2008-08-12
Editorial
Reden über “das Klima” erinnert an schlechte Satire: Regenwaldfressende Klimaschurken und Klimakiller-Kühe auf der einen Seite, die nachhaltig-selbstzufriedene Bohème mit ihrer Bio-Propaganda auf der anderen. Vieles nervt zu Tode in dieser allgegenwärtigen Klimadebatte, die mit konkreten sozialen Kämpfen kaum etwas zu tun zu haben scheint. Auch wenn irgendwo die Erkenntnis schlummert, dass hier eminent Wichtiges zu verhandeln wäre, erscheint das Feld der Auseinandersetzungen durchsetzt von Stolperdrähten des individuellen Verzichts und der verkappten Wirtschaftsförderung. Es reift die Gewissheit, dass die gegenwärtige Bearbeitung des Themas markt- und herrschaftsförmig verläuft.
Das fängt an bei WissenschaftlerInnen, die behaupten, sie könnten bis hinter das Komma genau ausrechnen, wie viele Tonnen Kohlendioxid in der Luft die Erdatmosphäre um wie viel Grad anheizen und wie viele Bäume zum Ausgleich gepflanzt werden müssten. Solche Vorgaben nehmen KlimapolitikerInnen dankbar auf, um sie als Klimapakete oder Klima-Abkommen wieder abzusondern. Wo dem technokratischen Größenwahn Raum gegeben wird, nimmt das Antidemokratische Platz: Selbstverständlich wird uns vorgerechnet, wie verantwortungslos klimaschädlich soziale Bewegungen in Heiligendamm protestieren. Und wie sind die Hoffnungen der BiomodernisiererInnen zu bewerten, die auf die solare und solidarische Gesellschaft nach dem Ende der Öl- und Kohle-Ära setzen?
Allen ist gemeinsam, dass sie das Klima zum Thema schlechthin erklären, um angesichts des nahenden Klima-GAUs andere politische Ziele zu relativieren. Denn während auf der einen Seite die gemeinsame Betroffenheit des globalen “Wir” als Schicksalsgemeinschaft der vom Klimawandel Bedrohten konstruiert wird, bleiben die kapitalistische Produktions- und Konsumtionsweise im Norden weitestgehend unangetastet. Stattdessen beginnen die Industriestaaten, sich gegen die von Klimafolgen am stärksten Betroffenen abzuschotten. Unruhen, Verteilungskonflikte und klimabedingte Migration mehren sich: Vorboten der sich zuspitzenden sozialen und damit verschränkten ökologischen Ungleichheit zwischen Nord und Süd.
Trotzdem die Linke liebt das “Öko-Thema” nicht. In der aktuellen Debatte sind kaum Beiträge wahrnehmbar, die über die ökologische Modernisierung des Kapitalismus hinaus weisen. Vielleicht sind zu viele AkteurInnen mit von der Partie, oder fällt es zu schwer, im Dickicht der unterschiedlichen Positionen und Argumente Stellung zu beziehen? Auch wir, die Redaktionen von arranca! und sul serio, haben uns nicht aus einem sicheren Gesamturteil heraus dazu entschieden, eine gemeinsame Ausgabe dem Klima zu widmen. Vielmehr trieb uns der Wunsch, auf diesem wenig durchschaubaren Kampffeld diejenigen Zusammenhänge zu entdecken, die wir im herrschenden Diskurs so diffus und doch spürbar vermissen.
Der Fokus dieses Heftes liegt deshalb gerade nicht auf der einen großen zukünftigen Katastrophe, sondern auf den vielen kleinen Katastrophen und Auseinandersetzungen, die sich schon jetzt vielfach abspielen. Aktuelle lokale und regionale Konflikte um Zugang zu Ressourcen und Umweltzerstörung machen deutlich, dass die ökologischen Krisen sehr wohl Gewinner- und VerliererInnen kennen. Die Klassenspezifik von Klimafolgen lässt sich angesichts der Verschärfung sozialer und ökologischer Spaltungen nicht leugnen. Um so wichtiger, die fortschreitende Privatisierung und Ökonomisierung der Natur zu kritisieren, die von einflussreichen AkteurInnen als Allheilmittel gegen die Klimakatastrophe verfochten wird. Gegenüber dieser Politik müssen wir den Zusammenhang von Kapitalismus und Umweltzerstörung wieder sichtbar machen und als Ansatzpunkt für seine Kritik und mögliche Überwindung nutzen – wie unter anderem der Bedeutungsgewinn von Biotechnologien und die Auseinandersetzung um die Biopiraterie zeigen, nimmt die Abhängigkeit von der Natur nicht ab, sondern zu.
Wegen politischer und räumlicher Nähe haben arranca! und sul serio sich des Themas in dieser Ausgabe gemeinsam angenommen und die hier vorliegende Artikelauswahl getroffen, um einen strukturierten Überblick zu bieten und Anknüpfungspunkte an emanzipatorische Politik greifbar zu machen. Denn eines ist klar: Weder der Rückzug auf den “richtigen” individuellen Konsum noch die Hoffnung auf internationale KlimaretterInnen ist geeignet, die mit den Veränderungen des Klimas einher gehenden sozialen und ökologischen Probleme zu lassen. Es gilt hier und anderswo subversive und offene Strategien gegen die neuen Versuche zu entwickeln, den Menschen unter Berufung auf den Klimawandel Handlungsräume und Ressourcen zu entziehen. Ein Raum dafür steht zur Verfügung: auf dem Klimacamp vom 15. -24. August 2008 in Hamburg (www.klimacamp08.net). Die Suche nach Handlungsoptionen für die Kritik des Kapitalismus und seiner berwindung ist eröffnet!
Für sul serio-LeserInnen üblich, für die FreundInnen der arranca! etwas Besonderes, können wir euch eine Umsonstausgabe anbieten, euer a!-Abo wird entsprechend verlängert.
INHALT
Editorial
von den Redaktionen arranca! und sul serio
SCHWERPUNKT
Die letzte Schlacht gewinnen wir? Das Klima, die Zeit und die radikale Linke
von Alexis Passadakis & Tadzio Müller
Die Natur beißt zurück: Kapitalismus, Ökologische Marktwirtschaft und Krise
von Mario Candeias
Das Papier nicht wert: Monokulturen und Klima
von Stefan Thimmel
Von fossilen Dinosauriern und aufstrebenden Öko-Pionieren: Die deutsche Energiepolitik im Kontext postfordistischer Naturverhältnisse
von Hendrik Sander
Gender, Klimawandel und Biodiversität: Zusammenhänge zwischen Biodiversität und Geschlechterverhältnissen
von Julika Schmitz
Steigende Meere, sinkende Erträge: Wie Klimawandel und Hunger zusammenhängen
von Tobias Bauer
Freie Stromversorgung in Südafrika: Empowerment oder Disziplinierung?
von Greg Ruiters
Niemand steht außen: Eine Kritik an Agrotreibstoffen als radikale Gesellschaftskritik
von Andreas Hetzer
Die Eigentumsfrage: Wege zum Klimakommunismus
von initiative k
Deutsche Küche: Warum Fleischkonsum das globale Klima und den Hunger in der Welt anheizt
von Christian Noll
Konsum Global: Entdeckungsreise durch die globalisierte Stadt
von Boris Demrovski
Das Bett im Musikzimmer: Drei Episoden vom Konsum
von Dorothea Müth
Die Axt am Pfeiler des Kapitalismus: Konsumkritik als Zugang zur Kapitalismuskritik
von Chris Methmann
Pipeline durchs Biotop: Die verfehlte Klimaschutzagenda der Weltbank
von Daniela Setton
Orwell in grün: Neue Kontrolltechniken im Namen des Klimaschutzes
von Niels Boeing
AUßERHALB
Opfer der Marktgesellschaft: Obdachlosenfeindlichkeit als klassistische Formation
von Andreas Kemper
Antiislamismus und Islamismus: Zwei Seiten eines rassistischen Diskurses
von Iman Attia
REZENSIONEN
Alice Creischer, Gabriela Massuh & Andreas Siekmann (Hrsg.):
Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun. Ex Argentina
Pascale Gazareth, Anne Juhasz & Chantal Magnin (Hrsg.)
Neue soziale Ungleichheit in der Arbeitswelt
Justin Akers Chacón & Mike Davis:
Crossing the border
Tobias Singlnstein & Peer Stolle:
Die Sicherheitsgesellschaft
Joseba Sarrionandia:
Der gefrorene Mann
Peter Birke:
Wilde Streiks im Wirtschaftswunder
MUSIKREZENSIONEN:
Portishead (Third), Benga (Diary of an Afro Warrior), Pluxus (Solid State)