2003-06-07 

Virus in der Matrix

Jürgen Elsässer, abgedruckt im Freitag 23/03, 30.05.03
Quelle: Schwarze Katze Rundbrief 03.06.03

G8-Gipfel in Evian. Die Programmierer der neuen Weltordnung suchen den Fehler ihres Systems

Wir alle haben Matrix I und II gesehen und uns fantastisch amüsiert. So fantastisch, dass wir das Realistische des Plots mittlerweile verdrängen: Das Leben, das wir zu führen glauben, ist eine Simulation. In Wirklichkeit vegetieren wir als Zuchtschweine auf einem vollautomatisierten Wüstenplaneten und werden langsam versaftet. Damit wir das nicht merken, überspielen die Herren der Welt eine ausgetüftelte Computeranimation in unsere Gehirne. Gesteuert von dieser Matrix träumen wir das pralle Leben, während wir jeden Tag einen lausigen Tod sterben.

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Doch die Software hat einen Killervirus, der nicht nur die Simulation auffliegen lässt, sondern das gesamte System zerstören könnte. Natürlich wollen die Programmierer der Neuen Weltordnung das verhindern. Deshalb treffen sie sich in Evian, auf der französischen Seite des Genfer Sees, 2000 Lichtjahre von Genua und Seattle entfernt. Die Gruppe nennt sich G 8 und besteht aus hybriden Fundamentalisten, mafiotischen Cyborgs und sozialdemokratischen Mutanten.

Wir, die Menschen, stehen nicht auf der Agenda des Krisengipfels. Wozu auch? Die allermeisten von uns halten die Matrix für die Wirklichkeit. Wir merken gar nicht, wie wir von den Maschinen ausgesaugt werden. Viele schließen sich freiwillig stundenlang an Mobilphone und Laptops an, als lägen sie auf der Intensivstation und könnten nur durch Gerätemedizin überleben. Ihnen ist ihr virtueller Schatten wichtiger geworden als ihre biologische Präsenz - sie verwechseln SMS mit zwischenmenschlicher Kommunikation und den Chatroom mit einer gemütlichen Kneipe. Der Orgasmus kommt von Lara Croft und kostet via Highspeed-ISDN nur 29 Cent pro Minute. Die Verkündigungen der großen Illusionsmaschine hören wir gern: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke. "Not in Our Name" ist unser Motto. Soll heißen: Wir wollen nichts damit zu tun haben.

Die Herren in Evian fürchten nicht uns, sondern die Selbstzerstörung ihres Systems. Der Vormarsch der Automaten und die Eliminierung der menschlichen Arbeit ist mittlerweile so weit gediehen, dass immer mehr Waren erzeugt werden und davon prozentual immer weniger abgesetzt werden können. In Deutschland hat die computergestützte Technisierung fünf Millionen Menschen dauerhaft aus der Produktion verdrängt und den Preis der noch beschäftigten Arbeitskraft gedrückt. So sank der Anteil der Löhne am Volkseinkommen von 52,7 Prozent (1980) auf 48,1 Prozent (1991) und 41,9 Prozent (1997). Das bedeutet, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter immer weniger von dem kaufen können, was im Lande - von ihnen selbst ! - hergestellt wird. Autos aber kaufen keine Autos.

Diese Entwicklung konnte fast 20 Jahre ignoriert werden, weil die Vereinigten Staaten die Überschüsse aus Deutschland, Japan und anderen Ländern importierten. Damit ist jetzt Schluss: Big Brother hatte 2002 ein Handels- beziehungsweise Leistungsbilanzdefizit von fast einer halben Billion Dollar. Die amerikanische Staatsschuld steigt ins Unermessliche. Explosiv ist besonders die Netto-Auslandsverschuldung der USA, sie beläuft sich auf 3,5 Billionen Dollar - 35 Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP). Als die DDR im Herbst 1989 für bankrott erklärt wurde, betrug ihre Netto-Auslandsverschuldung 16 Prozent des BIP.

Die USA balancieren ökonomisch am Abgrund, deswegen wird es in Evian ein Hauen und Stechen geben. Erster Punkt: Die Hypermacht will die Beute des Irak-Krieges - die zweitgrößten Ölvorkommen der Welt - ganz für sich. Die anderen sollen ihre irakischen Außenstände weitgehend abschreiben, abgeschlossene Verträge makulieren. Zweiter Punkt: Die Road Map. Palästina und Israel sollen Protektorate des Imperiums werden wie Bosnien und Herzegowina. Dritter Punkt: Kontrolle oder Liquidierung Nordkoreas und damit einer potenziellen Pipelinetrasse zwischen dem russischen Energielieferanten und den asiatischen Energieimporteuren. Vierter Punkt: Afrika wird verramscht. Die Vereinigten Staaten geben den Kongo an Frankreich zurück - aber nur, wenn die Euroarmee auch die Kadaver entsorgt.

Die G 8 werden sich irgendwie einigen und die Probleme doch nicht lösen. Die Öleinkünfte aus dem eroberten Irak dürften gerade reichen, die neue Runde der US-Rüstung zu finanzieren. Woher aber sollen die zusätzliche Billionen kommen, damit die US-Wirtschaft weiterhin deutsche Autos und japanische Computer aufsaugen kann? Mit der Abwertung des Dollars hat Washington deutlich gemacht, dass es die Rolle des defizitgetriebenen Importstaubsaugers nicht mehr spielen will und spielen kann. Nun tritt der Grundwiderspruch der Wirtschaftsweise hervor: Je mehr die Maschinen aus der menschlichen Arbeitskraft herauspressen, um so weniger davon kann auf dem Binnenmarkt abgesetzt und muss exportiert werden. Wenn aber alle Nationalökonomien diesem Prinzip folgen, wohin soll dann noch exportiert werden? Das globale Mehrprodukt erscheint als unverkäufliches Überangebot und drückt die Preise. Die Deflation markiert den Übergang vom Fall der Profitrate zum Fall der Profitmasse - den GAU des Kapitalismus.

Im eingangs zitierten Film wird die Krise des Gesamtsystems in der Figur von Mr. Smith deutlich. Er quittiert den Dienst als Agent der Matrix, koppelt sich vom Motherboard ab, verhundertfacht sich und kämpft auf eigene Rechnung. Gegen die menschlichen Rebellen, aber auch gegen die alte Führung. Wer ist dieser Mr. Smith im Hier und Jetzt? Schröder, Chirac, Putin? Und vor allem: Was will er? Die verehrten Freunde von Attac müssen auf der Hut sein. Es gibt kein reales Leben im virtuellen.