2003-01-22
Der Landeskonservator
von Kein Friede
„Der Mensch ist immer die Beute seiner Wahrheit.“ (Albert Camus)
Manfred Schlickenrieder war die Nr. 1 der sich radikal links gebenden „gruppe 2“ aus München. Manfred Schlickenrieder ist der operative Nachrichtenagent mit dem Decknamen „camus“.
Wir können nicht verhehlen, dass wir doch einigermaßen erstaunt waren über den Umfang der Dokumente, in die wir Einsicht nehmen konnten. Gefragt, ob wir uns Material über einen Spitzelverdacht anschauen und unsere Einschätzung abgeben würden, sagten wir zu. Wir hatten keine Vorstellung, dass sich uns eine Dimension einer mindest 20jährigen professionellen und akribischen Ausforschung von Teilen der revolutionären Linken in Westeuropa eröffnen würde. Denn darum geht es: Manfred Schlickenrieder war mindestens seit Anfang der 80er Jahre Agent einer noch unbekannten Institution und arbeitete in deren Auftrag in verschiedenen westeuropäischen Ländern. Das belegen die Dokumente ohne jeden Zweifel. Und es spricht einiges dafür, dass die „gruppe 2“ aus München von Beginn an eine Geheimdienstfiliale war.
Manfred Schlickenrieder war im Besitz eines Dienstausweises des bayrischen Denkmalschutzes. „Nachtigall, ich hör’ dir trapsen...“, wenn das nicht eine Außenstelle des in Pullach bei München angesiedelten Bundesnachrichtendienstes ist, die bei einer anderen Behörde Quartier bezogen hat. Schon eine in den 70er Jahren vom Magazin „Stern“ veröffentlichte Liste nannte Dutzende von Bundes- und Landesbehörden bei denen Abteilungen existierten, die tatsächlich dem BND unterstellt waren. Der amtlich bescheinigte Landeskonservator als staatlicher Informationssammler. Das passt. Dass er ein bürokratischer Denunziant und käuflicher Spitzel war, zeigen die Unterlagen, in die wir Einsicht nehmen konnten.
Dass wir mit Sicherheit wissen, dass der Denkmalschützer ein operativer Nachrichtenagent mit dem Decknamen „camus“ ist, verdanken wir der Gruppe Revolutionärer Aufbau aus der Schweiz. Die zeigte uns ihr recherchiertes Material und bat um eine Stellungnahme. Die Gruppe tat dies aus zwei Gründen. Zum einen hatten wir 1994/95 eine Zusammenarbeit mit Manfred Schlickenrieder im Rahmen der bundesweiten Gefangenensolidaritätsinitiative Libertad!. Zum anderen veröffentlichten wir Ende 1993 einen umfangreichen Bericht über den VS-Agenten Klaus Steinmetz. Klaus Steinmetz hatte die staatlichen Antiterroreinheiten am 27.6.1993 nach Bad Kleinen geführt: Der RAF-Militante Wolfgang Grams wurde allem Anschein nach auf den Bahnhofsgleisen von Bad Kleinen hingerichtet, seine Genossin Birgit Hogefeld verhaftet und später zu lebenslänglich verurteilt. Klaus Steinmetz flog damals nur auf, weil Wolfgang Grams mit Einsatz der Waffe um seine Freiheit kämpfte. Bis er zur RAF vorstoßen konnte, hatte Steinmetz jahrelang autonome und antiimperialistische Gruppen der radikalen Linken ausgespitzelt. Wir hatten damals als Gruppe Kontakt zu Klaus Steinmetz. Unsere Recherche und politischen Diskussion über den Verratsfall von Bad Kleinen veröffentlichten wir. Die Gruppe, die jetzt auf uns zukam, hatte diese Broschüre gelesen. Es war für sie ein weiterer Grund auf uns zuzugehen. Zudem kommt Manfred Schlickenrieder aus Deutschland und hatte auch hier sein Operationsfeld.
Die von Manfred Schlickenrieder gegründete „gruppe 2“ verstand sich als Archiv- und Dokumentationsstelle. Sie produzierte und vertrieb Kassetten, Filme, eine „texte“ genannte Dokumentationsreihe und andere Broschüren. Eine, wie sich herausstellte für den Zweck und Auftrag geniale Konstruktion. Zum einen verbot sich von vornherein die Frage nach einer eigenständigen politischen Praxis und Organisierung. Sie war beantwortet: der Archivar und Dokumentarist begleitet den Kampfprozess, aber er initiiert und bestimmt ihn nicht - höchstens die Rezeption. In diesem Fall bei den Stellen, die ihn beauftragten und seine Einschätzungen und Bewertungen in Lageberichte oder vielleicht auch operative Pläne einfließen ließen. Diese Stellung, bewaffnet mit Archivmappe, Presseauswertung und Kamera, konnte aber auch immer wieder Unbehaglichkeiten, in manchen Fällen vielleicht sogar Verdächtigungen, ausräumen. So z.B., als er in der ersten Hälfte der 90er Jahre bei einem Treffen des kurzzeitigen Zeitungsprojekts „Clash“ der europäischen Infoladenvernetzung auftauchte und behauptete den Infoladen München zu vertreten. Darauf angesprochen war das dann ein „Missverständnis“ und man ließ die Sache dabei bewenden. Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen Abstecher in aktivistische, autonome Zusammenhänge. Nach den Unterlagen zu schließen, war die politische Hauptausrichtung das kommunistische, mehr oder minder maoistische ML-Spektrum in Westeuropa. Das lag im Einklang mit der bisher erkennbaren politischen Biografie von Manfred Schlickenrieder, der in den 70er Jahren einem Flügel der KPD/ML in München angehört haben soll.
Die Organisierung der „Debatte“ für den Nachrichtendienst
Soweit wir es aus dem gesichteten Material sagen können, war sein Job nicht unbedingt, den unmittelbaren polizeilichen Zugriff auf politische und militante Strukturen der radikalen Linken zu organisieren. Das etwa unterscheidet ihn von Klaus Steinmetz. Der war eher auf die action aus und führte so den VS zur RAF. Manfred Schlickenrieder war da zurückhaltender. Die Aktivität auf der Strasse und der Stein in Hand war nie seine Sache. Die direkte Nähe zu solcher Art Aktiven der revolutionären Linken wurde nicht gesucht; vielmehr wurde sie gemieden und Verbindungen abgebrochen, sobald sich daraus eine Gefährdung der Position des Agenten hätte ergeben können. Das bestätigten uns verschiedene befragte Genoss/innen. Schlickenrieder bevorzugte etwas, was man die „Praxis der ideologischen Debatte“ nennen könnte, also der Versuch durch Papiere vermeintliche und tatsächliche Übereinstimmungen in der Diskussion über Strategie und Taktik einer radikal linken Politik zu finden. Seine Vorliebe waren die Worte der militanten Bewegung Italiens und hier besonders der Versuch der Rekonstruktion einer kommunistischen Strategie, wie sie besonders Teile der Gefangenen der Roten Brigaden, die Gefangenen der Kämpfenden Kommunistischen Zellen (CCC) aus Belgien und andere Militante in Europa versuchten zu entwickeln. Der Schwerpunkt von Manfred Schlickenrieder war Italien. Er hielt Kontakt zu Angehörigen von Gefangenen aus der Brigate Rosse, arbeitete mit politischen Gruppen und Zeitungskollektiven zusammen und veröffentlichte deren Texte, wie etwa die deutsche Ausgabe des „rapporti sociali“. Als „gruppe 2“ gab Schlickenrieders Laden die Reihe „texte“ heraus, die von Mitte der 80er Jahre bis etwa 1995 versuchte, durch verschiedene Veröffentlichungen eine Diskussion innerhalb dieser Strömung der militanten Linken Europas zu initiieren. Eigene Debattenbeiträge der „gruppe 2“ waren dabei eher spärlich.
Einer der wenigen ist im Sommer 1994 im Heft Nr. 7 der „texte“-Reihe zu finden: „Die sozialistische Umwälzung unterscheidet sich prinzipiell von allen anderen Revolutionen dadurch, dass sie nicht nur spontan oder reagierend erfolgt, sondern mit Vernunft - also planvoll - in Angriff genommen und betrieben wird. Das setzt aber auch die ‚vernünftige’ - also planvoll auf der Erkenntnis fußende - Bestimmung des Willens dazu bei ihren Subjekten voraus“.
Sätze, deren Pathos damals schon etwas altbacken war und orthodox klirrte. Die „planvoll auf Erkenntnis fußende Bestimmung“ von Manfred Schlickenrieder liest sich dann in der Praxis auch weitaus profaner, wie der Abschnitt „Eigene Operative Planung/Vorschläge“ aus einem seiner Berichte im Zeitraum 1995 offenbart:
„Grundsätzlich sollten die Beziehungen, Kontakte und die Zusammenarbeit in die einzelnen Schwerpunktländer unabhängig voneinander auf- und ausgebaut werden, um nicht auf eine ‚Kontaktschiene‘ und die Vermittlung über diese angewiesen zu sein. Dies erfordert also - im Rahmen der gemeinsamen politischen/ideologischen Grundübereinstimmung - eigenständige Projekte mit den Gruppen/Personen in jedem Schwerpunktland, also der SCHWEIZ, ITALIEN und (im eingeschränkten Maß) BELGIEN. Die eigenständigen gemeinsamen Projekte müssen jeweils so angelegt sein, dass
a) direkte Kontakte in dem jeweils selbst für notwendig gehaltenen Ausmaß jederzeit möglich sind;
b) die Eigenständigkeit der Arbeit in der BRD gewährleistet bleibt (keine politische ‚Filiale‘);
c) die gemeinsamen Projekte/Zusammenarbeit die zunehmende Kenntnis der organisatorischen/personellen Gesamtstruktur der jeweiligen Gruppe/Organisation im jeweiligen Land möglich oder sogar erforderlich macht.“
Es folgen Vorschläge für die „Zielgruppen-/Personen“ im In- und Ausland. Und die „Begründung“ warum das alles Sinn macht und einen präventiven Zweck für die counterinsurgency hat: „Auch wenn sich daraus nicht zwangsläufig das Entstehen neuer Strukturen ergibt, lässt sich erkennen, dass - im Gegensatz zu den desorientierten, breiten Teilen der übrigen ‚radikalen‘ Linken (in den meisten Ländern Westeuropas) - aus dieser Richtung deshalb die Gefahr besteht, da die Voraussetzungen weitgehend vorhanden sind... Diese Gruppen/Organisationen stellen deshalb potentiell auch für einen Teil der nicht kommunistisch orientierten Befürworter des Bewaffneten Kampfes einen Anziehungspunkt dar.“
Wir empfehlen dringend die vollständige Veröffentlichung (vielleicht mit nur ein paar Streichungen von Personennamen) dieses Papiers. Es zeigt die durchdachte konterrevolutionäre Planung aller Vorhaben der „gruppe 2“ und ihrer Auftraggeber. Die anvisierte Wiederaufnahme des Projekts eines Rote Brigaden-Films begründet „camus“ damit, dass „unmittelbar direkte Kontakte in nahezu alle Bereiche aufgenommen werden“ können und es könnte „auch in den Kontakten in die SCHWEIZ eine wichtige Rolle spielen“. Die Übersetzung und der Vertrieb belgischer Publikationen deshalb, weil „die theoretischen und politischen Texte der Belgier in der SCHWEIZ und in ITALIEN für sehr wichtig gehalten werden und andererseits die Erkenntnisse über die Kontakte aus BELGIEN in die BRD darüber gewonnen werden“. Die Herausgabe des „rapporti sociali“ in der deutschen Ausgabe „würde also gleichzeitig auch Optionen auf direkte Kontakte zu den jeweiligen Herausgebern ... eröffnen. Die Teilnahme an den internationalen Treffen .. wäre automatisch gesichert. .. durch die Übernahme der Vertriebes dafür in der BRD außerdem das Erkennen der diesbezüglichen Kontakte aus der SCHWEIZ, bzw. ITALIEN.“ So hat jedes „Projekt“ seine politische und geheimdienstliche Begründung.
Die von Manfred Schlickenrieder mit dem Decknamen „camus“ unterschriebenen Dossiers und Protokolle konzentrieren sich stark auf die politischen Positionen der bespitzelten Genoss/innen. Es werden Äußerungen zum bewaffneten Kampf und anderen Fragen zitiert oder darüber Vermutungen angestellt. Aufgelistet werden alle in Erfahrung gebrachten Verbindungen und Kontakte in jeweils andere Länder; teilweise mit recherchierten Adressen und Telefonnummern. Die Berichte datieren aus den 80er und 90er Jahren, Fortsetzungen sind angekündigt oder Berichte erwähnt, die bei den beim Aufbau befindlichen Unterlagen aber fehlen. Es handelt sich dabei ganz offensichtlich nur um einen Bruchteil der tatsächlich angelegten Dossiers. Ein Jahresoperativplan ist für 1995 vorhanden, für die anderen Jahre nicht. Wir kommen deshalb zu dem Schluss, dass es sich bei dem Aufbau-Material, so eindeutig und spektakulär es auch ist, nur um den kleinsten Teil des „camus“-Archivs handelt. Aber schon jetzt ist es der bestdokumentierte länderübergreifende Spitzelfall in der linksradikalen Bewegung in Westeuropa.
Gerade im Hinblick auf die Rote Brigaden wurde und wird häufig geheimdienstlicher Einfluss behauptet. Und die hier charakterisierte geheimdienstlich mitorganisierte „Debatte“ scheint es mal wieder zu belegen. Aber das erfasst nicht die Widersprüchlichkeit solcher Prozesse: der Geheimdienst kann die Notwendigkeit z.B. der Aufarbeitung der Geschichte der bewaffneten Linken und die Diskussion um eine Neuorientierung nicht erfinden oder verhindern. Er kann sie nur benutzen. 1920 fand Victor Serge beim Durchsuchen des Orchanra-Geheimdienstarchivs heraus, dass mindestens drei zaristische Agenten im ZK der Bolschewiki saßen. Die aber - also der Geheimdienst des Zaren selbst - hatten den Oktoberaufstand und den Sturz des Zaren auch nicht „gemacht“. Obwohl sie ganz oben dabei waren.
Es ist auch Unsinn, wohlmöglich jetzt in Schlickenrieder den Wahrheitsbeweis für bekannte Verschwörungsszenarien einer von dunklen Geheimdienstmächten gesteuerten militanten Linken sehen. Das wurde schon früher immer mal wieder vergeblich gegen die RAF lanciert. Auch die KPI behauptete in den 70er Jahren die geheimdienstliche Steuerung der Stadtguerillagruppen. All diese Kampagnen waren rein politisch motiviert: Die soziale Revolte und ihr bewaffneter Widerspruch gegen die kapitalistischen Verhältnisse sollte damit als künstliches Produkt der Reaktion denunziert und ihrer emanzipatorischen Wurzel beraubt werden. Einen substanziellen Wahrheitsgehalt hatte die Denunziation nie. In Italien begründete das eigene Projekt des „Historischen Kompromiss“ den Kampf der KPI gegen die revolutionäre Linke: Die militante Revolte gefährdete ihre geplante Teilhabe an der Macht und die dafür notwendige ideologische Konstruktion des Klassenkompromiss.
Mit ihren Publikationen in Deutschland förderte die „gruppe 2“ objektiv den Zugriff auf Texte eines bestimmten Strangs innerhalb der militanten Linken Westeuropas. Diskussionsbeiträge zu Fragen wie „Krise, Guerilla und revolutionärer Prozess“ („texte“-Titel) wurden veröffentlicht. Sie förderte und favorisierte ebenso objektiv diese Sorte ML-Polititik auch für Deutschland, auch wenn sie hier keine Relevanz bekam. Trotzdem ist die Autonomie, Integrität und Sicherheit dieser Debatte berührt, weil der Geheimdienst dabei war. Ein Projekt der counterinsurgency ist dieser Prozess damit nicht. Er bezieht seine Authenzität aus den Kämpfen, in denen er eine Rolle spielte und aus ihrer Reflektion , und dem Versuch in Analyse der kapitalistischen Modernisierung neue Ansatzpunkte für zukünftige Revolten zu finden.
Filmen für die staatliche Lichtbildkartei
Die Etablierung eines Geheimdienststützpunktes in Form einer Dokumentationsstelle liegt vor dem Hintergrund des aus den Unterlagen offensichtlichen Auftrags nahe: Es öffnet Türen. Denn natürlich braucht der Befreiungskampf auch Dokumentaristen, Leute, die sich das zur Aufgabe machen. Das Bedürfnis nach Archivierung und daraus folgender Bereitstellung führte z.B. in dem mehr bewegungsorientierten Teil der Linken in den 80er Jahren zur Gründung unzähliger Infoläden. Aber auch andere Spektren sahen die Notwendigkeit und hatten Probleme damit, es immer aus eigener Kraft zu schaffen. Zum Beispiel ehemalige Gefangene aus der RAF, mit denen die „gruppe 2“ Anfang der 90er Jahre den Film „Was aber wären wir für Menschen...“ produzierte. In dem Rahmen nahm Manfred Schlickenrieder unzählige Veranstaltungen in verschiedenen Städten und Aktivitäten von Solidaritätsgruppen und der Angehörigen auf. Auch wenn diese Kartei noch nicht gefunden wurde, lässt sich aus der gefundenen elektronischen Fotokartei über Mitglieder des schweizer Aufbaus, wofür er dort gemachte Filmaufnahmen auswertete, der Schluss ziehen, dass die Filme nach dem gleichen Muster ausgeschlachtet wurden. Das betrifft einige hundert Leute, die - im Vertrauen auf die Integrität der Veranstalter - diese Mitschnitte tolerierten. Über die Schiene beabsichtigter Filme eröffneten sich zahlreiche Kontakte. Noch in jüngster Zeit gab es Gespräche über einen zweiten Teil der Dokumentation „Was aber wären wir für Menschen...?“ oder mit der Roten Hilfe über einen gemeinsam zu produzierenden Film. Sehr aktuell war die beabsichtigte Übergabe des Archivs von Vreni Lauterbach, einer langjährigen Aktivistin der „Gruppe der Angehörigen der politischen Gefangenen in der BRD“, die vor anderthalb Jahren starb. Durch die jetzt erfolgte Enttarnung von Manfred Schlickenrieder konnte die Übergabe im letzten Moment verhindert werden.
Aber die Hauptausrichtung der Spitzeltätigkeit war die europäische Zusammenarbeit und die Verbindungen zwischen italienischen, französischen, spanischen, deutschen und schweizer Genoss/innen der politischen Zusammenhänge und Organismen der bewaffneten Linken. Nicht die Guerillagruppen selbst, sondern das von den Behörden als „terroristisches Umfeld“ titulierte Spektrum. Die bewaffnete Linke in Westeuropa war zu keinem Zeitpunkt homogen. Es gab den letztlich sehr unideologischen aktivistischen Teil, der eher einem undogmatischen Marxismus nahe war, wofür die RAF steht, und es gab die bewaffnete Variante des Neo-Marxismus-Leninismus unterschiedlicher maoistischer Prägung, für den Teile der italienischen Brigate Rosse, die spanische GRAPO oder einzelne Genoss/innen aus dem politischen Spektrum der französischen Action Directe stehen. Die Mehrzahl der Dokumente, in die uns Einsicht gegeben wurde, befassen sich damit. Da finden sich die Wiedergabe von Diskussionsfragmenten, offensichtlichen in persönlichen Gesprächen aufgeschnappten Äußerungen und ellenlange Namenslisten von vermeintlichen Mitgliedern eines „terroristischen internationalen Netzwerkes“ sowie Anmerkungen zu deren Stellung bzw. politischen Positionen. Geografisch gibt es da eine Konzentration auf Italien, Frankreich und die Schweiz, aber auch Leute auch Deutschland tauchen in diesen Listen auf.
Ein Großteil der Dokumente konzentriert sich auf die Aktivitäten und Verbindungen des schweizerischen Revolutionären Aufbau. Manfred Schlickenrieder hatte Kontakt zu verschiedenen Aktivist/innen dieser Organisation, er gab in Zusammenarbeit die deutsche Fassung des „rapporti sociali“ heraus, drehte einen Film über die Dockerstreiks in Großbritannien, und besuchte mehrfach die Schweiz. In den vergangenen zwei Jahren wurden die Kontakte so eng, dass die „gruppe 2“ quasi Teil der Aufbau-Struktur wurde. In der letzten Ausgabe der Aufbau-Zeitung wurde ein Interview mit ihm wiedergegeben, in dem er sich dazu äußerte. Die Tatsache der Konzentration auf den Aufbau in diesen Dokumenten darf allerdings nicht zu dem Schluss führen, dass es auch einen Großteil der tatsächlich von ihm angefertigten Berichte und Karteien ausmacht. Wahrscheinlich wurde dem Aufbau insbesondere Dokumente zugespielt, die sie auch betreffen. Die Dokumente selber geben unzählige Hinweise auf weitere Berichte und Notizen, die bisher nicht zugänglich sind. Einige Schlüsse können gezogen werden: Es ist ganz sicher keine Spekulation anzunehmen, dass es neben der Fotokartei über die Mitglieder des Aufbau auch entsprechende Fotokarteien z.B. über Angehörige der ehemaligen Solidaritätsgruppen mit den Gefangenen aus der RAF geben muss. Einmal, weil er bei verschiedenen Gelegenheiten filmte und ehemalige Gefangene bei Veranstaltungsrundreisen begleitete. Aber auch die gefundene Fotokartei selbst gibt durch Nummerierung und Archivierungskennzeichen Hinweise auf einen viel umfangreicheren Bestand.
Schlickenrieder bei Libertad!
Unsere Begegnungen mit dem Typen fanden im Rahmen der Gründungsphase von Libertad! 1994/95 statt. Auf Vorschlag einer ehemaligen Gefangenen aus der RAF trat Manfred Schlickenrieder der Solidaritätskampagne Libertad! bei und nahm an Treffen des damaligen Initiativkreises und der Arbeitsgruppe „Internationale Kontakte“ teil. Wie wir jetzt den Dokumenten entnehmen konnten, war das auch der Grund seines Interesses. In dem schon zitierten Operativplan von 1995, in dem er die Schwerpunkte seiner Arbeit formulierte, nennt er das als Beweggrund weiterer Mitgliedschaft in Libertad!, obwohl die Personen und Gruppen, auf die er sein Hauptaugenmerk richtete, Libertad! wegen der „Menschenrechtsausrichtung“ kritisierten. Informiert wurden seine Auftraggeber nach den vorhandenen Unterlagen z.B. über die Überlegungen, sich an den Aktivitäten gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1994 in Neapel zu beteiligen, welche Personen das vorhaben und welchen Kontakt es in Neapel gibt.
Seinen, ein halbes Jahr später erfolgten, Ausstieg begründete er damit, dass ihm Libertad! nicht „kommunistisch“ genug sei. Libertad! konnte mit diesem Vorwurf leben und die damals in der Initiative Aktiven tat sein Abschied nicht besonders weh. Das mag angesichts der jetzt zu Tage tretender Agententätigkeit selbstgefällig klingen, ist es aber nicht. Manfred Schlickenrieder hatte zur Konstituierung von Libertad! nichts Wirkliches beigetragen. Die Erfahrung mit ihm war geprägt davon, dass er wenig initiativ war und dass seine angeblich exzellenten Beziehungen zu Solidaritätsgruppen in Italien für die Arbeit von Libertad! nichts brachten. Den damaligen Wunsch, einen Kontakt zu italienischen Gefangenen herzustellen, um auch mit ihnen über eine europaweite Vernetzung der Solidarität mit politischen Gefangenen zu diskutieren, verschleppte er systematisch. Wir hatten den Eindruck, dass er seine Kontakte lieber gezielt privatisierte, als sie in den Dienst einer politischen Initiative zu stellen. Denn letzteres hätte zumindest eine partielle Kollektivierung seiner connection verlangt. Andere hätten Einblick bekommen. Das wollte er nicht und so fand es nicht statt. Natürlich erklärt sich das heute in einem anderen Licht. Allerdings ist es auch nichts besonderes im Rahmen der radikalen Linken. Nicht jeder privatisierte Kontakt nährt den Agentenverdacht. Richtig ist aber auch, dass die privatisierte Verbindung das Operationsfeld von Spitzeln einfacher macht. Umgekehrt fiel er unangenehm auf, als er vermutete, wir hätten als Gruppe Kein Friede eigene Kontakte nach Italien. Da bemühte er sich sehr: „Das können wir doch gemeinsam machen“, was wir damals so interpretierten, dass da jemand sein Monopol in Gefahr sieht. Wir lehnten ab und befragten Münchener Genoss/innen nach ihrer Einschätzung der Person. Aber das brachte auch nichts anderes zum Vorschein als die Charakterisierung als Eigenbrötler, mit dem man nicht zusammenarbeiten könne. 1995 verließ Manfred Schlickenrieder Libertad! mit der schon genannten Begründung. Er schloss sich damit anderen Kritiker/innen an, die damals ebenfalls aus Libertad! austraten. Wie wir jetzt den Dokumenten des Aufbaus entnehmen konnten, sah er bei denen vielversprechendere Anknüpfungspunkte für die Informationsgewinnung.
Transnationales Geheimdienstnetzwerk
Der Agent Schlickenrieder hatte offensichtlich Zugang zu geheimen Auswertungen und anderen Dokumenten verschiedener europäischer Geheimdienste. Aufschlussreich ist z.B. das Dokument über die Telefon- und Kontaktobservation vermeintlicher Mitglieder der französischen Guerillagruppe Action Directe. Sie wurde, wie sich aus dem Text ergibt, von einem Verfassungsschutzmitarbeiter erstellt und umfasst einen Zeitraum von Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre. Obwohl einige Angaben unkenntlich gemacht wurden, ist erkennbar, dass der Dienst in Frankreich operierte und über verschiedene Quellen (Informanten, technische Informationsgewinnung etc.) verfügte. Ein Dokument mit dem Titel „Namensverzeichnis über Personen mit Präzedenzfällen umstürzlerischer Art“, das Dutzende Personen auflistet, die dem „terroristischen Umfeld“ in Italien zugerechnet werden, ist ebenso eindeutig ein Geheimdienstdossier. Ein weiteres Personendossier, was ebenfalls die italienische Szene im Blick hat, stammt offensichtlich von einem anderen, deutschen, Dienst. Da finden sich Anmerkungen in dieser Art: „Was ihrem Wunsch betrifft, über weitere Extremisten mit Auslandskontakten informiert zu werden, nennen wir Ihnen folgende Personen:...“. Das liest sich, als wenn „camus“ über die Personen italienischer oder deutscher Nationalität informiert wird, die über Kontakte nach Deutschland verfügen, damit er über sie Bescheid weiß und nicht in verfängliche Situationen gerät, wenn er ihnen begegnet. Zu einer bestimmten Wohnung in Rom wird vermerkt, es „liegen uns leider noch keine Informationen vor. Wir haben die Anfrage an SISDE“ - (italienischer Geheimdienst) - „weitergeleitet, aber bis jetzt noch keine Antwort erhalten“.
Ein anderes Dokument listet die Post- und Besuchskontakte bei den RAF-Gefangenen Birgit Hogefeld und Eva Haule bis Mitte der 90er Jahre auf. Höchstwahrscheinlich wurde dieses Dokument von der mit der Besuchsüberwachung beauftragten Abteilung beim BKA oder LKA erstellt. Außerdem existieren mehrere Dokumente aus italienischen Quellen, u.a. dem Geheimdienst SISDE. Daneben fanden sich Fernschreibermeldungen aus Rom oder vom „ESA CONVERSATIONAL MONITOR SYSTEM“, wohinter sich die „Europäische Weltraumbehörde“ verbirgt, deren Übersetzungsdienst geheimdienstlich genutzt wird (die Überwachung satellitengestützter Telefone ohnehin).
Diese und andere Unterlagen fanden sich im Besitz der „gruppe 2“. Da in den „camus“-Berichten sowohl eigene wie fremde Erkenntnisse einflossen, ist davon auszugehen, dass ihm die originären Geheimdienstunterlagen von seinem Auftraggeber als Hintergrundmaterial zur Verfügung gestellt wurden. Das gleichzeitige Antreffen von anderen Berichten aus in Italien angesiedelten Quellen, spricht dafür, dass zumindest dort eine Filiale bestand oder besteht, die direkt der „gruppe 2“ zuarbeitete.
Manfred Schlickenrieder bezeichnete die „gruppe 2“ selbst, wie wir jetzt erfuhren, mehrfach als Teil einer Struktur, zu der außer dem Archiv, der Video- und Filmproduktion und dem Literaturvertrieb, was Job der „gruppe 2“ war, noch andere Gruppen mit anderen Aufgaben gehören würden. Das wurde zwar im Zusammenhang mit der Erläuterung des eigenen Gruppennamens gesagt, auszuschließen ist nach den Funden allerdings nicht, das es der Wahrheit entsprach. Erwähnt wurde von dem Agenten auch eine in Deckung bleibende geheime Struktur seines Ladens. Im Jargon der Geheimdienste könnte man Manfred Schlickenrieder als Schnittstellenperson, als operatives Scharnier zwischen verschiedenen Gruppen der militant-kommunistischen Linken Europas bezeichnen. Besonders pikant wird diese Tätigkeit, wie gefundene „Rohübersetzungen“ staatlicher Herkunft belegen, wenn nicht wenige der Beiträge der „texte“-Reihe, die zum Großteil aus dem Italienischen stammten, durch den Übersetzungsdienst seiner Auftragsbehörde ausgeführt wurden - sozusagen der deutsche „rapporti sociali“ auf Kosten des BND.
Was für den Staat gut ist, muss der Industrie nicht teuer sein
Immer wieder fragten sich Leute, woher die „gruppe 2“ eigentlich die Kohle für ihre Film- und Übersetzungsarbeit nahm. Zudem hatte Schlickenrieder auch mal einen roten Alfa. Die aufgefundenen Spesenabrechnungen lüften jetzt das Geheimnis seiner Liquidität: Er rechnete konsequent beim Amt ab. Reisen, Autopannen, Telefonkosten und Hilfsjobs im Büro wurden ihm zu 75 Prozent rückerstattet. Als Zuverdienst operierte die „gruppe 2“ in der Grauzone privatwirtschaftlicher Geheimdienste. Moralische Skrupel kannte sie dabei nicht und wirklich kein Job war dabei zu dreckig. 1997 kassierte Schlickenrieder 20.000 DM bei der Firma „Hakluyt“ in London für die Bespitzelung deutscher Anti-Shell-, Greenpeace- und Menschenrechtsgruppen. Zur Erinnerung: Die nigerianischen Militärs hatten 1995 Ken Saro Wiwa und acht andere Aktivisten der Ogonibewegung aufgrund ihres Widerstandes gegen die Ausplünderung und Verseuchung ihres Landes durch die multinationale Petroindustrie gehenkt. Shell fördert das Öl in Nigeria. 1997 war auch das Jahr der weltweiten Proteste gegen die Versenkung der Ölplattform Brent Spar. Auch die gehörte Shell. Der Firmenspruch von „Hayklut“ lautet: „The idea was to do for the industry what we had done for the goverment“. Eigentümer dieser kommerziellen Agentenklitsche sind Mike Reynolds und Christopher James. Beide arbeiteten vorher als special agents für den britischen Geheimdienst MI 6. Die britische Antiterroreinheit SAS ist u.a. auch die „Putzgruppe“ des MI 6. Auf ihr Konto gehen die Todesschwadrone gegen die republikanische Bewegung in Nordirland, die Verwissenschaftlichung der Folter in den Polizeistuben der nordirischen RUC und die killings von IRA-Militanten auf offener Strasse in Gibraltar. Soviel nur zur Dienstleistung ihres Ladens.
Die Genoss/innen vom schweizer Aufbau checkten Manfred Schlickenrieder mehrmals. Dabei stießen sie auf Karsten Banse, laut Schlickenrieder ein „verdecktes Mitglied der gruppe 2“. Kein schlechter Scherz. Karsten Banse ist MAD-Offizier und wurde wegen seine Rolle in der sogenannten „Affäre Mauss“ wegen Korruption verurteilt. Werner Mauss war in den 70er und 80er Jahren Chef einer extralegalen „Anti-TE“-Firma, die ihre Kohle von der Industrie bekam, aber im Auftrag von BKA, MAD und BND arbeitete. All das, was der legale Rahmen trotz Sondergesetze und Antiterrorfahndung einfach nicht hergab, ermittelte Mauss auf Kosten der Bullen. Dafür wurden seine Pässe in der Bundesdruckerei ausgestellt und ihm ein Privatflughafen gebaut. 1975 entführte ein Kommando der Bewegung 2. Juni den CDU-Politiker Lorenz in Berlin. Neben anderen Militanten kam auch der Gefangene Rolf Pohle dadurch raus. 1976 wurde er in Athen verhaftet. Mauss erklärte später, dass sei nur ihm und seiner Recherche zu verdanken gewesen. Mitte der Achtziger, als die RAF gemeinsam mit militanten Gruppen führende Vertreter und Einrichtungen des Militärisch-Industriellen-Komplexes in der BRD attackierte, landeten bei verschiedenen legalen Aktivist/innen der antiimperialistischen Linken sogenannte „Millionenbriefe“ im Briefkasten. Ein anonymer Absender, der sich selbst guter Beziehungen zur Industrie brüstete, bot den Empfängern Millionenbeträge für den Verrat an. Aber niemand ging darauf ein. Die Folge: an mehreren Autos von Genoss/innen, die einen „Millionenbrief“ erhalten hatten, wurde lebensgefährlich herummanipuliert - verdeckte Mordversuche. Mauss machte später auch Politik. Oder er wollte es. Mit direkter Deckung durch Schmidtbauer, den Geheimdienstkoordinator der Kohl-Regierung, organisierte er Geheimgespräche zwischen der ELN-Guerilla und der kolumbianischen Regierung. Auch hier ging es um das Geschäft. Sollten doch ausländische Sicherheitsberater ausgestochen und deutschen Firmen dadurch ein Standortvorteil verschafft werden. Mauss wurde mehrfach der Bestechung beschuldigt. Einmal erwischte es auch Karsten Banse. Beeindruckt hat ihn das nicht. Warum auch? War er doch der „beste Freund“, wie Schlickenrieder ihn mal bezeichnete, und blieb mit der „gruppe 2“ weiter im Geschäft.
„Waffenköder“ und anderes
Auch wenn sich „camus“ auf die Auswertung ideologischer Positionen und die Abschöpfung von Gesprächen konzentrierte, so hatte er trotzdem zuweilen andere, klassische Methoden im geheimdienstlichen Repertoire. So filzte er laut einem „Zusammenfassenden Reisebericht, Teil 3“ aus dem Frühjahr 1994 einem Mitglied des Aufbau in Rom die Aktentasche. Dort will er „vor Erscheinen“ eines Textes der italienischen CC/PCC bereits entsprechende übernommene Passagen gefunden haben - dabei ging es um einem Artikel von Lenin zur Frage des bewaffneten Kampfes.
In einem anderen Fall arbeitete Manfred Schlickenrieder als agent provocateur und Lockspitzel. In einem „Kontaktbericht zum Treffen mit ..“ vom 30.4.1994 bietet er diesem fünf bis sieben Faustfeuerwaffen gegen Geld an. Dazu diese Notiz: „Im übrigen wurde dieser ‘Waffenköder’ von mir so ausgelegt, dass ein ‘Rückzug’ jederzeit auch ohne Gesichtsverlust und Verdachterweckung möglich ist“. Die Waffen sollten an einen Flügel der Organisation Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) aus der Türkei gehen, die sich zu dem Zeitpunkt in einem extrem gewaltsam ausgetragenen Fraktionskampf befand, bei dem es eine Reihe von Toten gab. In der in diesem Zeitraum erscheinenden Ausgabe der „texte“ wird erstmalig ein Text von Devrimci Sol abgedruckt. So geht dann seine „Politik“ mit dem Dienstgeschäft Hand in Hand.
Geschickt und geheimdienstlich wertvoll auch das Angebot an lokale Münchener Gruppen, bei der „gruppe 2“ Postadressen einrichten zu können. Das sparte Mühe, „camus“ bekam so z.B. die Post einer Antifagruppe immer direkt auf den Tisch. Das brachte zwar auch mal den polizeilichen Staatsschutz ins Haus, nachdem besagte Antifa Fahndungsplakaten nachempfundene Steckbriefe von Zivilbullen veröffentlichte, diente aber gleichzeitig als Beweis für die „Bedrohung durch polizeiliche Repression“.
„Näheres auf Wunsch“
Psychogramme von Agenten sind eine problematische Sache. Denn die Schizophrenie ist Berufung und Job. Weil es geht, einer Genossin vom Aufbau nach einer Verhaftung ein Solidaritätsfax zu schicken und sie parallel in einem Bericht zu denunzieren. Anekdotisch ist dann ein von Schlickenrieders Laden 1990 herausgegebenes Flugblatt, mit dem die Aufdeckung eines Polizeispitzels bekannt gemacht wird, der 12 Jahre lang die holländische Linke bespitzelte.
Im „Sisyphus“ von Albert Camus heißt es: „Die Gefahr liegt in dem kaum messbaren Augenblick vor dem Sprung“. Seine Notizen und Karteikästen entlarven Manfred Schlickenrieder als Blockwart, der die „kommunistische Debatte“ nur als Schwert und Schild für die operative Freiheit seiner Agentenbürokratie nutzte. Wenn andere was machen wollten, wollte er reden - „die Debatte vertiefen“, wie er es nannte. Der Spitzel maß die Gefahr genau: Gesprungen ist er nie. Trotzdem ist er nun gefallen. Für Albert Camus dagegen ist der Begriff der Freiheit das Absurde schlechthin. Die Freiheit zu sein existiert für ihn nicht. Der Tod ist da, um alles zu beenden, nach ihm existiert nichts. Es gibt kein Morgen; alle bürgerlichen Zielsetzungen sind Illusion und Vorurteil. Absurd zu leben bedeutet nach Camus: Gleichgültigkeit der Zukunft gegenüber, aber auch eine Leidenschaft alles Existierende auszuleben. Es gibt keinen Sinn des Lebens, keine Werteskala. Jean Paul Sartre warf Albert Camus vor, damit nur „saubere Hände“ behalten zu wollen, weil er nicht Partei ergriff und sein Standpunkt des absurden Menschen in der absurden Welt eine Nullpunktexistenz sei, in dem der denkende Mensch nicht verbleiben könne, weil er sich entscheiden, handeln und eingreifen müsse in die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse.
Manfred Schlickenrieder war Operateur der Unterdrückung. Hier war kein Mensch in der Revolte. Sein gewählter Deckname „camus“ ist daher auch eher eine Frage der Selbststilisierung und ein Fall für die Couch. Er operierte immer aus der Deckung der sicheren Seite. Seine Bürokratie beweist sich in prozentual aufgeschlüsselten Tankquittungen und Bürorechnungen, sein serviles Wesen entlarvt sich am Ende von Lageberichten über Treffen mit Genoss/innen durch Nachsätze wie: „Näheres auf Wunsch“.
Die Spitzeltätigkeit von Klaus Steinmetz war verheerend für die RAF und die damalige Diskussion der mit dem bewaffneten Kampf politisch verbundenen radikalen Linken. Die Auswertung der Tätigkeit von Manfred Schlickenrieder steht noch am Anfang. Seine jetzt nachgewiesene jahrzehntelange Agententätigkeit beweist nun die Existenz eines Bürokraten, der fotografierte, notierte, abheftete und bewertete, was andere versuchten schöpferisch aus dem Elend dieser Verhältnisse zu gestalten. Davon nährte er sich und darin operierte er mit seinen technischen Möglichkeiten der Reproduktion. Die letzte Aktion von Klaus Steinmetz endete blutig. Das machte sein Handeln so verbrecherisch. Manfred Schlickenrieder dagegen ist der Buchhalter der Lüge: beflissen, penibel, berechnend und ausdauernd über Jahre. Es ist diese Bürokratie des niederen Verrats, die ihn so verabscheuungswürdig macht und einen an Antworten denken lässt, die wir nicht geben können.
3.12.2000