2009-04-02 

Toter bei Protesten gegen G-20-Gipfel in London

Von Tina Kaiser und Thomas Kielinger

*Tausende demonstrieren in London gegen das Gipfeltreffen. Das Bankenviertel wurde gestürmt, Scheiben gingen zu Bruch. Am Abend eskalierten die Krawalle. Wie die britische Polizei mitteilte, ist ein Demonstrant ums Leben gekommen. Der Mann habe aufgehört zu atmen und sei in ein Krankenhaus gebracht worden.

Bei Anti-Kapitalismus-Protesten am Rande des G-20-Gipfels ist in London ein Demonstrant ums Leben gekommen. Der Mann sei aus unbekanntem Grund zusammengebrochen, teilte die britische Polizei mit.*

Rettungskräfte brachten den Mann, der aufgehört hatte zu atmen, in ein nahe gelegenes Krankenhaus. Dort wurde er für tot erklärt. Nähere Einzelheiten waren zunächst nicht bekannt.

Bei den Protesten war es am Abend zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Die Polizei kesselte mehr als 1000 aufgebrachte Globalisierungsgegner vor der Bank of England ein. Sie durften nur in kleinen Gruppen nach Hause gehen. Wie die Polizei mitteilte, wurden bis zum Abend 32 Demonstranten festgenommen.

Hohe Erwartungen an den Präsidenten

Dabei hätten sich die Regierenden der Metropole lieber in diesem Bild wiedergefunden: London als Zentrum des Erdreichs, Fokus des globalen Dorfes, Anlaufplatz der Zeitgeschichte. Zwei Tage lang darf die britische Metropole diesem Image durchaus huldigen, denn die weltumspannende Finanz- und Wirtschaftskrise mündet in dieser Woche in London in eine erste Großdemonstration koordinierter Antwort. Und das auf zwei Ebenen: der Ebene exekutiver Politik der G-20-Staaten, die unter sich 85 Prozent des Weltwirtschaftsvolumens ausmachen und heute ihre Gipfelkonferenz abhalten, und auf der Ebene weltweiter Protestgruppen, die sich diese Gelegenheit nicht nehmen lassen wollen, ihre Beschwerden friedlich oder randalierend vorzutragen.

Pünktlich um 11 Uhr machte sich die erste dieser Protestaktionen auf den Weg, zum Sternmarsch zur Bank of England, der britischen Nationalbank. Unter der Dachorganisation „G 20 Meltdown“ (Kernschmelze) hatten sich 67 Aktionszellen aus aller Herren Länder versammelt, sich blumig als die „vier apokalyptischen Reiter“ ausgebend, selbst ernannte Herolde des Untergangs des kapitalistischen Systems. Sie wählten vier U-Bahn-Stationen im Ostteil Londons als ihre Startblöcke, Moorgate, Liverpool, Cannon Street und London Bridge, zum Rendezvous vor der „Old Lady of Threadneedle Street“, wie man die britische Zentralbank ihrer Adresse wegen gerne kosend nennt.

Keine Liebe verbindet die Protestierenden mit diesem Ort, an dem sich Bank an Bank reiht entlang von Straßen, die sternförmig von der „Old Lady“ in die City hinausgreifen: der Finanzplatz London. Unter diesen Adressen ist auch eine große Filiale der Royal Bank of Scotland (RBS), deren Name zum Synonym für die Bankenkrise in Großbritannien geworden ist. Denn der RBS-Ex-Vorsitzende, Sir Fred Goodwin, hatte es fertiggebracht, seine Bank in die größte Verschuldung der britischen Unternehmensgeschichte überhaupt zu treiben. Im Oktober hastig zurückgetreten, angelte sich Sir Fred mit seinen gerade mal 50 Jahren noch rasch einen goldenen Pensionstopf von 16 Millionen Pfund, die seitdem das leibhaftige Gespenst der politischen Debatte auf der Insel geworden sind – und der Fokus einer großen Wut unter sonst eher friedlichen Briten.

Die sehen sich gegen 12 Uhr mittags am Ort ihrer Wünsche angekommen, denn eine beträchtliche Zahl der Sternmarschierer ist von der Polizei bis vor die Bank of England vorgelassen worden. Aber nur sie, die erste Phalanx. Dann sperrt die Polizei mit etlichen Ketten ihrer Beamten den weiteren Zugang ab. Das soll sich zum „Flashpoint“, zur Sollbruchstelle, entwickeln. Die Nachdrängenden können und wollen nicht verstehen, warum sie nicht weiter vorgelassen werden, und so kriecht die Wut allmählich den Erregungspegel hoch, bis zum Überlaufen in die erste direkte Aktion.

Unbegreiflich für alle Kenner, hat sich die Royal Bank of Scotland nicht wie verwandte Unternehmen der Umgebung auf der Straßenebene mit Brettern zugenagelt und abgeriegelt. Jetzt geht die Fensterfront zu Bruch, und johlende Vermummte ergießen sich in die Eingangshalle auf der Suche nach Wegen zum weiteren Eindringen in das Gebäude. Erste Beute wird gemacht, Computer und Festplatten, die Lage ist fließend und fließend gefährdet. Einige Vermummte gelangen aufs Dach des Bankgebäudes, andere bemalen die Wände mit den Liebesbotschaften der Wut, wie „Fuck the system“ oder auch „Eat the rich“.

Derweil erwehrt sich die Polizei mehr schlecht als recht des Menschengewoges, welches weiter andrängt und anschiebt mit beängstigender Wucht, um ins Zentrum des Geschehens vorgelassen zu werden. Erste Festnahmen erfolgen. Die Polizei muss sich schon zu dieser Stunde fragen, ob die Vorsichtsmaßnahme dieser frühen Zugangsperre nicht zum Auslöser der ersten Straßenschlacht geworden ist, wenn auch einer noch erst im Miniaturformat.

An anderen Orten des Ostens und des Westens der Stadt laufen gleichzeitig „Stop the War“-Demos ab, nahe der amerikanischen Botschaft am Grosvenor Square, sowie etliche Einzelevents der „Climate Camp“ genannten Umweltschutzprotestierer, die ihre Aktivitäten in diesen Tagen bis zum Heathrow Airport ausdehnen, wo gegen die Erweiterung um eine neue Startbahn Sturm gelaufen wird.

Nahe dem Gewühle an der Bank of England haben sich auf der Dachterrasse des anliegenden französischen Edelrestaurants „Coq d’Argent“ privilegierte Gäste eingefunden, die, das Chablis- oder Champagner-Glas in der Hand, auf das Treiben da unten herabschauen. Voyeure der Zeitgeschichte auf teuer bezahlten Logenplätzen, die sich einfinden zur Aufführung des G-20-Gipfels dort, wo er Drama verspricht statt der übermüdeten Gesichter von Politikern in der Not ihrer Krisenverantwortung.

Davon sprach am späten Morgen auch US-Präsident Barack Obama auf seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit Gastgeber Gordon Brown, in der Downing Street. Immer wird nach dem Drama gesucht, sagte Obama mit Blick auf die Medien, die in der gegenwärtigen Krise neue Konflikte unter den Teilnehmern herauskitzeln wollen, damit sie etwas zu verkaufen haben. Einen solchen Konflikt, so merkt der Amerikaner an, habe man zum Beispiel zwischen der angloamerikanischen Position zur weiteren Stimulierung der heimischen Volkswirtschaften sehen wollen und der deutschen oder französischen Haltung in dieser Frage, die sich weiteren fiskalischen Ankurbelungsmaßnahmen energisch widersetzen.

Weder Obama noch Brown bestätigen solche Differenzen. Die Deutschen hätten sogar bis jetzt bereits mehr an Ankurbelung in ihren Wirtschaftskreislauf gepumpt als wir in England, merkt Brown an. Was er verschweigt, ist, dass Berlin aus einem Haushaltüberschuss heraus aktiv geworden ist, die britische Verschuldung dagegen schon jetzt auf über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen ist und keine weiteren Finanzspritzen mehr erlaubt, wie in diesen Tagen der Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, gewarnt hat.

Die vielfach kolportierte Ankündigung des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, er werde die Gipfelkonferenz vorzeitig verlassen, wenn er nicht seine Forderung nach schärferer globaler Kontrolle der Finanzmärkte erfüllt sehe, schiebt Gordon Brown lächelnd beiseite. Er sei sicher, Sarkozy werde nicht nur beim ersten, sondern auch noch beim letzten Gang des Gipfelmahls dabei sein. Denn im Grunde bestehe weitgehend Einigkeit bei den „fünf Tests“, an denen man den Erfolg des G-20-Treffens werde messen dürfen.

An erster Stelle, was neben Frankreich und Deutschland auch alle anderen Gipfelteilnehmer wollten, wie Brown ausführt: strengere Aufsicht der Finanzhäuser und ihrer riskanteren Geschäfte. Wobei noch unklar ist, ob eine solche Instanz überregional operativ werden oder die Frage der Regulierung nicht doch besser in den Händen der Einzelstaaten liegen soll, die dann aber eng miteinander kooperieren müssten. An zweiter Stelle das Anschieben neuen Wachstums, gefolgt von besserer Kooperation zwischen internationalen Finanzinstitutionen, der Zurückweisung von Protektionismus und einer neuen Verpflichtung für die ärmeren Länder der Erde. Aber nicht auf dem Papier, sondern nur vom Willen, diese Absichten auch in die Tat umzusetzen, kann neue Hoffnung keimen, wie Obama und Brown einhellig intonieren.

Der Amerikaner und der Brite haben jeder für sich Anekdoten bereit auf die wiederholt gestellte Frage, wer denn nun Schuld habe an der gegenwärtigen Krise. Sein Juraprofessor, so Obama, habe in Harvard den Grundsatz vertreten: „Einige haben Schuld, aber alle tragen Verantwortung.“ Auch Brown nimmt es auf die leichte Schulter. Brasiliens Präsident Lula habe ihm vor einer Woche bei einem gemeinsamen Treffen verraten: „Als ich noch Gewerkschafter war, schob ich immer alle Schuld auf die Regierung. Als ich in der Opposition war, schob ich wieder jede Schuld der Regierung zu. Seit ich an der Regierung bin, sehe ich die Schuldigen in Amerikanern und Briten.“

Ein unmittelbar größere Schuld – oder Verantwortung – für das friedlichen Gelingen des G-20-Gipfels tragen die Londoner Polizei und alle assoziierten Sicherheitszentralen, die aus abgeschirmter Warte, unterirdisch, mithilfe von 3000 Kameras in ganz London das Geschehen digital überwachen und sich gegenseitig informieren, wann immer Verdächtiges oder Schlimmeres im Anmarsch ist. WELT ONLINE wurde am Vorabend des Gipfels exklusiv in das größte unterirdische Zentrum dieses Londoner Überwachungssystems eingelassen, das unter dem Piccadilly Circus gemeinsam vom Westminster-Stadtrat und Scotland Yard vor sieben Jahren installiert wurde.

Auf 48 Plasma-TV-Schirmen verfolgen jeweils drei Angestellte rund um die Uhr das Geschehen in ihrem Beritt, dem West End, worunter sich neuralgische Bereiche finden wie der Trafalgar Square, die Oxford Street, der Leicester Square, Belgravia, Covent Garden und der Theaterdistrikt. Es handelt sich um das Herz des Londoner Einzelhandels und seiner kommerziellen Ableger wie Restaurants, Bars oder Clubs. Auch der Tourismus strebt mit Vorliebe an diese Orte. Die rotierenden Kameras lassen sich auf Mausklick auf größten Zoom heranholen, und noch in einer Entfernung von 70 Metern kann man Physiognomien aus der menschlichen Flut herausholen zu genauem Studium. Liegt ein Beobachtungspunkt näher an der Linse, erlaubt es die hohe Auflösung dieser Technik, selbst Mobiltelefone in Aktion zu verfolgen, einschließlich ihrer Textbotschaften.

Die Polizei meldet sich nach Bedarf in der Westminster-Zentrale, die mit den beiden G-20-Überwachungszentren im Osten der Stadt und in Lambeth verknüpft ist. Die Überwacher ihrerseits geben blitzschnell ihre Entdeckungen an die Ordnungshüter weiter, womit sich die Chance erhöht, rechtzeitig „Troublemakers“ zu stoppen. „Wir praktizieren hier elektronisch, was die G-20-Teilnehmer künftig politisch vorhaben“, sagt mir der Verantwortliche. „Wir versuchen vorzubeugen, um Krisen zu verhindern.“ Im Bauch der Stadt klingt das überzeugend. Über Tage gelingt die Verhinderung weniger leicht, auch der Polizei nicht, ob vor der Bank of England oder wo auch immer.