2009-04-21
Luca Casarini: „London und Frankreich sind nur Vorgeplänkel. In Italien denken wir an soziale Kämpfe gegen eine epochale Krise.“
Giacomo Russo Spena
„Die soziale Rebellion greift um sich. London und Straßburg sind die ersten beiden Vorgeplänkel.“ Luca Casarini, ein bekanntes Gesicht der Anti-Globalisierungs-Bewegung, hegt keine Zweifel. In den Revolten dieser Tage sieht er „den Beginn eines Weges“. „Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl der Nichtresignation und des Willens diejenigen zur Kasse zu bitten, die diese Krise verursacht haben.“
Wird dieser Wind auch Italien erreichen?
„In diesem Land brauchen die Dinge, historisch betrachtet, ein bisschen länger bis sie beginnen, aber wenn sie erstmal ausgebrochen sind, hatten sie eine längere Dauer als anderswo. In Frankreich zum Beispiel hat `68 früher begonnen, ist aber im Laufe eines Monats wieder abgeklungen. Bei uns dagegen war es erst fast zehn Jahre später zu Ende. Außerdem ist das Problem ein anderes. Die Krise ist epochal. Es ist nicht vorstellbar, dass sich diese Erschütterung / Umwälzung in einem kurzen Zeitraum abspielt. Wir reden hier von Teilen der Menschheitsgeschichte und nicht von Phasen. Jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass wir einen Heißen Herbst erleben werden. Im Oktober läuft das Kurzarbeitergeld aus. Dann werden viele Arbeiter arbeitslos und das Thema Schule eine Neuauflage erleben.“
Vorher noch wird es – im Juli 2009 – auf der Insel Maddalena den G8-Gipfel geben… Werden wir da etwa eine Neuauflage von Genua 2001 erleben?
„In Genua hatten wir die Absicht, die Mächtigen zu belagern, diesen am selben Tisch versammelten Verbrechern, die die Macht des Kapitalismus projizierten, das Schauspiel zu vermasseln. Jetzt ist es anders: Man muss die Widerstände auf den Gegengipfeln in soziale Kämpfe verwandeln. Die Mächtigen der Erde stecken in Schwierigkeiten. Sie verfügen nicht über die notwendigen Rezepte, um aus der Krise herauszukommen.“
Das heißt also?
„Es ist auch richtig, sie zu belagern, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Roten Zonen, die verletzt werden können, zugenommen haben. Die werden heute auch von einer Bank, einem Finanzinstitut oder einem Territorium repräsentiert, auf dem man um die Gemeingüter kämpft. Mit diesem Geist könnten wir in Richtung G8-Gipfel auf Maddalena schauen.“
Die Sanktionierung der Finanzinstitute durch direkte Aktionen charakterisiert diese neue Bewegung.
„Mit einer neuen Optik allerdings. Es geht nicht mehr darum, die Symbole des Kapitalismus zu treffen, sondern Protestmechanismen gegen die Kernprobleme der Krise zu schaffen. In der direkten Aktion gibt es ein konkretes Kampfelement. Da braucht man nur an das Kidnappen der französischen Manager zu denken. In London – das aufgrund der Heterogenität der Subjekte, die in die City strömten, überraschend war – ist es den zehntausend Demonstranten gelungen, eine unglaubliche Zustimmung zu ihren Praktiken zu gewinnen.“
Aber verfügt diese Bewegung hinter den Barrikaden über eine Projektfähigkeit?
„Das ist für alle offensichtlich. Und das ist nicht das politische Projekt einer Neuen Linken, sondern einer anderen Welt, einer permanenten Revolution, die über die alltägliche Schaffung von etwas Anderem vor Ort führt. Von unabhängigen Lebensformen. Das Ziel der Bewegung muss sein, Teil eines Konfliktes zu sein, den es gibt und der ein Recht auf Existenz und Kontinuität hat.“
Wird er ähnlich radikale Praktiken anwenden, wie in den letzten Tagen oder in Griechenland?
„Radikalität ist keine ästhetische Übung, sondern ein politisches Projekt. Wer das Gegenteil meint, macht einen großen Fehler. Man muss der Krise an die Wurzel gehen, weil es in dieser Phase keinen möglichen Reformismus gibt, der uns retten kann. Von Franceschini ((dem neuen Chef der mitte-linken Demokratischen Partei – PD)) bis zu ((Berlusconis Finanzminister und Vordenker)) Tremonti sehen sie die Krise nur in der bösen Finanz, retten aber den Rest, ohne zu begreifen, dass das Produktions- und Finanzsystem Arm in Arm gehen. Der Freihandel insgesamt kollabiert. Es gibt keine möglichen Kompromisse.“
((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern: * Rosso))
G8-Gipfel Sardinien + Heißer Herbst in Italien
Das linke „Gipfel-Hopping“ geht weiter. Nach dem G20-Meeting in London und dem NATO-Geburtstag in Straßburg Anfang April steht dieses Jahr neben dem turnusmäßigen EU-Gipfel auch noch das nächste G8-Treffen im Juli 2009 auf der kleinen sardischen Insel La Maddalena auf dem Programm. Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ brachte zu diesem Themenkreis am 5.4.2009 das folgende Interview mit dem ehemaligen Sprecher der Tute Bianche bzw. Disobbedienti (Ungehorsamen), Luca Casarini.
Der am 8.Mai 1967 in Venedig geborene und weiterhin im Veneto lebende Casarini, spielt, insbesondere in der aktionistischen, zivilgesellschaftlich orientierten, linksradikalen Szene Italiens nach wie vor eine bedeutende Rolle und orientiert sich dabei ideologisch im wesentlichen an der von Antonio Negri aufgestellten Empire-/Multitude-Theorie, von der wir bekanntermaßen wenig halten. Über längere Zeit verfolgte Casarinis Gruppe eine politisch höchst fragwürdige Entrismus-Strategie innerhalb der Grünen Partei (Verdi) der Region Venetien, wobei die „Übernahme“ einiger Kreisverbände durch Masseneintritte phasenweise gelang. Er selbst kandidierte 1999 als Vertreter des seit 1987 besetzten Sozialen Zentrums „Pedro“ in Padua für den Posten des Bürgermeisters.
Wegen verschiedener militanter Aktionen gegen den Krieg, neoliberale Globalisierung und hohe Lebenshaltungskosten stand er mehrfach vor Gericht und drohen ihm weiter mehrjährige Haftstrafen. Darüber hinaus war er mehrfach Objekt recht absurder Konstrukte von Staatsanwaltschaft und politischer Polizei. Im März 2008 erschien im angesehenen Mondadori-Verlag sein erster Roman „La parte della Fortuna“ (Der Part des Glücks). Viel Lyrik weisen auch seine Äußerungen im folgenden Gespräch auf.
Darunter sind richtige Positionen, wie seine Einschätzung der italienischen Besonderheiten, die in der 68er-Bewegung deutlich wurden, die Erwartung eines „Heißen Herbstes“ und die Orientierung weg von den, vor allem medialen Gipfel-Showdowns hin zur Verwandlung der „Widerstände auf den Gegengipfeln in soziale Kämpfe“, auch Ansichten, die wir in keiner Weise teilen, sondern hier präsentieren, um den Klärungsprozess voranzutreiben. Konkret handelt es sich um seine Abkehr von der Leninschen (bzw. jeglicher) Imperialismustheorie zugunsten verschwommener Begriffe wie „die Mächtigen der Erde“, führt über die ebenso nebulösen wie illusorischen Ausflüge in Richtung kleinbürgerlich-utopischer Sozialismus („die alltägliche Schaffung von etwas Anderem vor Ort, (…) von unabhängigen Lebensformen“) und die völlige Verkennung der inhaltlichen Schwäche des Protests bis hin zur gefährlichen Unterschätzung einer möglichen (und wahrscheinlichen) Renaissance des Reformismus. Wie man zum Beispiel am absurden Hype der „Wirtschaftsdemokratie“ in den Gruppen der Interventionistischen Linken hierzulande oder der „Äquidistanz“ bzw. Indifferenz in Fällen kolonialer Unterdrückung, Massaker und Kriege (Palästina, Libanon, Irak etc.) sehen kann, befindet der sich selbst in der subjektiv „linksradikalen“ Szene massiv auf dem Vormarsch.