierungsoberhäupter, über dessen Formulierungen Vertreter aller Länder bereits seit Montag in Seoul verhandeln, werden deswegen wohl bereits erzielte Erfolge noch einmal neu verkauft werden müssen. Vor allem die Ende Oktober von den Finanzministern erzielte Einigung zur Stimmrechtsreform im Internationalen Währungsfond wollen sich die Chefs selbst auf die Fahnen schreiben.
Bereits beschlossene Sache ist offenbar auch die Verschärfung der Eigenkapitalrichtlinien für Banken, die sogenannten Basel-III-Regeln. Diskutiert werden sollen darüber hinaus Vorschläge zur Verbesserung der Transparenz von Hedgefonds und privaten Beteilungsgesellschaften sowie Konzepte zur Kontrolle globaler systemrelevanter Banken und der von ihnen ausgehenden Risiken für die Finanzmarktstabilität. Doch dass in den Gesprächen Durchbrüche erreicht werden, die den Traum der Koreaner auf eine epochemachende “Seouler Erklärung” erfüllen könnte, wird kaum zu erfüllen sein. Denn so gut das offizielle Gipfelmotto „Wachstum teilen jenseits der Krise“ auch gemeint ist – zum Teilen reist niemand nach Seoul.
G20 statt G8
G steht für Gruppe, manche sagen, für groß. Als das Wechselkurssystem von Bretton Woods kollabiert war, entstanden 1975 die G6: USA, Japan, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien. 1976 stieß Kanada dazu, in den 90ern Russland. Aus informellen Gesprächen wurden gewaltige Gipfel. Zuweilen inszenierte sich die “G” als Weltregierung. Dabei repräsentierte sie zwar rund zwei Drittel der Weltwirtschaftsleistung – aber nur gut 13 Prozent der Menschheit.
Angesichts der Finanzkrise rief George W. Bush im Herbst 2008 in Washington erstmals die Staats- und Regierungschefs der G20 zusammen. Den Klub gab es seit 1999, er führte ein Schattendasein. Doch die Machtverhältnisse verschoben sich. Die reichen Industrienationen zollten dem wachsenden Gewicht der großen Schwellenländer Tribut – und der eigenen Unfähigkeit, globale Probleme allein lösen zu können.
Mit der Kraft der zwanzig stemmte sich der erste G20-Gipfel gegen die große Finanzpanik. Wobei es sich genau genommen um 19 Staaten handelt, ergänzt um die Europäische Union. Direkt oder indirekt repräsentieren sie zwei Drittel der Weltbevölkerung.
Beim Folgetreffen im April 2009 in London war klar, dass die neue Runde und die alte G8 nicht auf Dauer parallel existieren können. Der G8-Gipfel in L’Aquila im Sommer 2009 war der letzte in dieser Form. Die Musik spielt nun beim erwachsen gewordenen Ziehkind. Das bedeutet auch: mehr Gipfeltrubel, Absperrungen, Ausnahmezustand. olk