2009-07-28
Orsola Casagrande – Venedig
„Die Herausforderung besteht vor allem darin, dass wir in diesem neuen Kontext, der sich von dem vor acht Jahren absolut unterscheidet, zum Geist von Genua zurückfinden müssen.“ Luca Casarini von den Centri Sociali Norditaliens spricht Klartext: „Geist von Genua bedeutet vor allem eines: die Radikalität des Diskurses und der Praxen mit der Tatsache vereinen, dass wir Viele sind. Wie macht man das? Wie positioniert man sich da? Ich weiß es nicht“ – sagt er – „aber das ist es, was wir in diesem neuen Kontext tun müssen.“
Beginnen wir beim Protest gegen den Auftritt von Wirtschaftsminister Scajola ((Anm.1)) in Venedig.
„Es ist klar, dass was ((im Juli 2001)) in Genua geschehen ist, ist in die DNA der Bewegung eingeschrieben. Diese Mörder dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Das ist keine Frage des Rituals, sondern hat mit der Tatsache zu tun, dass man bestimmte Dinge – unabhängig vom Gesundheitszustand der Bewegung – nicht vergessen darf und nicht vergessen kann.“
Eine Bewegung, die – wie Du sagst – von einigen präzisen Koordinaten ausgehend einen Neubeginn machen muss.
Zumindest zwei. Um zu begreifen, wo uns die Zeit hingebracht hat. Die erste Koordinate haben alle vor Augen. Sie ist in Vicenza, wo Bürger und ganz normale Leute ((angesichts des massiven Ausbaus der dortigen US-Basis)) ihren Dissens demonstrieren und mit dem Krieg konfrontiert sind, das heißt mit Tuscania. Das ist aber auch das Turiner Theorem, also die Studenten der ((Bildungsbewegung)) Onda (Welle), die ((wenige Tage vor dem G8-Gipfel Anfang Juli wegen der militanten Proteste gegen den G8-Universitätsgipfel in Turin Mitte Mai 2009)) auf der Grundlage eines Theorems alten Stils verhaftet wurden, das im Übrigen bestätigt, dass Teile der ((mitte-linken)) Demokratischen Partei (PD), genau wie nach Genua mit der parlamentarischen Untersuchungskommission, die schlechte Angewohnheit nicht abgelegt haben, die Bewegung immer wieder in Gute und Böse spalten zu wollen. Heute fordern sie Gefängnisstrafen. Deshalb sieht die neue Strafrechtsnorm vor, dass bei Widerstand gegen die Staatsgewalt Leute heutzutage dreimal die Woche in der Carabinieri-Kaserne auftauchen und eine Unterschrift leisten müssen oder dazu gezwungen werden, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten und diesen nicht zu verlassen. Gegenwärtig wird das Verhältnis zwischen formalem Recht zu Protestieren und dem faktischen Inhalt verändert. Das hat etwas mit Genua zu tun. Wir erkennen Genua in dem wieder, was heute geschieht, weil dort in Genua ((2001)) die Linie der Repression sowie der Beschränkung des Demonstrationsrechts und des Rechts auf Protest ganz explizit verfolgt wurde.“
Und die andere Koordinate?
„Die Welt, in der sich jene Bewegung vor acht Jahren bewegte, hat sich verändert. Der Notstandsstaat, den wir in Genua erlebt haben, ist heute allerdings zur Norm geworden. Fahr’ nach Vicenza und Du findest die Armee in ihren Stellungen vor, wie man früher sagte. Also müssen wir uns in einer komplett anderen Richtung bewegen. Einerseits gibt es die Macht der Globalisierung und andererseits ihre Krise. Eine Dynamik, die selbstverständlich zu unterschiedlichen Ansichten über die Regierung der Welt führt. In diesem Kontext müssen wir einen Weg finden, um wieder zur Mehrheit zu werden. Will heißen Genua nicht in ritueller Weise hinterherzulaufen, sondern dessen Geist wieder zu finden. Und, wie ich vorhin sagte, bedeutet das die Radikalität eines Diskurses (der damals lautete: die G8 ist illegitim und wir wollen sie nicht) sowie praktischer Aktionen mit der Fähigkeit zu verbinden, mit vielen Leuten zu protestieren. Und ich möchte betonen, dass wir nicht aus der Via delle Botteghe Oscure ((in Rom, dem Hauptsitz der 1991 aufgelösten Italienischen Kommunistischen Partei – PCI)), sondern von Chiapas aus über Seattle nach Genua gekommen sind. Das, was sowohl die Rechte als auch die Linke erschreckt hat, war diese unsere Fähigkeit radikal und Mehrheit zu sein.“
Wie schafft man das?
„Man muss im Großen denken. Auch wenn es heute schwieriger ist mit vielen Leuten zu reden, weil das gesellschaftliche Klima schlechter ist. Wer unter dem Kommando leidet, reagiert sich an den Schwächsten ab. Dennoch muss man es versuchen, weil das dieselben Leute sind, die vor acht Jahren auf Seiten der Bewegung standen und vielleicht sogar in Genua dabei waren. Weil jene Mehrheit durchaus nicht tot ist. Aber das soziale Klima hat sich verändert und zwar zum Schlechten und heute machen sich die Schwächeren über diejenigen her, die noch schwächer sind. Die Arbeit ist schwierig, aber ich denke, dass man manchmal auch eine Runde überspringen kann. Das Wichtige ist, sich über einen Weg im Klaren zu sein. Und der Geist von Genua ist der, von dem aus man neu beginnen muss. Trotz der Schwierigkeiten. Eine Herausforderung, die man annehmen muss.“
Anmerkung 1:
Claudio Scajola (geboren am 15.1.1948 in Imperia) ist ein aus Ligurien stammender Ex-Christdemokrat. Seine politische Karriere begann er in der Mitte der 90er Jahre am Parteispendenskandal „Tangentopoli“ zugrunde gegangenen, jahrzehntelangen Regierungspartei Democrazia Cristiana (DC). 1995 trat Scajola Berlusconis ein Jahr zuvor gegründeter Partei Forza Italia (heute, nach der Fusion mit Alleanza Nazionale: „Volk der Freiheit“ – PdL) bei und wurde 1998 ihr Nationaler Koordinator. Von Juni 2001 bis Juli 2002 italienischer Innenminister und damit einer der Hauptverantwortlichen für das Blutbad und die Misshandlungen in Genua im Juli 2001.
Berühmt geworden ist Scajolas Kommentar zum ersten (abgelehnten) Werbeversuch seitens Forza Italia, Alleanza Nazionale und Lega Nord 1994 in ihre Regierung einzutreten: „Diese Herren sind doch bloß Faschisten.“
((Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in doppelten Klammern: * Rosso))