2009-10-15
Am Montag dem 19.10.09 findet in Colmar (Frankreich) der 2. Prozesstag im Berufungsverfahren eines Aktivisten statt, der im Vorfeld des NATO-Gipfels Anfang April in Strasbourg festgenommen und im Schnellverfahren zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Nach dem ersten Verhandlungstag am 5.8.09, nachdem der Gefangene bereits 4 Monate im Gefängnis verbringen musste, wurde er vorläufig freigelassen und die Entscheidung vertagt, weil das Gericht die belastenden Polizeizeugen nun doch persönlich verhören will – bisher hatte eine einzige schriftliche Aussage vor Gericht „ausgereicht“. Der Staatanwalt hatte mit einem Vortrag über die Geschichte des Black Block geglänzt und als „Überraschungsjoker“ mit angeblich bei den Angeklagten gefundenen, angeblich antisemitischen Schriften.
Am 19.10. ist nach der Zeugenanhörung mit einer Entscheidung des Gerichts zu rechnen. Die Verteidigung und Unterstützer_innen fordern den Freispruch des Angeklagten.
Presseerklärung zum
Prozess am 19.10.09 in
Colmar/Frankreich
Dem 25-jährigen Studenten aus Berlin wird ein Steinwurf auf Polizisten vorgeworfen. Als Beweis reichte im Schnellverfahren in der ersten Instanz eine schriftliche Zeugenaussage, bestehend aus einer DIN A4 Seite, die von einem Polizisten unterschrieben war. Von zwei weiteren Polizisten wurden lediglich die Namen genannt.
Das Landgericht Strasbourg verurteilte den Angeklagten nach einer 15minütigen Verhandlung zu 6 Monaten Haft mit sofortigem Vollzug. Am selben und am folgenden Tag wurden zahlreiche weitere Aktivisten mit ähnlich harten Strafen belegt, nachdem Präsident Sarkozy am Vortag öffentlich gefordert hatte, die „Schuldigen“ an den Ausschreitungen mit aller Härte zu bestrafen. Während das Schnellverfahren bereits 4 Tage nach der Verhaftung stattgefunden hatte, ließen sich die Behörden mit der Berufungsverhandlung Zeit: erst nach exakt 4 Monaten fand diese statt – zu einem Zeitpunkt, zu dem der Angeklagte mit Haftverkürzungen schon hätte frei sein können, wenn er das erstinstanzliche Urteil akzeptiert hätte.
Die Staatsanwaltschaft erläuterte im Berufungsverfahren in ihrem Plädoyer die Geschichte des „Black Block“ seit 1980 laut Wikipedia – mangels konkreter Beweise musste eine angebliche Organisiertheit und das Phantom der „terroristischen Vereinigung“ „Black Block“ herangezogen werden.
In diesem und dem Verfahren eines weiteren Berliners hatte sich die Staatsanwaltschaft noch etwas besonderes ausgedacht: Ohne dass es vorher in der Akte gewesen wäre, legte sie angebliche antisemitische Schriften vor, die in der Zelle der Angeklagten gefunden worden wären. Bei den Schriften handelte es sich jedoch im Gegenteil um antifaschistische Texte über Antizionismus, die die Angeklagten obendrein noch nie gesehen hatten. Am 5.8. lehnte das Gericht diese Texte als Beweismittel ab, weil sie nicht rechtzeitig in der Akte waren – zum kommenden Prozesstag könnten sie jedoch eingebracht werden.
Zwei weiteren Anti-Nato-Aktivisten aus Berlin und Dresden ging es ähnlich. Der Dresdner wurde nach 4 Monaten Haft freigesprochen und hat somit Anspruch auf Entschädigungszahlungen. Jedoch ist die Staatsanwaltschaft in Revision gegangen und das Verfahren daher wieder offen. Im Fall des Berliners wurde sein Urteil von ebenfalls 6 Monaten in der Berufungsverhandlung bestätigt, das darüber hinaus verhängte Frankreichverbot und eine Geldstrafe sogar verlängert bzw. erhöht. Den Vorsitz führte in diesem Fall jedoch ein Richter, der als rechter Hardliner bekannt ist.
„Nachdem es sich bei den Schnellverfahren eindeutig um politische Gesinnungsjustiz gehandelt hat, haben wir die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass uns das Gericht am 19.10. mit einer größeren Unabhängigkeit und einer kritischeren Sicht auf das Agieren der Polizei beim Gipfel überrascht“, äußert sich eine Unterstützerin.
Während des NATO-Gipfels war das gesamte Zentrum von Strasbourg tagelang gesperrt gewesen, zehntausende Polizisten waren vor Ort, die Großdemonstration war in ein abgelegenes Hafenviertel verlegt worden und wurde dort mit Tränengas z.T. aus Hubschraubern angegriffen. Als die Zollstation und das Hotel brannten, dauerte es jedoch 4 Stunden, ehe Polizei und Feuerwehr einschritten, was viele Fragen offen lässt, die von Seiten der Verantwortlichen nicht beantwortet werden konnten.
Im Oktober finden noch weitere Prozesse im Zusammenhang mit Gipfelprotesten statt: Am 9.10. steht ein Aktivist in Strasbourg vor Gericht, der ein „Anarchie-A“ an eine Wand gesprüht haben soll, und am 20.10. ein Mensch in Freiburg, dem sogenannte „passive Bewaffnung“, während einer Demonstration am 11. Juli in Freiburg vorgeworfen wird. Diese Demonstration richtete sich gegen den in Italien ausgetragenen G8-Gipfel.
Soligruppe Breakout!berlin