2008-11-12
Bei der 54. Generalversammlung der Atlantic Treaty Association am 10. November 2008 im Hotel Adlon
[...] Die Atlantic Treaty Association tagt nun schon zum vierten Mal in Deutschland. Herzlich willkommen auch von meiner Seite und ein herzliches Dankeschön an den bisherigen Präsidenten, Herrn Hunter, und einen herzlichen Glückwunsch an seinen Nachfolger.
Ich glaube, wir brauchen die tatkräftige Weiterarbeit in dieser Assoziation. Wir haben Herrn Hunter Dank zu sagen für gute Dienste und viel Wertvolles, was in der Atlantic Treaty Association geleistet wurde. Herzlichen Dank, Herr Hunter, und eine glückliche Hand, lieber Karl A. Lamers.
Die Tagung findet nicht nur in Deutschland, sondern sie findet auch an einem symbolträchtigen Ort statt, wie es eben gesagt wurde: In der Nähe des Brandenburger Tors. Dieses jahrzehntelang verschlossene und nun schon seit fast 20 Jahren – genauer gesagt, seit 19 Jahren und zwei Tagen – offene Tor wird auch in Zukunft Symbol bleiben, Symbol für die Freiheit dieser Stadt, für die Wiedervereinigung meines Landes, für die Überwindung der Teilung Europas und dafür, dass dies alles gelingen konnte, weil sich nach den Schrecken zweier Weltkriege unsere nordamerikanischen Freunde für und in Europa dauerhaft und verlässlich engagiert haben.
Das hat natürlich auch mein persönliches Leben sehr verändert, denn ich bin vor über 19 Jahren immer nur auf der östlichen Seite des Brandenburger Tors gestanden, bin also nicht besonders weit gekommen. Bis zu der Stelle, an der heute das Adlon ist, wurde man ja nicht vorgelassen. Insofern sind das natürlich immer wieder bewegende Momente, wenn man sieht, wie um den Pariser Platz herum die Botschaften ihre Heimat beziehen, wie hier alles neu entsteht – ein Symbol für eine offenere und freiere Welt.
So war es uns natürlich sehr wichtig, dass am 4. Juli dieses Jahres auch die amerikanische Botschaft an diesen Platz zurückgekehrt ist. Wir wissen, dass wir mit unseren amerikanischen Freunden auch die nächsten Aufgaben meistern wollen. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben einen neuen Präsidenten gewählt. Es wird natürlich mit Spannung erwartet, wie es in all den vielen Fragen weitergehen wird, an denen wir arbeiten müssen.
Ich habe mit dem NATO-Generalsekretär gerade die Agenda der zu lösenden Probleme besprochen. Auf einiges werde ich hier gleich eingehen. Wir schauen mit großer Offenheit, großen Erwartungen, aber auch großer Ernsthaftigkeit auf unsere zukünftige Zusammenarbeit, in der es wahrlich genügend Probleme zu lösen gilt. Deshalb ist es gut, dass wir zum 60. Jahrestag der NATO am 4. April 2009 auch auf eine ganze Reihe von Erfolgen der NATO zurückblicken können, die uns die Kraft dazu geben, auf diesem Fundament auch die Probleme unserer Zeit mutig anzugehen – mutig anzugehen sicherlich im Geiste der Kooperation, im Geiste auch des Wissens, dass heute kein Land mehr allein die Probleme der Welt lösen kann, dass wir auf ein Miteinander angewiesen sind, aber auch jeder seinen Beitrag zur Lösung leisten muss.
Wir werden am 3. und 4. April 60 Jahre NATO in Straßburg und Kehl feiern, also im Herzen Europas, an der deutsch-französischen Grenze – an einer Grenze, die über Jahrhunderte für kriegerische Auseinandersetzungen stand und die heute mit der Friedensbrücke in Kehl ein Symbol für das ist, was wir in Europa geschafft haben und worauf wir auch stolz sein können.
Was können wir von diesem Gipfel erwarten? Natürlich wird Bilanz gezogen werden. Wir wissen, die Atlantische Allianz war und ist der Garant für Frieden und Freiheit in Europa. Und das soll sie auch bleiben. Aber wir wissen auch: Es gibt eine Vielzahl neuer Herausforderungen und Gefahren. Deshalb müssen wir uns über die zukünftige Rolle dieses Bündnisses, unseres Bündnisses, Klarheit verschaffen.
Das letzte strategische Konzept der NATO ist auf 1999 datiert, also auf ein Datum vor der Sichtbarwerdung der terroristischen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Ich halte es deshalb für wichtig, beim nächsten Gipfel ein neues strategisches Konzept in Auftrag zu geben, das uns Klarheit darüber verschafft, wo die Aufgaben der NATO im 21. Jahrhundert liegen.
Nun wird das nicht so einfach sein, wie es sich jetzt anhört, denn es ist in diesem Zusammenhang natürlich eine Vielzahl von Fragen zu beantworten. Diese Fragen erfordern eine sehr klare Antwort. Wie können wir den Schutz unserer eigenen Territorien im 21. Jahrhundert optimieren, auch gemeinsame Kräfte mobilisieren, um diese Aufgabe zu leisten? Welche strategischen Konzepte ergeben sich für die Allianz aus den bisherigen Erfahrungen mit asymmetrischen Bedrohungen und im Kampf gegen den transnationalen Terrorismus? Das ist sicherlich eine der Kernaufgaben, für deren Lösung es gilt, die bisherigen Erfahrungen zu analysieren.
Einige wichtige Fragen in diesem Zusammenhang lauten: Welche Gefahren gehen von Staaten aus, die zu zerfallen drohen, und wie gehen wir mit solchen Staaten um? Wie können wir Gefahren dort begegnen, wo sie entstehen, bevor ihre verheerenden Folgen auch unsere Länder erreichen? In welcher Art und Weise kann man also präventiv, natürlich – das sage ich ausdrücklich – auch politisch agieren? Was kann und soll die Allianz zur Sicherung von wichtigen Transportwegen, also von wirtschaftlichen Lebensadern, beitragen? Soll sie das überhaupt oder soll sie es nicht? Wie kann man die Kooperation zwischen denen, die dafür Verantwortung tragen, und der NATO organisieren? Wie kann sich die Allianz noch intensiver in Rüstungskontrolle und Abrüstung einbringen? Auch hier haben wir eine Entwicklung auf der Welt, die uns nicht zufriedenstellen kann.
Vor allen Dingen müssen wir die Frage stellen: Was ist die Rolle der NATO in einer Sicherheitspolitik, die nach all den Erfahrungen der letzten Jahre nurmehr als vernetzte Sicherheitspolitik wirken kann? Dies zieht sich eigentlich durch alle Fragen. Wir wissen zum Beispiel aus unserem Einsatz in Afghanistan, dass Sicherheit allein mit militärischen Mitteln nicht herzustellen ist. Die Antwort, die das neue strategische Konzept geben muss, muss die Antwort auf die Frage sein, inwieweit sich die NATO als politisches Bündnis versteht, das eine vernetzte Sicherheit auch als ihre Aufgabe betrachtet – immer auch in Kooperation mit Entwicklungshilfe, mit politischem Gestaltungsauftrag und natürlich vertraglichen Regelungen weit über das Militärische hinaus. Diese Frage wird sicherlich mit großer Intensität diskutiert werden. Ich glaube aber nicht, dass wir ein Konzept der vernetzten Sicherheit haben können, bei dem die NATO dazu verurteilt wäre, nur im militärischen Bereich zu diskutieren.
Ich habe es als sehr gut empfunden, dass wir auf unserer Bukarester NATO-Konferenz auch mit dem afghanischen Präsidenten gesprochen haben, dass wir mit Vertretern des zivilen Aufbaus gesprochen haben, dass der UN-Generalsekretär dabei war. Das heißt, diese Formen der Kooperation mit multilateralen Institutionen müssen fixiert werden, strategisch ausgearbeitet und ein Stück weit auch verbindlich werden und nicht von Fall zu Fall, mehr oder weniger zufällig entschieden werden. Das heißt also, die NATO muss sich als Garant für unsere kollektive Sicherheit begreifen und damit einen festen und beschriebenen Platz im Konzept der vernetzten Sicherheit einnehmen.
Ich denke, dass wir dabei im Umgang mit Afghanistan ein großes Stück vorangekommen sind. Es sind in vielen Bereichen Resolutionen gefasst worden. Zum Beispiel war es vielen Entwicklungshilfeorganisationen nicht ins Geschichtsbuch geschrieben worden, mit der ISAF eine enge Kooperation zu pflegen. Daran zeigt sich, dass das Zusammenwachsen der Welt im Grunde auch im kooperativen Agieren der Akteure eine völlig neue Qualität bekommen kann, was aus meiner Sicht ausgebaut und ein Stück weit selbstverständlich werden muss.
Wir müssen uns auch fragen, wie das Verhältnis der NATO zu ihren Partnern ist. Da ist allen voran die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu nennen. Mir ist absolut wichtig, dass es kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander gibt. Allerdings haben wir hier noch eine ganze Reihe von zum Teil kaum zu verstehenden praktischen Fragen zu besprechen. Was beispielsweise die Themen Zypern und Türkei angeht, wird man kommenden Generationen sicherlich nicht erklären können, dass wir vielleicht Jahrzehnte gebraucht haben, um ein vernünftiges, ineinander verzahntes Konzept von NATO und Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik auszuarbeiten. Dies in Jahrzehnten nicht geschafft zu haben, wäre ein Versagen vor der Geschichte. Hier muss etwas passieren, damit dieses Verzahnen reibungsloser und nicht wieder nur von Fall zu Fall, jedes Mal mühselig verhandelt, geschafft wird. Ich glaube im Übrigen: Bei gutem Willen auf allen Seiten muss das und kann das möglich sein. Deutschland will auch dazu beitragen.
Ich glaube, dass wir mit einer stärkeren Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch die Atlantische Sicherheitspartnerschaft festigen können und festigen wollen. Ich glaube, dass auch unsere amerikanischen Partner das zunehmend so sehen. Das wird sicherlich einer der Punkte sein, die wir mit dem neuen amerikanischen Präsidenten, der, wenn dieser NATO-Gipfel stattfindet, zum ersten Mal als Präsident Europa betritt, besprechen können.
Wir müssen uns natürlich weiterhin mit der Frage der Erweiterung befassen. Zur Erweiterungsdiskussion, die wir bezüglich der Ukraine und Georgien in Bukarest geführt haben, will ich nur sagen, dass genau das gilt, was wir auf dem Gipfel in Bukarest vereinbart haben. Wenn sie es wollen, werden die NATO-Partner der Erweiterung zustimmen. Es gibt die starke Erwartung, dass diese Länder eines Tages NATO-Mitglieder sein werden. Angesichts der aktuellen Lage in den Ländern glaube ich jedoch, dass die Beitrittsvoraussetzungen derzeit nicht erfüllt sind. Und ich sehe das auch auf absehbare Zeit nicht. Dennoch müssen wir einen Weg definieren, der uns in diese Richtung führt. Das heißt, es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft zur Erweiterung. Aber es gibt kein Recht von Dritten zu bestimmen, wer in die NATO hineinkommt und wer nicht.
Wir werden oder sollten auch im Umfeld des nächsten NATO-Gipfels ein klares Signal an Russland senden. Ich wiederhole: Wir wollen eine möglichst enge und verlässliche Partnerschaft mit Russland eingehen. Wir haben auch im europäischen Rahmen hierzu viele Diskussionen. Die Außenminister der Europäischen Union haben zum Beispiel heute beschlossen, dass – angesichts der Situation, die uns bezüglich Südossetien und Abchasien nicht zufriedenstellen kann, aber auch angesichts dessen, was auf russischer Seite mittlerweile geschehen ist – die Verhandlungen über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wiederaufgenommen werden.
Wir haben in der internationalen Finanzkrise gesehen, dass wir in der G8 durchaus handlungsfähig sein wollen und sollen, und haben deshalb auch eine Erklärung als G8, also auch wieder einschließlich Russland, abgegeben. Ich denke, auch für die NATO ist es von großem Wert, mit Russland als Partner zu reden. Es ist immer besser, miteinander als übereinander zu reden. Dass das gerade in der Kooperation NATO - Russland nicht ganz einfach ist, weiß ich. Aber wenn wir von hier ein bestimmtes Signal auch in Richtung des 60. Jahrestages aussenden könnten, wäre das ein Signal der politischen Klugheit.
Wir haben bei allen Überlegungen – immer mit Blick auf die Sicherheitsarchitektur in Europa – auch darauf zu achten, dass die NATO und die transatlantische Partnerschaft starke Eckpfeiler unserer Sicherheitsarchitektur sind und die transatlantische Partnerschaft in keiner Weise zur Disposition steht. Das muss auch jedem klar sein, der zum Beispiel über die NATO-Russland-Frage oder die Kooperation zwischen Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und Russland spricht. Es gibt keine Möglichkeit, die transatlantische Sicherheitspartnerschaft auseinanderzudividieren. Ich sage das auch in unseren Diskussionen mit unseren russischen Partnern immer wieder: Diese Versuche sind über Jahrzehnte fehlgeschlagen und sie werden auch in Zukunft fehlschlagen. Wir brauchen einander mehr denn je als Partner in einer globalisierten Welt, zum Beispiel auch bei der großen Herausforderung der Bekämpfung des Terrorismus. Je stärker wir hier zu einer Kooperation kommen, desto besser.
Es gibt also, wie Sie aus meinen Ausführungen ersehen, viele Erwartungen an den NATO-Gipfel, der im Übrigen nicht so lange dauern wird, dass man dort schon alle Erwartungen erfüllen könnte. Ein Thema wird uns auch auf diesem NATO-Gipfel, auf der Geburtstagsfeier besonders beschäftigen: Afghanistan. Afghanistan ist die Herausforderung für die NATO. Von der Lösung der Frage, wie wir die Herausforderung in einem Konzept der vernetzten Sicherheit bewältigen, wird sehr viel für die Akzeptanz der NATO, für den Erfolg der Operationen der NATO und auch für das Ansehen der NATO weltweit abhängen.
Erstens muss man sich daran erinnern, dass Afghanistan die Brutstätte der Anschläge vom 11. September und weiterer verheerender Attentate auch in Europa war. Im Grunde ist Afghanistan für uns die Mahnung, politisch darauf aufzupassen, dass es möglichst keine zerfallenden Staaten gibt, weil sie immer Brutstätte terroristischer Aktivitäten sein können. Dies ist also eine ganz klare präventive Herausforderung.
Zweitens. Die Debatte über das Engagement in Afghanistan darf auf keinen Fall allein auf die Zahl der eingesetzten Soldaten reduziert werden. Wir haben deutsche Soldatinnen und Soldaten, zugleich viele Polizisten und Entwicklungshelfer – ebenso wie unsere Partner und Verbündete – im Einsatz. Als Teile eines vernetzten Ansatzes folgen die zivilen und militärischen Kräfte natürlich einer Logik, die der Situation vor Ort entspricht: Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau, kein Wiederaufbau ohne Sicherheit. Beides bedingt einander.
Drittens. Wir dürfen nicht aus dem Auge verlieren, dass jeder Beitrag in ein umfassendes Engagement der internationalen Gemeinschaft und die Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung eingebettet ist. Die Stabilisierung Afghanistans ist also nicht ein rein deutsches Anliegen, ein Anliegen der EU oder der NATO, sondern das Engagement der internationalen Staatengemeinschaft beruht auch auf Entscheidungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Es beruht im Übrigen auch auf der UN-Charta, was den immer noch notwendigen Kampf gegen Terrorstrukturen betrifft. Das heißt also, wir haben hier wirklich eine übergeordnete Aufgabe, die wir erfüllen werden.
Außerdem will ich noch einmal darauf Bezug nehmen, dass eine demokratisch legitimierte Regierung Afghanistans das internationale Engagement ausdrücklich erbeten hat. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich möchte viertens an dieser Stelle allen Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und Diplomaten aufrichtig Dank sagen, die in Afghanistan schwierige und zum Teil sehr gefährliche Aufgaben schultern. Dafür gebühren ihnen Respekt und Anerkennung. Ich verneige mich vor all denen, die in diesen Einsätzen für unsere Sicherheit schwere Verwundungen erlitten oder gar ihr Leben gelassen haben. Wir müssen sagen, dass sich unsere Soldaten in einer Auseinandersetzung, in einem Kampf mit einem oft unsichtbaren Gegner befinden. Sie haben es mit einer Gefahr zu tun, die etwas anderes ist als das, was wir bisher erlebt haben. Genau auf diese Herausforderung müssen sie vorbereitet sein. Es ist eine asymmetrische Auseinandersetzung und deshalb eine völlig neue Qualität der Auseinandersetzung, über die wir uns auch in Zukunft weiter verständigen müssen.
Wir sollten nicht außer Acht lassen, dass auch arabische und asiatische Länder in Afghanistan gemeinsam mit uns auch unter großen Opfern ihrer Verantwortung nachkommen. Das ist eine neue Erfahrung, die die NATO in Bündnissen macht, die wir bisher überhaupt noch nicht kannten.
Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass deutsche Soldaten und auch unsere Partner beim Einsatz der Mittel Zurückhaltung üben und die gebotene Verhältnismäßigkeit wahren. Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: In Gefahrensituationen – deshalb habe ich über die neue Qualität dieser Auseinandersetzung gesprochen –, in denen sekundenschnelle Entscheidungen zu fällen sind, ist Zurückhaltung natürlich oft leichter gesagt, als sie in der realen Situation dann getan ist. Deshalb möchte ich hier noch einmal betonen, dass wir großes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer Soldaten haben und dieses Vertrauen aus meiner Sicht auch allemal gerechtfertigt ist.
Fünftens. Die internationale Gemeinschaft hat ihr Ziel einer hinreichenden Stabilisierung Afghanistans noch nicht erreicht. Man muss das mit ganz klaren Worten benennen. Das heißt nicht, dass wir das bisher Erreichte kleinreden wollen – das ist richtig und wichtig: Afghanistan hat eine neue Verfassung, Präsident und Parlament existieren, die Infrastruktur wurde verbessert, sechs Millionen Kinder gehen zur Schule, viele junge Frauen sind beruflich aktiv, in einigen Teilen des Landes, aber leider nicht in allen, hat sich die Sicherheitslage seit 2001 verbessert. Das ist ein enormer Fortschritt gegenüber den Jahren schrecklicher Taliban-Herrschaft in Afghanistan. Aber wir müssen sagen, dass wir noch vor großen Herausforderungen stehen, die wir nach meiner festen Überzeugung auch nur mit einem Konzept der vernetzten Sicherheit bewältigen können. Hier allein die militärischen Kräfte in Anspruch zu nehmen, ist zu wenig.
Deshalb wird uns in den nächsten Monaten – auch mit der neuen amerikanischen Administration – die Frage, wie wir den Begriff der vernetzten Sicherheit in ein Konzept umsetzen können, immer wieder beschäftigen. Ich glaube nicht, dass wir ein neues Konzept brauchen. Es wird bei uns sehr oft öffentlich nach einem neuen Konzept gerufen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Ansatz der vernetzten Sicherheit richtig ist. Aber wie wir ihn auf die konkreten Bedingungen in Afghanistan anwenden, mit welchen Kräften wir sprechen, wie wir die politischen Strukturen stärken, ist etwas, was sicherlich der permanenten Diskussion und Anstrengung bedarf.
Es bleibt also – sechstens und ganz wichtig – das Ziel unseres Einsatzes, sich selbst tragende Strukturen in Afghanistan zu schaffen, die die Stabilität des Landes sicherstellen. Deshalb ist der Aufbau der afghanischen Sicherheitsorgane eine besondere Herausforderung und Priorität unseres Handelns. Diesen Aufbau leistet die Bundeswehr in erheblichem Umfang. Diesen leisten wir auch bei der Ausbildung von Polizeikräften.
Die zeitlichen Perspektiven, in denen wir hierbei gewisse Erfolge erreichen können, haben sich etwas nach hinten verschoben, weil die Ausbildung zum Teil länger dauert und sich auch schwieriger gestaltet, als wir uns das vorgestellt haben. Aber die zeitliche Perspektive des Afghanistaneinsatzes – das will ich ausdrücklich sagen – richtet sich nicht nach vorab bestimmten Jahren aus, sondern sie richtet sich auf das Erreichen des Ziels aus. Und das heißt Stabilisierung und Möglichkeit des eigenständigen Regierens in Afghanistan.
Allerdings sage ich auch – das sagt sich hier in diesem Saal relativ leicht, aber ich sage es auch gegenüber der afghanischen Regierung immer wieder: Wir müssen es schaffen, dass Afghanistan auch den festen Willen noch deutlicher zum Ausdruck bringt, dass das Volk dieses Auf-eigenen-Füßen-Stehen auch politisch wirklich will. Das ist ganz wichtig, denn es geht uns nicht darum, länger in Afghanistan zu sein als notwendig, sondern darum, das Land auf stabile Füße zu stellen. Das muss der Maßstab dessen sein, was wir tun.
Siebtens. Wir dürfen uns bei der Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen und auch beim Aufbau der Wirtschaft in Afghanistan keinen Illusionen hingeben. Wir können nicht von heute auf morgen ein westliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell überstülpen, sondern die Entwicklungen müssen mit den Afghanen diskutiert werden. Ich habe das auch am Beispiel des Polizeiaufbaus mit der afghanischen Regierung immer wieder versucht. Wenn wir nicht wissen, welche Polizeistruktur sich Afghanistan für sich vorstellt, dann können wir natürlich mit unseren verschiedenen Modellen – von Amerika bis Deutschland, von Italien bis Frankreich, von föderal bis zentral – verschiedenste Angebote machen. Wenn das alles aber von den Menschen vor Ort nicht akzeptiert wird, dann ist das sehr schwierig. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir im Gespräch mit Afghanistan auch verbindliche Aussagen darüber bekommen, wie man sich eine Polizeistruktur für dieses Land vorstellt, damit man nicht nach einigen Jahren gesagt bekommt: Aber uns hat ja nie jemand gefragt, so wollten wir es eigentlich nicht haben. Das wäre fatal, wie ich ganz deutlich sagen muss.
Das heißt also, es bleibt die Aufgabe der Afghanen selbst, auf der Grundlage eigener Kulturen, Traditionen und Werte ein stabiles Staatswesen zu schaffen. Wir können uns hierüber umfangreich kundig machen, wir können viel über die Geschichte Afghanistans lesen, lernen, erfahren, uns Wissen darüber aneignen, aber ganz zum Schluss bedarf es der verbindlichen Zusage auch der legitimierten Strukturen in Afghanistan, wie man sich einen solchen Staatsaufbau vorstellt. Ohne das arbeiten wir ein Stück weit ins Leere. Wir werden seitens der Bundesrepublik Deutschland unseren Beitrag zum Aufbau leisten. Aber wir können ihn nur in Partnerschaft mit Afghanistan leisten.
Achtens. Die gemeinsame Aufbau- und Entwicklungsstrategie der afghanischen Regierung und der internationalen Staatengemeinschaft ist im Grunde im "Afghanistan Compact" verankert. Dieser Compact benennt klare Zielvorgaben. Sie müssen immer wieder angeschaut und angepasst werden. Wir haben im letzten Jahr die Koordinierung einiger internationaler Organisationen in Afghanistan verbessert. Ich mache auch kein Hehl daraus: Es sind noch viele Synergieeffekte nutzbar, um hier zu einem noch koordinierteren Vorgehen zu kommen. Allerdings hat sich auch schon viel getan, wie man feststellt, wenn man sich beispielsweise ansieht, wie im ISAF-Hauptquartier Leute zusammensitzen, die früher nicht miteinander gesprochen haben.
Neuntens. Eines der ganz großen Probleme ist der Drogenanbau. Hier stehen wir auch vor einer dramatischen praktischen, aber zum Teil auch intellektuellen Aufgabe. Auch hier sind meine herzliche Bitte und meine Erwartung an die afghanische Regierung, dass hier klare Aussagen getroffen werden. Denn wir können nicht gegen den Drogenanbau kämpfen, wenn dies die afghanischen Akteure nicht aus voller Kraft und auch mit dem Mut, es öffentlich auszusprechen, sagen. Alle Hilfe kann gegeben werden, aber es muss der innere Wille da sein, dieses Problem im Lande zu lösen.
Zehntens. Ohne Stabilität in der gesamten Region und ohne eine konstruktive Rolle seiner Nachbarn wird Afghanistan keine nachhaltige Stabilität erreichen. Es bedarf einer regionalen Einbindung. Das ist hier im Hotel Adlon in Berlin auch sehr leicht gesagt, aber in der Praxis – wenn wir an Pakistan, Indien, den Iran und andere Akteure denken – viel, viel schwieriger getan. Es zeigt sich immer wieder gerade an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan: Nur, wenn wir eine regionale Gesamtschau haben, haben wir eine Chance auf Erfolg.
Deutschland ist bereit, sich in all diesen Fragen zu engagieren und auch weiterhin Verantwortung zu tragen. Wir haben unsere Verantwortung in den drei Jahren, in denen ich Bundeskanzlerin bin, sowohl im Blick auf die vernetzte Sicherheitsarchitektur insgesamt als auch auf unsere militärischen Aufgaben permanent verstärkt wahrgenommen. Wir sind auch der Meinung, dass im Blick auf die Luftüberwachung noch ein Schritt gegangen werden muss. Dies haben wir ausdrücklich auch im Zusammenhang mit der Verabschiedung des letzten Afghanistan-Mandats politisch zu erkennen gegeben. Ich halte das für außerordentlich wichtig. Wir sind auch dazu bereit, bei der Übernahme von regionaler Verantwortung – siehe Einbindung von Pakistan – weiter unsere Rolle zu spielen. Während unserer G8-Präsidentschaft hatte der Bundesaußenminister bereits die ersten Treffen zwischen den afghanischen und den pakistanischen Verantwortlichen initiiert. Inzwischen haben wir auch Gruppen von Freunden von Pakistan. Auch hierbei wird Deutschland weiter seine Rolle spielen.
Mit meinen Anmerkungen habe ich Ihnen gezeigt: Sie haben viel zu tun, wenn Sie diskutieren und uns auch inhaltlich helfen wollen, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich wünsche Ihrer Versammlung dabei weiterhin alles Gute.
Atlantic Treaty Association – ein wichtiges Glied in der allgemeinen Diskussion über die Aufgaben unserer Allianz. Ich kann den Ausführungen des Generalsekretärs aus Zeitgründen jetzt leider nicht mehr lauschen, möchte mich aber für die gute Zusammenarbeit bedanken. Gerade in der Frage, wie es weiter mit Afghanistan geht, sind wir in ständiger enger Abstimmung. Er hat es ja auch nicht immer ganz leicht, weil wir alle so verschieden sind, aber jeder für sich sehr liebenswürdig. Herzlichen Dank, Herr Generalsekretär. Ihnen allen alles Gute.