2009-04-10 

Konferenz der NATO-Gegner bei Strasbourg, 3. April 2009 (SB)

Einen Tag vor Beginn des NATO-Gipfels fand im südlich von Strasbourg gelegenen Illkirch-Graffenstaden ein internationaler Kongreß statt, auf dem Mitglieder der Friedensbewegung Politik und Strategie des Militärbündnisses analysierten und Perspektiven ihrer weiteren Arbeit diskutierten. Unter dem Motto "Nein zur NATO - Nein zum Krieg. 60 Jahre sind genug!" trafen sich Friedensaktivisten und Parteigenossen aus aller Herren Länder, um einander zwei Tage lang, am 3. und 5. April, kennenzulernen und zu einer Fülle von Einzelthemen zu arbeiten. Unterstützt wurde der Kongreß von rund 600 Organisationen aus 33 Ländern, die sich unter der Regie des Internationalen Organisationskomitees (ICC) in nur einem halben Jahr zusammengefunden hatten, um lautstarken Protest gegen die NATO möglich zu machen.

Bild: Strasbourg Kongreß

Zwar fand der Kongreß in der zivilen Umgebung des Centre Sportif Lixenbuhl statt, doch wurde man auch dort nicht den Eindruck los, sich in einer militarisierten Zone zu befinden. So wurde die Anfahrt durch die Sicherheitsmaßnahmen und Blockadeaktionen der Polizei erheblich erschwert, mehrere Male flogen Hubschrauber über das Gelände, der Zugang zum nahegelegenen Strasbourg war nur zu Fuß oder mit den zu diesem Zeitpunkt noch fahrenden öffentlichen Verkehrsmitteln möglich, und die Nachrichten aus dem einige Kilometer entfernt gelegenen Widerstandscamp, bei dem es in der vorherigen Nacht zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war, kündeten von einer höchst prekären Situation.

Um so mehr Grund gab es dazu, sich der Frage zu widmen, was gegen die Nordatlantische Vertragsorganisation, die sich anschickt, in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden mit viel Pomp und militärischem Gepränge ihr 60jähriges Bestehen zu zelebrieren, zu unternehmen ist. Zum Teil wurde diese Frage durch die an diesem Tag laufenden Proteste in Baden-Baden und die für den nächsten Tag anberaumten Demonstrationen in Strasbourg und Kehl beantwortet. Wie sich gezeigt hat, sind die Möglichkeiten zivilen Engagements in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stark durch die rigide Politik eingeschränkt, weit im Vorfeld von Demonstrationen mit Einschüchterungsmaßnahmen, Grenzschließungen, Polizeiauflagen und dem Abdrängen in entlegene Randbereiche des Geschehens, gegen das protestiert werden soll, dafür zu sorgen, daß viele Menschen von vornherein abgeschreckt werden und der nicht so leicht zu beeindruckende Rest ständig Gefahr läuft, kriminalisiert zu werden.

Phyllis Bennis, Reiner Braun, Arielle Denis

Die Veranstalter des Kongresses und der Demonstration, das aus vielen Friedensorganisationen gebildete Internationale Organisationskomitee (ICC), wurden vor allem durch Reiner Braun von der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA) und Arielle Denis vom Mouvement de la Paix (MdlP) repräsentiert. Beide versuchten auf der zwischenzeitlich anberaumten Pressekonferenz, so gut wie möglich Auskunft über Ort, Zeitpunkt und Verlauf der morgigen Demonstration zu geben. Es zeigte sich jedoch schon dort, daß die Strategie der Behörden, die Veranstalter und Demonstranten so lange wie möglich im Unklaren zu lassen, eine schwerwiegende Einschränkung des Versammlungsrechts darstellt. Um so anerkennenswerter ist die Energie, mit der die Veranstalter darum bemüht waren, gute Stimmung zu verbreiten und den offensiven Geist, in dem die Proteste vorgebracht werden sollten, mit Leben zu erfüllen.

Das war auch Aufgabe der Redner, die den Vormittag des Kongresses im größten, gut gefüllten Veranstaltungssaal mit Ansprachen bestritten.

Jan Tamás von der Gewaltfreien Bewegung gegen amerikanische Stützpunkte in der Tschechischen Republik berichtete über den langwierigen Kampf, den er und andere Aktivisten gegen die Raketenabwehrstellung führen, den die USA in seinem Land errichten möchten, angeblich um den Iran an Angriffen auf Europa zu hindern, offensichtlich jedoch, um einen strategischen Vorteil gegenüber Rußland zu erringen. Viel Beifall erhielt Tamás, der im Rahmen dieses Kampfes unter anderem in einen dreiwöchigen Hungerstreik getreten ist, für die Aussage, daß der Sturz der Regierung Topolanek maßgeblich mit der Arbeit der Kriegsgegner zu tun hatte. Außerdem berichtete er über die Vorbereitungen zu dem für Oktober 2009 geplanten dreimonatigen weltweiten Marsch für Frieden und Gewaltfreiheit.

Die französische Lehrerin und Gewerkschafterin Sophie Zafari betonte den kapitalistischen Charakter des Militärbündnisses und die negativen Auswirkungen, die seine Expansion auf die soziale Entwicklung aller davon Betroffenen hat. Ihre Warnung, daß die Wirtschafts- und Systemkrise der weiteren Militarisierung der Politik Vorschub leisten und vor allem staatliche Repressalien gegen Aktivisten sozialer Bewegungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung begünstigen wird, war in Strasbourg unmittelbar zu überprüfen.

Die US-Publizistin Phyllis Bennis vom Institute for Policy Studies in Washington hielt eine mitreißende Rede, in der sie dazu aufforderte, ihren Präsidenten Barack Obama regelrecht dazu zu zwingen, seiner im Wahlkampf gemachten Ankündigung, die US-Truppen aus dem Irak abzuziehen, nachzukommen. Gleichzeitig macht sie sich keine Illusionen darüber, daß seine Strategie für Afghanistan nur noch mehr Leid über die dort lebende Bevölkerung bringen wird. Ihre mehrfach wiederholte Kernforderung bestand darin, die Besatzungstruppen aus dem Irak und Afghanistan nicht nur vollständig abzuziehen, sondern die von der Kriegführung Washingtons betroffenen Menschen finanziell für das erlittene Leid zu entschädigen.

Anschließend deutete Dr. Joseph Gerson, ein Veteran der US-Friedensbewegung, die gigantischen Sicherheitsvorkehrungen im Vorfeld des NATO-Gipfels als Zeichen dafür, daß Politiker und Militärs der Nordatlantischen Allianz sehr wohl befürchten, daß die Forderung der Kriegsgegner nach einer Welt ohne Armeen und High-Tech-Waffen Konsequenzen haben könnte. Laut Gerson sei die "Wandel"-Rhetorik des neuen US-Präsidenten explizit dazu gedacht, der ablehnenden Haltung weiter Teile der US-Bevölkerung gegenüber den Kriegen im Irak und in Afghanistan die Spitze zu nehmen. Unter Obama werde Washington weiterhin sein Ziel der Weltherrschaft verfolgen, und sei es eher mit den Mitteln der "soft power" à la Joseph Nye als mit dem Cowboy-Militarismus eines George W. Bush. Deshalb sei es wichtig, daß die Friedensbewegungen in Europa, in den USA und den anderen Ländern der Welt ihre Bemühungen verstärken und besser zusammenarbeiten, so Gerson.

Die für ihr mutiges Engagement weltbekannte afghanische Politikerin Malalai Joya schilderte, daß die Frauen ihres Landes unter der Herrschaft der mit den Besatzern verbündeten Warlords nicht minder litten, als sie es unter dem Regime der Taliban taten. Sie fordert daher den Abzug aller ausländischen Truppen aus dem Land, um die durch sie noch komplizierter und gefährlicher gewordene Situation für die demokratischen Kräfte Afghanistans handhabbarer zu machen.

Nach der Mittagspause, während der außerhalb der Gebäude zu den Klängen zweier französischer Musiker preisgünstiges und hervorragendes Essen angeboten wurde, begann ein umfangreiches Seminarprogramm, zu dem verschiedenste Organisationen und Aktivisten der Friedensbewegung sowie diverse, linke bis linksradikale Parteien beitrugen. Bedauerlich allein war die Tatsache, daß man in den drei Workshopphasen, die insgesamt von 13.00 bis 20.00 Uhr dauerten, lediglich jeweils eines der zahlreichen Angebote wahrnehmen konnte.

Gleich zu Beginn des Nachmittags fand der Workshop "Die NATO, die Europäische Union und der Lissabon-Vertrag" statt, der von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) aus Deutschland, dem internationalen Parteienbündnis Europäische Linke (EL), der Parti Communiste Francais (PCF), der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) sowie der irischen Campaign Against the EU Constitution (CAEUC) organisiert worden war. Vertreter dieser Gruppierungen thematisierten die zunehmende Verflechtung von NATO und EU. Hervorgehoben wurden die Bedeutung der Rückkehr Frankreichs in die NATO-Kommandostruktur und die damit erfolgte endgültige Absage an das Streben Charles de Gaulles nach einem eigenständigen Europa sowie die im Lissaboner Vertrag enthaltenen Vorgaben zur Schaffung eines gemeinsam europäischen Rüstungsmarktes und zur Anhebung der staatlichen Militärausgaben.

Alle Redner begrüßten das Nein der Iren im letzten Jahr zum Vertrag von Lissabon, das den Ratifizierungsprozeß dieses Klons des zuvor an den Stimmen der Franzosen und Niederländern gescheiterten EU-Verfassungsvertrags ins Stocken gebracht hatte. Michael Youlton vom Irish Anti-War Movement, der sich bei der erfolgreichen Kampagne der CAEUC gegen den EU-Reformvertrag hervorgetan hatte, erläuterte unter anderem die Bemühungen der irischen Kriegsgegner, die seit Ende 2001 laufende Verwendung des Flughafens Shannon durch US-Militärmaschinen und Flugzeuge der CIA zu verhindern. Youlton machte geltend, daß diese Flüge einen krassen Verstoß gegen die Neutralität der Republik Irland darstellen und erinnerte das Publikum daran, daß sechs von 32 Grafschaften der Grünen Insel immer noch von NATO-Truppen - in diesem Fall aus Großbritannien - militärisch besetzt sind.

Anschließend kam es zu einer kleinen Komplikation, als die Organisatoren und Teilnehmer der beiden Workshops "Globalisierung, Krise und die NATO" von Der Linke.Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband (Die Linke.SDS) und der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus Deutschland und "Die NATO und die Energiesicherheit der NATO-Staaten" vom Comité de Surveillance OTAN aus Belgien feststellten, daß man die beiden Veranstaltungen fälschlicherweise für die gleiche Räumlichkeit eingetragen hatte. Nach kurzer Beratung entschied man sich, die beiden Workshops zusammenzulegen, da sie sich konzeptionell ergänzten. Klaus Henning von der Linke.SDS referierte über die enge geschichtliche Verbindung zwischen kapitalistischer Krisenanfälligkeit und Kriegsausbrüchen, während Claudine Pôlet von Surveillance OTAN Ressourcensicherung und -kontrolle als wesentlichen Bestandteil nordatlantischer Strategieüberlegungen analysierte. Anschließend kam es unter der Moderation von Alexander Neu, dem Referenten für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion Die Linke, zu einem lebhaften und für alle rund 20 Beteiligten produktiven wie spaßigen Streitgespräch.

Rechtsanwalt Ullrich Hahn

Wenngleich von der Themenstellung her nicht besonders spektakulär, so war die Arbeitsgruppe zum Thema Responsibility to Protect (R2P) von großem Interesse für alle Aktivisten, die sich grundlegender mit der offiziellen Rechtfertigung für militärische Interventionen und Aggressionskriege beschäftigen. Unter der Leitung des Rechtsanwalts Ullrich Hahn vom deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbunds erarbeiteten sich die etwa zehn Teilnehmer der Runde, unter ihnen Holländer, Österreicher, Deutsche, Briten und eine Isländerin, Schritt für Schritt die theoretische Grundlage dieses neuen völkerrechtlichen Konzepts, das von der UN-Vollversammlung in Form einer rechtlich nicht verbindlichen Deklaration verabschiedet wurde.

Wie dabei deutlich wurde, sollen anhand der unterstellten "Schutzpflicht" bewaffneter Staatsorgane neue Vorwände zur Entsendung von Truppen in souveräne Staaten und den Einsatz von militärischer Gewalt in inneren wie äußeren Konflikten konstruiert werden. Die seit dem Jugoslawienkrieg von interessierter Seite her vorangetriebene "Reform" des Völkerrechts zielt wesentlich darauf ab, den führenden Militärmächten, die meist mit den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats identisch sind, zu neuer Handlungsfreiheit für den Einsatz ihrer Streitkräfte in aller Welt zu verhelfen. Mit R2P wird von der Grundlage bewährter völkerrechtlicher Regeln auf hochmoralische Weise abstrahiert, um eine Verantwortung der militärischen Akteure zu konstatieren, die einzig und allein dem Zweck dient, interessenpolitisch motivierte Feldzüge gegen Staaten, Regierungen, Bevölkerungen und irreguläre Kombattanten zu führen, die sich angeblich Menschenrechtsverletzungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuschulden haben kommen lassen.

Dabei wird wie im Jugoslawienkrieg, in dem die Motive der Aggressoren hinter dem Titel einer humanitären Intervention verborgen blieben und die völkerrechtlich auf Seite der NATO-Staaten liegende Schuld an diesem Krieg kurzerhand den Angegriffenen aufgelastet wurde, eine "internationale Gemeinschaft" als moralische Instanz postuliert, die völkerrechtlich nirgendwo definiert ist, üblicherweise aber mit den führenden Mitgliedstaaten der NATO identifiziert wird. R2P reklamiert die Vordringlichkeit militärischen Handelns, weil das konventionelle völkerrechtliche Prozedere angeblich zu Lasten derjenigen, die damit geschützt werden sollen, geht. Unterstellt wird eine humanitäre Notlage, der nicht durch tätige Hilfe - sprich den Einsatz des Militärs gegen eine der Konfliktparteien - entsprochen werden kann, weil politische Interessen dies verhinderten.

Dieses im Jugoslawienkrieg in Anspruch genommene Legitimationskonstrukt wird zwar durch die Schäden, die die NATO-Staaten angerichtet haben, konterkariert, dennoch wird bis heute behauptet, man habe nicht anders handeln können, um das Leben Unschuldiger zu schützen. Die diesen Ermächtigungsanspruch kreuzenden Widersprüche sind Legion, denkt man nur an die Möglichkeit, die Staaten der Arabischen Liga täten sich zur "internationalen Gemeinschaft" zusammen und intervenierten unter dem Vorwand in einem europäischen Land, die Menschenrechte von Muslimen zu schützen, oder an die zahlreichen Konflikte, die aus den gleichen interessenpolitischen Gründen nicht zum Gegenstand einer R2P-Maßnahme gemacht werden, während in anderen Fällen schon bei weit geringfügigeren Anlässen eingegriffen wird.

Besonders eklatant und entlarvend ist das Beispiel des Kriegs, den Israel gegen die Bevölkerung des Gazastreifens geführt hat und bei dem keine Regierung eines NATO-Staats zur Anwendung von R2P rief, obwohl Menschen ausgehungert und bombardiert wurden, die nicht einmal aus dem angegriffenen Gebiet fliehen konnten. Auch der Libanonkrieg 2006 erfolgte mit ausdrücklicher Gutheißung der USA und Billigung der EU, ohne daß die von Israel bombardierte Bevölkerung in den Genuß einer machtvoll durchgesetzten Schutzpflicht gekommen wäre. In Afghanistan ist es nicht anders, ist die NATO doch selbst Akteur in einem Krieg, der, wenn man den Maßstab der UN-Charta genau nimmt, als völkerrechtswidrige Invasion begann und in eine langwierige Besatzung mündete, ohne daß die humanitäre Lage der zu einem Drittel hungernden, unter den Bomben der NATO-Truppen und Gewalt anderer Akteure leidenden Bevölkerung in acht Jahren verbessert worden wäre.

Die Nutzbarkeit des R2P-Konzepts ergibt sich für die NATO vor allem aus der hochgradigen Auslegungsfähigkeit der damit konzedierten Schutzpflicht. Während klassische Verteidigungsspolitik territorial gebunden ist und keine Übergriffe auf andere Länder zuläßt, fungiert R2P als legitimatorisches Dispositiv für zeitlich wie räumlich entuferte Kriegseinsätze, die durchzuführen es einer entsprechenden Aufrüstung bedarf. Im Endeffekt reduziert sich die in Anspruch genommene Moralität auf die zu Beginn des Terrorkriegs von US-Präsident George W. Bush ausgegebene Devise, daß man nur für oder gegen sein Land sein, nicht jedoch neutral bleiben könne. Die Dichotomie von Gut und Böse ist auf eine Totalität abonniert, die keine Zwischenräume läßt, in denen Menschen unbeeinflußt vom Übergriff sie bedingender Mächte leben könnten. Wer sich nicht dem Primat des Guten vulgo Starken unterwirft, wird mit aller Unbarmherzigkeit zum Feind und Nichtmenschen, der jedes Recht verwirkt hat, deklariert.

Die von Rechtsanwalt Hahn ausgegebene Formel "Die Auflösung der Form löst die Macht von der Fessel des Rechts" wirft allerdings die Frage nach der Beschaffenheit eines Rechts auf, das durch einen moralischen Imperativ negiert werden kann, der hinsichtlich der Interessen, die sich seiner bedienen, nicht durchsichtiger sein könnte. Rechte zu reklamieren, ohne die Machtfrage zu stellen, führt in das Protektorat eines Souveräns, in dem Recht lediglich von dero Gnaden gewährt wird. Wer die Machtfrage stellt, rüttelt hingegen an den Grundfesten einer Ordnung, die sich nicht nur der Moral, sondern auch des Rechts bedient, um Partikularinteressen durchzusetzen. Die in Teilen der Linken geführte Debatte, in welchem Ausmaß man sich überhaupt auf soziale Rechte - und mit ihnen die unabänderliche Gültigkeit herrschender Verfügungsgewalt, die als Ursache von Ausbeutung und Unterdrückung verstanden werden -, berufen sollte, könnte bei der Frage nach dem Verhältnis von Macht, Recht und Moral weiterführen.

Dies gilt zumindest insofern, als der demokratische Grundkonsens Gefahr läuft, durch dezisionistische Anmaßung außer Kraft gesetzt und auf bloße Symbolpolitik reduziert zu werden. Diese Entwicklung wird durch die NATO in besonderer Weise vorangetrieben, öffnet der exekutive Anspruch des Militärbündnisses doch antidemokratischen Praktiken aller Art Tür und Tor. Die Aushebelung demokratischer Kontrollfunktionen durch die Verlagerung von Entscheidungsprozessen in supranationale Instanzen, wo unter dem Vorbehalt des Geheimnisschutzes und der Gefahrenabwehr Beschlüsse gefaßt werden, die nicht im Interesse der großen Mehrheit der Menschen in den NATO-Staaten und den von ihren Streitkräfte betroffenen Ländern sein können, ist ein wesentlicher Kritikpunkt, um den sich Friedensbewegte zu kümmern haben.

Cynthia Cockburn

Gegen Abend luden die internationalen Organisationen Women's International League for Peace and Freedom und Women in Black against War zusammen mit Women und Life on Earth aus Deutschland zu einem Workshop unter dem Titel "NATO = Sicherheit? Die Geschlechterfrage - Die Militarisierung der EU- und NATO-Länder führt für die Menschen zu Unsicherheit und zu hohen Belastungen im täglichen Leben insbesondere Frauen betreffend". Der hohe Organisationsgrad, mit dem Aktivistinnen wie Cynthia Cockburn aus England und Anna Georgy aus den USA diesen Workshop ein halbes Jahr lang vorbereitet hatten, und die konfliktfreie Zusammenarbeit aller Teilnehmerinnen waren beeindruckend.

Anna Georgy

Weil die Menge von zwölf vorliegenden Referaten zu groß war, wurde beschlossen, sie kurzerhand nach Themenschwerpunkten auf vier zusammenzulegen. Anschließend wurden die fast 30 Teilnehmerinnen in den Sprachgruppen Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch zusammengefaßt - die hierfür nötigen Pappschilder lagen schon bereit -, damit die Papiere, die in den jeweiligen Sprachen vorgetragen werden sollten, leichter untereinander übersetzt werden konnten. Als sich herausstellte, daß die Vorgehensweise, für die man sich am Anfang entschieden hatte - nach jedem Satz eine Pause zur Übersetzung in den verschiedenen Gruppen - zeitlich nicht zu vertreten war, ging man zur Simultanübersetzung über. Anschließend wurden die Vorträge in den Sprachgruppen diskutiert und danach das jeweilige Ergebnis vorgetragen sowie auf einer Tafel aufgeschrieben, um den Ideenaustausch weiter voranzutreiben.

Dabei wurde über Möglichkeiten gesprochen, die Verbindungen zu Frauen in Osteuropa und Zentralasien, die besonders unter den Folgen der NATO-Osterweiterung zu leiden haben - man denke nur an den Handel mit minderjährigen Zwangsprostituierten über das "befreite" Kosovo - auszubauen. Mit Erschrecken wurde festgestellt, wie sehr die Geschlechterfrage in den letzten Jahren innerhalb der Friedensbewegung zurückgedrängt worden war, und gelobt, diese traurige Entwicklung in ihr Gegenteil zu verkehren. Über öffentlichkeitswirksame Aktionen müsse endlich die ganze Sicherheits- und Gefahrenabwendungswahn der NATO-Herren als der Humbug entlarvt werden, der er ist, so die resoluten Kriegsgegnerinnen.

In dem von der österreichischen Gruppe Arbeitermacht veranstalteten Seminar "Kapitalistische Krise, NATO-Strategie und der revolutionäre Kampf gegen den Imperialismus" ging es um grundsätzliche strategische Einschätzungen wie die Frage, ob der Block aus den führenden Industriestaaten in der Lage sein wird, eine die Welt und ihre Ressourcen kontrollierende Machtposition zu etablieren, oder ob er eher in innerimperialistischen Kämpfe zwischen den Nationalstaaten um den Zugriff auf die knapper werdende Verwertungsmasse zerfallen wird. Auch das Verhältnis zwischen revolutionärer und reformististischer Politik wurde debattiert, das gerade für das weitere Vorgehen der Friedensbewegung und die Möglichkeit, dem Marsch in autoritäre bis diktatorische Verhältnisse entgegenzuwirken, von Belang wäre.

Diese Debatten wurden leider durch Streitigkeiten zwischen den anwesenden Vertretern diverser Organisationen und Parteien um die richtige Linie im Kampf überwölbt. Was für sich gesehen durchaus interessant und relevant gewesen sein mag, entwickelte sich zu einem fast persönlichen Disput zwischen Kontrahenten, die eine offensichtlich lang gereifte Rivalität hegen, so daß sich Nichteingeweihte kaum beteiligen konnten. Die im Großen unübersehbare Schwäche der Linken, handlungsfähige Bündnisse zu schmieden, die nicht durch spezifische ideologische und strategische Vorbehalte gesprengt werden können, reproduzierte sich im Kleinen. Man konnte gar den Eindruck erhalten, daß die Gräben zwischen den Vertretern revolutionärer Parteien größer sind als zwischen ihnen und dem Klassenfeind.

Besonders erwähnenswert an der Konferenz, an der die SB-Mitarbeiter lediglich am ersten Tag teilnahmen, ist die Teilnahme zahlreicher jugendlicher Aktivisten, die sich in den Arbeitsgruppen mit großer Ernsthaftigkeit um die Erweiterung ihres theoretischen Horizonts bemühten. Zwar konnte man den Eindruck gewinnen, daß es sich bei dem übersichtlichen Verlauf des Treffens, dem ordentlichen Charakter des Austragungsorts und der öffentlichkeitswirksamen Absicht der Debatten um einen dem anarchischen und spontanen Treiben im Widerstandscamp antagonistischen Entwurf handelte. Letztendlich kann jedoch weder auf das eine noch das andere verzichtet werden. Die bemühte Erarbeitung wirksamer Waffen der Kritik bleibt ohne die vitale Energie politischer Streitbarkeit so wirkungslos, wie der überschwengliche Aktivismus jugendlicher Kriegsgegner absehbar in bürgerlichen Sackgassen endet, wenn er nicht zur Stärke einer unter allen Umständen, also auch dem einer hochentwickelten Debatte, durchsetzbaren Position entwickelt wird.

Die tags darauf unter chaotischen Umständen verlaufende Demonstration, die dabei praktizierte Brutalität der Polizei und das gerichtliche Nachspiel, bei dem an mehreren Aktivisten in politisch motivierten Schnellverfahren ein Exempel an Willkürjustiz statuiert wurde und wird, sind als Signale einer Systemkrise zu begreifen, die sich nicht durch die Aussicht auf eine "Erholung der Konjunktur" durch Umlastung der Verluste auf Steuerzahler und Leistungsempfänger bewältigen läßt. Vor diesem desolaten Hintergrund muß der Ermächtigungsanspruch bewaffneter Staatsorgane als ernstzunehmende Bedrohung nicht nur der Bevölkerungen in der Peripherie der Neuen Weltordnung, sondern auch der Menschen in den privilegierten Zentren des kapitalistischen Weltsystems begriffen werden. Wenn die neokonservative Agenda durch Freiheit und Demokratie legitimierter Aggressionen von profaneren Motiven der Kriegführung wie dem der Sicherung knapper Ressourcen oder dem der Unterdrückung verelendeter Menschenmassen abgelöst wird, dann wurde auf der Bühne des Welttheaters lediglich die Kulisse gewechselt. Substantielle Veränderungen bedürfen einer Oppositionsbewegung, die sich nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch Spaltungsstrategien auseinandertreiben und durch Karriereangebote korrumpieren läßt. Das allerdings konnte man auch auf dieser Konferenz lernen.

BU

9. April 2009