2007-01-24
Jungle World Nummer 04 vom 24. Januar 2007
Warum es lohnt, in Heiligendamm gegen die G 8 zu demonstrieren, und warum eine radikale Kritik mehr als eine Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ihrer ideologischen Denkformen ist.
Selbstverständlich sind nicht allein Bush, Blair, Merkel oder irgendwelche anderen Charaktermasken für die herrschenden Verhältnisse verantwortlich, selbstverständlich ist das Elend der Welt nicht bloß auf die Machenschaften irgendwelcher multinationalen Konzerne zurückzuführen. Aber wer glaubt, den Menschen in der globalisierungskritischen Bewegung vorwerfen zu können, sie hätten nichts anderes als dies im Sinn, hat keine Ahnung, wovon er spricht. Denn in Wahrheit geht es beim Protest gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm weder um Bush noch um den Freihandel, es geht darum, das globale Herrschaftssystem anzuprangern und anzugreifen.
An ihrem Gegenstand geht solche Kritik an der Bewegung, wie sie Stephan Weiland von der Gruppe 8. Mai vortrug (Jungle World, 03/07), schon deshalb vorbei, weil es eine einheitliche Globalisierungsbewegung, das homogene politische Subjekt, nach dem sich so viele sehnen, nicht gibt und nie gegeben hat. Ebenso wenig gibt es den einen idealen Anlass dafür, Politik zu machen, was in der Tat daran liegt, dass Herrschaftsmechanismen als allgegenwärtige soziale Komplexe in ihrer Gesamtheit so schwierig zu fassen und zu bekämpfen sind.
Ob eine radikale Politik erfolgreich ist im Kampf um die Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, hängt davon ab, wie man diese Politik gestaltet, und weniger davon, zu welchem Anlass man auf die Straße geht. Wenn der G 8-Gipfel 2007 prinzipiell nicht der richtige Zeitpunkt für Kritik und Praxis ist, welchen Anlass gibt es dann überhaupt unter diesen Verhältnissen, jenseits von Antifapolitik und Verteidigungskämpfen?
Es ist ein unter Marxisten weit verbreiteter Fehler, alle gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen, etwa den Rassismus und das Patriarchat, als »Nebenwidersprüche« des Kapitalismus zu bagatellisieren. Zugleich weicht man oft der Frage aus, ob marxistische Denkmuster ausreichend sind, um alle Formen von Autoritätsverhältnissen zu analysieren. Marx postulierte zwar einen kategorischen Imperativ zur Überwindung aller Verhältnisse von Knechtschaft und formulierte die Kritik der politischen Ökonomie. Er glaubte aber, dass in einer kommunistischen Gesellschaft der Staat allmählich absterben werde. Auf die Frage, was Unterdrückung sei, lieferte er keine Antwort, ebenso wenig wie er eine Kritik an Staatlichkeit oder anderen autoritären Verhältnissen verfasste. Marx verkannte, dass nicht nur die Produktionsbedingungen den Staat bedingen, sondern umgekehrt, wie in staatskapitalistisch verfassten Gesellschaften, es der Staat sein kann, der die Produktionsbedingungen diktiert.
Im Kapitalismus (und schon vorher) gab es immer Gruppen und Menschen, die über mehr Macht und Reichtum verfügten als andere. Dies zu leugnen, hieße nicht nur Verantwortlichkeiten zu relativieren, sondern die Klassengesellschaft und die Existenz von Hierarchien zu verschleiern. Insofern ist der G 8-Gipfel kein beliebiges Ziel. Die Personen, die in Autoritätssystemen über Gestaltungs- und Gesetzesmacht verfügen, werden ihre Möglichkeiten stets dazu nutzen, die Grundlagen eines Systems aufrechtzuerhalten, das Tag für Tag Tausende Menschen in der ganzen Welt tötet. Dafür ist dieses Personal da; dass es austauschbar ist, ist nicht mehr als eine Binsenweisheit.
Denn eines Tages wird man – diplomatisch formuliert – ohnehin beim Kanzler oder der Präsidentin anklopfen müssen, um sich die Schlüssel für die ganze Bäckerei abzuholen. Wieso also nicht schon jetzt mal in Mecklenburg-Vorpommern vorbeischauen, um zu zeigen, dass man es ernst meint? Zumal, wenn dort ohnehin Halligalli ist? Wenn beim G 8-Gipfel führende Vertreter der Staatlichkeit und der Ökonomie versuchen, ihre gemeinsamen weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ziele zu formulieren, ist das ein ganz hervorragender Zeitpunkt für Aktionen, den die radikale Linke nicht verschlafen sollte.
Mit einer Portion Selbstbewusstsein und etwas Organisation kann der G 8-Gipfel nicht nur zu einem riesigen Spaß mit großartigen Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung werden, sondern sich obendrein als ausgezeichnete Gelegenheit erweisen, um die Kritik an den abstrakten Herrschaftsmechanismen an deren konkreten Symbolen konkret werden zu lassen. Warum nicht die Verhältnisse mal kräftig zum Tanzen bringen? Warum nicht mit Genossen und Genossinnen aus anderen Teilen der Welt darüber diskutieren, was sie meinen, wie wir aus dem falschen Ganzen rauskommen?
Ganz unbestritten gibt es den willigen Spießer mit der Sehnsucht nach Autorität, der das Autoritätsverhältnis erst dadurch ermöglicht, dass er einen großen Teil seiner Entscheidungsmöglichkeiten und seiner Verantwortung abgibt. Aber der untertänige Kleinbürger, der sich reckt und streckt und doch die Decke nicht erreichen kann, wird sich durch Provokationen und Angriffe auf seine Obrigkeit auch selbst angegriffen fühlen. Ebenso ist es absehbar, dass sich die Linkspartei und andere linke Spießer distanzieren werden, spätestens wenn es zu Riots kommt. Oder sie werden versuchen, den Protest an der Gewaltfrage zu spalten. Wer also gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen möchte, sollte den Ausflug nach Heiligendamm nicht verpassen und sich auf Eventualitäten gut vorbereiten.
Über den Juni 2007 hinaus wird die Frage entscheidend sein, inwieweit es der radikalen Linken gelingt, über nationalstaatliche Grenzen hinweg gemeinsame Diskussionen zu führen, und sicher auch, ob sie es in Zukunft vermag, jenseits von Großereignissen eine schlagfertige Kritik und Praxis zu organisieren. Eine Herausforderung könnte in diesem Jahr die bereits erwogene Variante sein, den Ort des gemeinsamen Widerstands von Heiligendamm nach sonstwo zu verlegen, falls sich die dortigen Kräfteverhältnisse als so ungünstig erweisen, dass ein unversöhnlicher Widerstand unmöglich erscheint.
Bei aller nötigen und richtigen Kritik an der Globalisierungsbewegung – wer, wie Stephan Weiland, meint, dass jegliche »Beteiligung an den G 8-Protesten, ob von verkürzter oder verlängerter Kritik motiviert, abzulehnen« sei, und zugleich zu empfehlen weiß, zum Zeitpunkt des G 8-Gipfels Bahnhöfe und Fabriken zu besetzen, verdient für diese theoretische Turnübung einen Preis. Doch auf dem Bahnhof von Buxtehude werden er und die Hand voll übrigen Mitglieder eines kommunistischen Lesekreises, der ohnehin schon die weiße Fahne gehisst hat, bestimmt niemanden stören.
Der Beitrag von Weiland ist exemplarisch für eine Kritik an den Aktionen gegen die G 8, die von geistigem Snobismus erfüllt ist. Selbstredend gehört zu diesem Geist ein voller Bauch. Und eine Geisteshaltung, die sich durch irgendwelche vermeintlichen Einsichten in Notwendigkeiten einen Distinktionsgewinn zu verschaffen sucht. Dass diese »Kritiker« je zum Kämpfen kommen werden, ist nicht zu erwarten, glauben sie doch, dass »nur jene Einsicht in die Herrschaft der Dinge über die Menschen gewinnen können, die nicht unmittelbar Menschen angreifen«. Viel Spaß im Nirvana, ihr Erleuchteten, möchte man da fast wünschen. Alle anderen sollten hingegen wissen, dass sie, wenn sie ihre Ketten sprengen wollen, immer mit denjenigen konfrontiert sein werden, die schon von Berufs wegen derlei Versuche unterbinden müssen.
Die Aufregung um die Proteste gegen den G 8-Gipfel, die Linke wie Reaktionäre ergreift, ist vielleicht nicht mehr als die Angst des Spießers, der den Diskurs der Ordnung bedroht sieht und die Unordnung und das Vulgäre fürchtet. Er fürchtet Horden von Barbaren, die im friedlichen Mecklenburg einfallen werden; er hat Angst, weil er sich eine Menge von Menschen, die ganz ohne die Aufsicht von Polizisten und Ordnern zusammenkommen, nicht anders vorstellen kann denn als »Lynchmob«.
Eine grundsätzliche Kritik von Herrschaft kann, wie die Berliner Gruppe TOP zu Recht schreibt, auf eine »Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ihrer ideologischen Denkformen« nicht verzichten (Jungle World, 01/07). Sie darf sich aber auch nicht darauf beschränken. Andernfalls läuft sie Gefahr, sich in einem negativen Interventionismus zu erschöpfen und über die Beschäftigung mit den Demonstranten diesseits des Zauns die Figuren hinter dem Zaun zu vergessen.
Wirklich gefährlich aber wird die radikale Linke für die bestehenden Verhältnisse, wenn es viele waren, die unversöhnlich Widerstand geleistet und den Kapitalismus grundlegend kritisiert haben. Emanzipatorische Politik darf sich weder vereinnahmen lassen noch selbst marginalisieren, wenn sie nicht vor den konkreten Akteuren, vor den acht reichsten Nationen oder vor der komplexen Wirklichkeit insgesamt kapitulieren will. Vor allem hieran wird sich die radikale Linke bei den kommenden Protesten messen lassen müssen. Immerhin: Im Gegensatz zur Berliner Luxemburg-Liebknecht-Demonstration und den meisten Demonstrationen der Antifa werden die Blockaden zum G 8-Gipfel nicht angemeldet sein und zumindest in formaler Hinsicht die Spielregeln der demokratischen Politik- und Protestkultur hinter sich lassen.
Kritik formuliert sich nicht im luftleeren Raum, sondern unter den Verhältnissen von Ausbeutung und Unterdrückung. Radikale Kritik ist von Praxis nicht zu trennen und kann nur auf Revolution zielen, jedenfalls dann, wenn ihr daran gelegen ist, die Dinge nicht nur zu analysieren, sondern auch zu verändern. Das ist der Unterschied zwischen einer bürgerlichen Skepsis und einer revolutionären Kritik. Eine radikale und emanzipatorische Politik kommt ohne libertäre und antiautoritäre Einsichten nicht weiter. In einer solchen unversöhnlichen und anarchistischen Kritik offenbart sich vielleicht die kosmopolitischste Perspektive des Antinationalismus: die Weltrevolution. Denn so sicher wie Aktivismus ohne radikale Kritik unzureichend ist, wie TOP richtig feststellt, so sicher ist, dass radikale Kritik nicht mit Samthandschuhen serviert wird.
Die Autorin arbeitet in der »No-G 8-Gruppe Kiel« mit.