2009-04-27 

„Den Anti-G20-Protesten mangelt es an Politik“

Mario Tronti, historischer Vertreter des Operaismus und ehemaliges Führungsmitglied des PCI

Tonino Bucci

Auch wenn es rituell erscheint, auch wenn es die x’te Hoffnung ist, dass sich in den sozialen Konflikten etwas bewegt, kommt man doch nicht umhin sich zu fragen, welche Art von Bewegung das ist, die man in London gegen den G20-Gipfel erlebt hat – und die sich gestern in Straßburg gegen die NATO wiederholte. Darüber wurde schon viel gesagt und geschrieben. Zeitungen und Fernsehsender haben es als einen Protest beschrieben, der aus der Wirkung der weltweiten Wirtschaftskrise entstanden ist. In seinem Innern ist von den klassischen organisierten Subjekten der Arbeiterbewegung nichts zu sehen. Die Frage lautet also: Ist eine Bewegung, die außerhalb der traditionellen Sphäre der Interessenvertretung agiert (damit wir uns richtig verstehen: ohne Bindungen an Gewerkschaften und Parteien), automatisch eine Bewegung außerhalb der Politik oder macht sie ganz einfach auf andere Art Politik? Kurzum: Ist die Kritik derjenigen, die dieser Bewegung vorwerfen, nicht in der Lage zu sein über die Wut, die Verzweifelung und die symbolische Geste hinauszugehen, kleinlich? Das fragten wir Mario Tronti.

Welche Art von Bewegung ist das, was wir in London gegen die G-20 gesehen haben?

„Vielleicht ist es sinnvoll, einen Vergleich zwischen jener Bewegung und der heutigen Großkundgebung der CGIL in Rom zu ziehen. Hier haben wir etwas Präzises. Wir haben eine horizontal ziemlich ausgedehnte Welt der Arbeit, die sich in einer Mobilisierung befindet, die von einer großen Gewerkschaft organisiert wird. Da sind wir in der Tradition, oder nicht? Auch wenn es, angefangen bei der Präsenz von Migranten und einer jugendlichen Öffentlichkeit, viele Neuheiten gibt: Die Welt der Arbeit existiert und sie ist eine Protagonistin oder hat zumindest den Willen es in der italienischen Geschichte weiterhin zu sein. Und dann ist da die Wirkung der Krise. Auf der Welle der mehr oder weniger wirksamen Maßnahmen, die die europäischen Staaten, die USA und andere Länder der Welt beschließen, entsteht in der G-20 wieder ein Konflikt. Das erscheint mir tröstlich. In den anderen Ländern unterscheiden sich die Demonstrationen, die wir in den letzten Tagen erlebt haben, sehr von dieser heutigen. Hier gibt es eine organisierte Kraft, die auf den Plan tritt und hier gibt es Bewegungskräfte. Dadurch dass die angelsächsische Länder der Krise stärker ausgesetzt sind, haben wir es dort mit einem anderen Typ von Bewegung zu tun. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass das noch die Anti-Globalisierungsbewegung ist. Das ist etwas anderes.“

Die Anti-Globalisierungsbewegung besaß ihre eigenen Strukturen, ein Beziehungsnetzwerk, das ihr in gewisser Weise eine Kontinuität jenseits des Kalenders der Protestveranstaltungen sicherte. In London ist eine Bewegung aufgetreten, die sehr stark an der Macht der Bilder, an der Aktion, an der symbolischen Geste interessiert war. Es gibt sogar die Rückkehr von maschinenstürmerischen Einflüssen. Sicherlich wird sich das jemand zunutze machen, um von Terrorismus zu sprechen und den Protest zu kriminalisieren, aber es ist nicht der Mühe wert darüber zu reden. Das Problem ist ein anderes. Kann man sich damit zufrieden geben, das Schaufenster einer Bank einzuschlagen oder existiert nicht eher ein Problem der politischen Richtung?

„Es gibt einige anarchistische Merkmale. Das Problem der politischen Form, die der soziale Protest annehmen sollte, ist ein generelles Problem, das auch uns betrifft, aber darauf können wir später eingehen. Hier explodiert dieses Problem allerdings in eklatanter Weise. Sie denken nicht nur nicht an die politische Form, sondern lehnen sie ab und würden sie auch dann ablehnen, wenn sie auftauchen sollte. Das ist eine Bewegung anderen Typs, der die symbolische Geste mit Sicherheit sehr wichtig ist. Ich habe allerdings den Eindruck, dass diese symbolische Geste ihrerseits einer Interpretation der Krise entspringt, die nicht exakt ist, zumindest meiner Ansicht nach nicht. Ich glaube, dass man heute ein Minimum an analytischer Klarheit über die Krise herstellen sollte. Diese Idee, dass alles die Schuld der ausufernden Finanzoperationen (finanziarizzazione) ist, das heißt einer Seite des Kapitals, entspricht nicht der Wahrheit. Die Banken werden zum Gegner, den man kriminalisiert. Andere Verantwortlichkeiten, die mir ebenso stark wenn nicht noch stärker erscheinen, werden hingegen stillschweigend übergangen. Die neoliberale Phase geht nicht auf den Willen der Finanziers zurück. Die haben sie allenfalls für ihre Interessen genutzt. Es war die vom zeitgenössischen Kapitalismus in seiner Gesamtheit getroffene Systementscheidung. Auch der reale Kapitalismus hat sich an einem bestimmten Punkt für die Finanz entschieden. Es ist nicht so, dass allein die Bankiers schuld sind, wie uns diese unschuldigen Unternehmer weiß machen wollen, die sich als Teil der Opfer gerieren. Die Guten gegen die Bösen. Die einen auf der Seite der Werktätigen und dort die Anderen, die Spekulanten. Das ist eine Falle, in die wir nicht tappen sollten. Deshalb ist die Analyse der aktuellen Krise so wichtig.“

Kurzum, es ist eine Systemkrise. Niedrige Löhne einerseits und ausufernde Finanzoperationen der Wirtschaft andererseits. Wenn es keine nüchterne Analyse gibt, läuft man Gefahr, sich im politischen Kampf die falschen Ziele zu setzen. Oder nicht?

„Der Protest verfolgt falsche Ziele. Die Arbeit wurde, gerade weil sie unter der vorangegangenen Phase der neoliberalen Globalisierung zu leiden hatte, nur zu ihrer Flexibilisierung und Prekarisierung benutzt. Das, was ihr zustand, hat sie nicht bekommen. Daraus ist die Krise entstanden, aus der Tatsache, dass die Arbeitseinkommen dem Wachstum des Konsums nicht standhalten konnten. Es wurde zu sehr gedrückt. Das Ungleichgewicht zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen war sogar für das Kapital exzessiv. Sie haben es mit der Lohndrückerei übertrieben. Nicht umsonst erscheint das, was wir jetzt erleben, auch als eine Überproduktions- und Unterkonsumtionskrise. Der gesellschaftliche Widerspruch hat beim Ausbruch der Krise eine Rolle gespielt. Deshalb ist es wichtig die Kraft der Arbeit wieder ins Spiel zu bringen, sie sichtbar zu machen und zu zeigen, dass sie nicht demobilisiert ist.“

Das ist in zweierlei Hinsicht eine schwierige Operation. Erstens in kultureller Hinsicht. Jahrzehntelang wurde uns gesagt, dass die Arbeit nicht mehr zentral sei, dass die individuellen und kollektiven Identitäten sich eher über die Konsumstile herstellen würden. Aber es gibt auch ein politisches Problem. Gerade während die ökonomische Krise des Kapitals an ihrem Tiefpunkt angelangt ist, ist auch unsere politische Fähigkeit, die Arbeit zu organisieren, am Tiefpunkt. Wo sollen wir anfangen?

„Heute ((bei der CGIL-Kundgebung am Circus Maximus in Rom)) dieses Meer von Einzelpersonen zu sehen, die Masse machten (früher sprachen wir von Arbeitermassen) war Anlass zur Zufriedenheit, aber auch ein Moment der Entmutigung. Diese Leute würden sehr viel mehr verdienen als wir ihnen als Interessenvertretung, als Kultur, als Organisation geben. Es besteht ein Ungleichgewicht. Wenn jemand sagen würde, diese Arbeitermassen gibt es nicht mehr, dann würde jemand wirklich einen anderen Diskurs starten, genauer gesagt – damit wir uns Recht verstehen – den Diskurs der gemäßigten Linken. Hier ist aber das Problem, dass die Arbeitermassen existieren und ihnen nicht nur kein Erscheinungsbild, sondern auch keine politische Richtung / Führung entspricht. Wir müssen der CGIL danken, dass sie die einzige Kraft bleibt, die noch in der Lage ist, einen Auftritt dieser Art zu organisieren, wohl wissend allerdings, dass es die Grenze der gewerkschaftlichen Interessenvertretung gibt. Über ein bestimmtes Level kann sie nicht hinausgehen, auch wenn sie wollte. Auch wenn sie an einem bestimmten Punkt gezwungen ist, zum politischen Subjekt zu werden, dann nur, weil sie für die Werktätigen nur eine Verteidigungsfunktion besitzt. Nötig wäre jedoch ein offensiver Ausdruck. Wenn man diese Masse nur gegen irgendetwas auf die Beine bringen könnte…Auch in den gewerkschaftlichen Tageslosungen gibt es sehr viel mehr Widerstand als gegen ein Ziel gerichtete Aggressivität. Ein Gegner, der in der Krise steckt, hätte es verdient, vom unteren Teil der Gesellschaft verurteilt zu werden. Es genügt nicht zu sagen, dass wir ihre Krise nicht bezahlen. Die Krisen werden auch im Interesse des Kapitals hervorgerufen. Sie sind Instrumente der Umstrukturierung, der kreativen Zerstörung. Das, was ich noch nicht sehe, sind eine politische Richtung / Führung der Bewegung und eine Identifikation des wirklichen Gegners.“

Die Gewerkschaft kann das nicht tun. Im besten Fall bleibt sie beim ökonomischen Antagonismus stehen. Es fehlt die politische Führung, nicht wahr?

„Man müsste die Arbeit als etwas wieder hervortreten lassen, dass in den letzten Jahrzehnten unter den Teppich gekehrt wurde. Die Arbeit existierte fast nicht mehr. Und das nicht nur als politisches Subjekt, sondern auch als soziale Präsenz. Es hat den Anschein, dass dies ein System ist, dass ohne Arbeit auskommt. Man muss wieder deutlich machen, dass dieses System nur deshalb besteht, weil es Arbeit gibt, und es sogar in die Krise gerät, weil diese Arbeit unterbewertet und unterbezahlt ist. Ein großer politischer Diskurs ist notwendig. Man muss der Arbeit eine politische Definition geben. Nach den Klassenkämpfen des 20.Jahrhunderts ist die sehr rigide Klassenstruktur der Gesellschaft jedoch keine vollkommen negative Sache, wobei durchaus zugestanden sei, dass die Arbeiterklasse ein bisschen an Subjektivität verloren hat. Die Arbeit hat sich horizontal ausgedehnt und weist eine weniger partielle Verbreitung auf als das einstige Arbeitersubjekt. Es ist jedoch ein globaleres, kollektiveres, weniger partielles Subjekt. Die Arbeiterklasse war im Grunde eine begrenzte Angelegenheit, der es nicht gelang zum Volk zu werden. Heute hingegen umfasst sie in ihrer zeitgenössischen Ausprägung, Gliederung und auch Zersplitterung Alle: die feste Arbeit, die prekäre Beschäftigung und die autonome Arbeit ((d.h. in der Regel: die Scheinselbständigen)). Im Grunde arbeiten fast alle und sind fast alle Arbeiter. Das erlaubt es, zum Volk zu werden, zu einem Volk von Arbeitern.“

Vielleicht hat die zeitgenössische Arbeit an Konzentration verloren, vielleicht ist sie stärker zersplittert, aber an Verbreitung hat sie gewonnen, nicht wahr?

„Ja, deshalb dürfte die politische Organisation vor dem Problem stehen, wie sie die Organisation auf diesem breiteren, weniger konzentrierten, aber ausgedehnteren Terrain einsetzen soll. Hier muss man neue Organisationsformen entwickeln.“

Das Paradox ist, dass die Politiker lange Zeit darum gewetteifert haben, die Arbeit für erledigt zu erklären. Heute entdecken wir hingegen, dass die Arbeit durchaus nicht erledigt ist, sondern vielmehr die Politik. Ist es nicht so?

„Das ist der große Widerspruch, da gibt es keinen Zweifel. Die Arbeit macht keine Politik mehr. Nicht weil, die Arbeit nicht mehr existiert, sondern weil es fast keine Politik mehr gibt. Es gibt sogar das Gegenteil, es gibt die Antipolitik, die zuweilen auch viele Arbeiterschichten erfasst. Wenn Du nicht zur Politik findest, trifft sie Dich. Oder Du findest sie in so verzerrter Form wie heute, in abgekapselten, indifferenten, selbstbezogenen Politikerschichten, die unfähig sind, die Welt so zu betrachten wie sie ist.“

Wenn es keine Politik gibt, landet man bei der Verzweifelung und jeder reagiert so gut er kann. Der eine kidnappt einen Manager, der Andere attackiert die Bank… Es geht nicht darum, die Proteste von oben herab zu betrachten. Das kann sich keiner erlauben. Das Problem ist, dass es keine Politik gibt…

„Diese Dinge geschehen gerade weil es nichts anderes gibt. Sie füllen ein Vakuum. Wenn hingegen die Welt der Arbeit auf die Straße geht, besitzt sie eine große Sichtbarkeit und einen hohen Wiedererkennungseffekt. Etwas muss man allerdings ganz deutlich sagen: Die grandiose Manifestation von 2002 zur Verteidigung des Kündigungsschutzartikels 18, die von der CGIL unter ((ihrem damaligen Generalsekretär und heutigen mitte-linken Law & Order-Bürgermeister von Bologna)) Cofferati organisiert wurde, war ein Höhepunkt der Mobilisierung. Seit damals gab es einen rapiden Abstieg. Man müsste heute dafür sorgen, dass sich diese Sequenz nicht wiederholt. Der Druck von der Straße sollte kultiviert werden. Gewiss muss man wieder einen Konflikt eröffnen, ohne dabei die Kräfte zu vergeuden und unmittelbare Niederlagen zu erleiden. Aber das Problem ist, wie man es nach diesen großen Demonstrationen hinbekommt, nicht abzufallen, sondern sich auf diesem Niveau zu halten.“

Ist das ein Appell an die antagonistische Linke?

„Man muss diesen Druck in ein Subjekt verwandeln, die Kräfte konzentrieren, nicht alles über einen Kamm scheren. Ich denke, dass das Thema Arbeit für eine politische Linke nicht ein Programmteil von vielen ist. Die Arbeit ist ein entscheidender Punkt. Entweder räumt man ihr eine zentrale Rolle ein und organisiert die anderen Widersprüche, die es gibt, um sie herum oder es wird Dir nicht gelingen, verständlich zu machen, warum Du alles in einen Topf schmeißt und am Ende die Arbeitslinke, aber auch die Genderlinke, aber auch die Umweltlinke und so weiter bist und Rechte, Schutzbestimmungen, Weltlichkeit etc. zusammenschmeißt und verrührst… Das Problem ist, dass es eines Mittelpunktes bedarf. Wenn nicht, gibt es keine organisierte Form und Du endest bei einer halben Bewegungslinken (paramovimentismo).“