2002-01-28
Thesen für die Diskussion der Arbeitsgruppe 4 des Forum I während des WWG-Gegenkongresses 1992 in München
* Ist "Demokratie" bürgerlich? Egal mit welcher Begrifflichkeit wir die Organisationsform einer Gesellschaft belegen, tragend und bestimmend für ihren Charakter ist die Organisation der Arbeit - wie produziert wird - und die Organisation der gesellschaftlichen Diskussion und Entscheidung - wie regiert wird.
Das bürgerliche Ideal ging von der Trennung dieser beiden "Bereiche" aus: politisch/privat, Staat/Wirtschaft usw. Die bürgerliche Gesellschaft ist entsprechend organisiert. Das sozialistische Ideal ging von der Aufhebung der Trennung aus: "Alle Macht den Räten", kollektive Entscheidung der Menschen über alle ökonomischen, politischen usw. Fragen an einem "Ort". Tatsächlich organisierten die bisherigen, darum realen sozialistischen Gesellschaften diese Trennung lediglich staatlich: Das Volk von den Quellen und Orten der eigenen Macht durch Staat und Partei getrennt.
Wenn wir Demokratie nicht anders definieren als die gesellschaftliche Form, wie die Menschen an dem Entscheidungsprozeß über ihr Leben beteiligt sind - Volksherrschaft im Gegensatz zur Diktatur - wird klar, warum Demokratie nicht per Begriff bürgerlich ist. Es wird auch klar, warum der Begriff die diversen Zusätze hat: bürgerliche, sozialistische, parlamentarische Demokratie...
* Eine Gesellschaft, die sich der Fähigkeit beraubt, ihre inneren Widersprüche in einem offenen Prozeß auszutragen, eine Klasse, die die gesellschaftlichen Widersprüche unterdrückt, ein Staat, der diese Unterdrückung durchführt ist nicht demokratisch. Deswegen handelt es sich für uns bei den imperialistischen Staaten, wie Deutschland, nicht um demokratische, sondern allenfalls um formal-demokratische Länder.
Die bürgerliche Gesellschaft trennt die Menschen in Individuen auf und stellt sie so dem Staat gegenüber. Die Beteiligung des Volkes an der Entscheidungsfindung ist ausschließlich über Wahlen, also die Delegation der Macht, möglich. Aber das Parlament ist ohnehin nicht der Ort der Macht.
* Für Deutschland hat es zumindest nach 1945 nur ein einziges Mal eine theoretische Möglichkeit gegeben, sich selbst eine Verfassung zu geben: Nach dem Zusammenbruch der DDR und vor der Einverleibung durch die BRD. Warum wir das erwähnen: es hätte eine gesellschaftliche Diskussion darüber stattfinden können, sowohl wie sich diese Gesellschaft selbst versteht, als auch wie sie sich die eigene Organisationsform vorstellt. Nicht die Verfassungsfragen interessieren uns hier, sondern nur die Behauptung, daß sehr wohl andere Formen als die im Westen bekannte Demokratie, diskutiert worden wären. (Zumindest aus dem Bereich der - noch - damaligen DDR gab es da ja Überlegungen: Runde Tische, Elemente des Volkskammer-Prinzips etc.)
Neben ökonomischen Gründen und denen des internationalen Kräfteverhältnisses, war das mit ein Hauptgrund, warum - unter Gefahr des eigenen ökonomischen Kollapses - die DDR "über Nacht" eingesackt werden mußte: Die HERRschende Klasse in der BRD konnte weder einen irgendwie anders gearteten demokratisch-sozialistischen Staat neben sich dulden, noch eine gesellschaftliche Diskussion dieser Fragen zulassen, die Konsequenzen für einen vereinigten Staat gehabt hätte.
* Der reale Sozialismus ist an einem Mangel an Demokratie eingegangen, ganz sicher nicht an Glasnost. Gerade in der Diskussion über den Zusammenbruch des realen Sozialismus ist uns die Erkenntnis wichtig, daß der strukturelle Mangel dieser Gesellschaften nicht in fehlenden Waschmaschinen und Autos liegt, sondern in einem grundsätzlichen Mangel an selbständiger Organisierung der Gesellschaft, dem Fehlen von Strukturen der Macht des Volkes. Die Mangelwirtschaft ist auch nur eine Folge daraus (z.B. Trennung der ArbeiterInnen von Gestaltung und Entscheidung über die Produktion; die kapitalistische Produktionsweise wurde nicht aufgehoben...) Diese Sozialismusvorstellungen kannten das Volk nicht als Subjekt, sondern nur als Objekt staatlicher Fürsorge, eben Beglückung oder Gängelung von oben. Ihre Herkunft aus sozialdemokratischen und preussischen Sozialstaatsideen konnten sie nie abstreifen.
* Die kommunistischen Parteien, die meisten Befreiungsbewegungen, aber auch die eher undogmatisch-marxistischen-autonomen bis hin zu anarchistischen Gruppen waren bis jetzt alles andere als demokratisch. Das schließt unsere eigene Beteiligung an diesen Organisationsprozessen mit ein. Wir belegen diesen Prozeß - jetzt, hier - nicht mit den (in Deutschland gängigen) Begriffen: stalinistisch, autoritär, hierachisch usw. Sie mögen sogar für nicht nur die eine oder andere Gruppe zutreffen. Aber sie machen eine zu schnelle Abgrenzung möglich. Der Unterschied zwischen "demokratischen Zentralismus" und nicht erkennbaren, also auch nicht kritisierbaren "informellen Strukturen" ist im Ergebnis sehr gering. Die eine Struktur behauptet eine Abhängigkeit von der Basis, hat aber tatsächlich das Verhältnis umgedreht, während die andere sich gar nicht erst von irgendeiner Basis abhängig macht. Uns geht es hier nicht um eine Begriffsdiskussion. Für uns stellt sich viel mehr die Frage, welche Formen und Inhalte der Selbstorganisierung progressive und revolutionäre Bewegungen finden müssen, wenn sie perspektivisch eine gesellschaftliche Bedeutung erreichen, bzw. die Machtfrage selbst stellen wollen. Um nichts anderes geht es ja.
* Bürgerliche Menschenrechte sind individuelle Rechte, etwa das Wahlrecht. Die formal-demokratischen westlichen Metropolenstaaten (der G7) kennen keine kollektiven, sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte. Aber weltweit werden nicht nur diese, sondern selbst die bürgerlichen Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Die meisten Menschen müssen täglich um ihre nackte Existenz kämpfen. Die bürgerliche Definition ist das Interesse der herrschenden, imperialistischen. Damit werden weltweite militärische Interventionen begründet, sie selbst stellen sich dar als Vorkämpfer dieser Menschenrechte. In Vietnam wurde die "Freiheit West-Berlins verteidigt" (Willy Brandt), im Golfkrieg waren Menschenrechte, Demokratie und Freiheit das ideologische Begründungsmuster der Massaker.
* Ein Wesenszug der imperialistischen Metropolenverhältnisse ist, daß jeder Begriff zugleich auch immer reaktionärer Kampfbegriff gegen die Unterdrückten ist - solange nicht die emanzipatorischen Prozesse sich selbst in ihren Kämpfen die Begriffs- und Definitionsmacht (zurück)erobern. Spätestens seit der KSZE (in den 70er und 80er Jahren) und in der UNO der 90ziger Jahre sind Demokratie und Menschenrechte die Legitimationsbasis antikommunistischer und imperialistischer Einkreisungs- und Vernichtungspolitik. Die Zusatzprotokolle der Genfer Konvention 1977 zur Anerkennung und Schutz der Menschenrechte von Kriegsgefangenen in innerstaatlichen Konflikten (Guerillakämpfe, Bürgerkriege usw.) waren Ausdruck des erkämpften Kräfteverhältnis der 70er Jahre nach dem Sieg der antikolonialen Kämpfe in Vietnam und im südlichen Afrika. Heute werden alle wesentlichen durch die "nationalbefreiten" Staaten durchgesetzten Gesundheits- und Förderungsprogramme der WHO unter Druck der USA und des Westens wieder zusammengestrichen.
* Eine bürgerlich-demokratische Klasse, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzt, also sie als ihre eigenen Interessen betrachtet, exisistiert als gesellschaftliche Schicht, als politisch handelnde Gruppierung (das meint nicht: als einzelne Individuen) nicht mehr. Das hat nicht nur der Hungerstreik der politischen Gefangenen 1989 gezeigt. Aber schon damals wurde deutlich, was jetzt alle sehen können: heute benutzen diejenigen, die in den 70ern für den "Erhalt demokratischer Rechte" gegen Berufsverbote und den Sicherheitstaat des "Modell Deutschlands" demonstrierten, dieselben zur Rechtfertigung des Golfkrieges und der politischen Vorbereitung möglicher zukünftiger Interventionen, wie z.B. im ehemaligen Jugoslawien .
Wer, wenn nicht die progressiven, emanzipatorischen und revolutionären Bewegungen selbst, hier wie weltweit, können heute noch für Erhalt und Garantie kollektiver und sozialer Menschenrechte kämpfen?