2008-05-06
Von Juliane Schumacher und Sigrid Oberer
Seit den neoliberalen Reformen sind in Japan längst nicht mehr nur Frauen und MigrantInnen auf Tagelöhnerjobs angewiesen.
Auch am Euromayday in Aachen nahm eine Aktivistin der Freeter Union External link aus Japan teil, um Erfahrungen auszutauschen und auf die Situation in Japan hinzuweisen.
Ob sich die „Freeters", die neuen Prekarisierten, auch für Proteste gegen den G8-Gipfel im Juli mobilisieren lassen, wollten Juliane Schumacher und Sigrid Oberer für die feministische Zeitschrift an.schläge von der japanischen Aktivistin Kaori Yoshida wissen.
Kaori Yoshida, 38, lebt in Tokyo. Sie arbeitet im Kollektiv „Eat - Exist - Resist" und der Gruppe „Nojiren", beide Organisationen unterstützen Obdachlose. Yoshida kocht regelmäßig gemeinsam mit Obdachlosen in einem Park im schicken Viertel Shibuya, daneben spielt sie in der Punkband „The Happening". Seit Ende Februar reist sie mit zwei MitstreiterInnen durch Europa. Ziel der Infotour ist es, sich mit europäischen AktivistInnen auszutauschen, um von vergangenen Mobilisierungen, wie etwa 2007 in Heiligendamm, zu lernen. Die AktivistInnen wollen außerdem über soziale Bewegungen in Japan informieren - denn bis jetzt, meinen sie, wisse in Europa kaum jemand etwas über die sozialen Probleme in Japan und den Widerstand dagegen.
Frage: Anfang Juli findet der G8-Gipfel auf der japanischen Insel Hokkaido statt. Erwartet Ihr ebenso große Proteste wie in Heiligendamm?
Kaori Yoshida: Ganz so groß sicher nicht. G8-Gipfel in Japan sind, verglichen mit Europa, ziemlich selten, sie finden dort nur alle acht Jahre statt. Deshalb ist es schwierig, die Mobilisierung gegen die G8 zwischen den Gipfeln am Leben zu erhalten. Der letzte G8-Gipfel in Japan hat 2000 auf der Insel Okinawa stattgefunden, ganz im Süden Japans. Aufgrund der Besonderheiten des Ortes - dort befinden sich siebzig Prozent aller US-Militärbasen in Japan - wurden die Proteste gegen den Gipfel hauptsächlich von antimilitaristischen Gruppen organisiert und waren stark vom Thema Militärbasen dominiert.
Was wird dieses Jahr Thema der Proteste sein?
Eines der Themen, zu dem ein breites Bündnis arbeiten könnte, ist Prekarität. In Japan sieht man die Auswirkungen einer fehlenden sozialen Absicherung sehr drastisch. Verglichen mit Europa gab es in Japan nie ein Sozialsystem. Vor der ersten ökonomischen Krise in den 1970ern haben sich die Unternehmen um quasi alles gekümmert: Sie haben Wohnungen gestellt, Kindergartenplätze, die Krankenversicherung, die Rente - alles lief über die Unternehmen. Mit den ökonomischen Krisen wurden aber immer mehr Menschen arbeitslos und durch die neoliberalen Reformen der 1990er wurde deren Situation weiter verschärft. Wenn jemand heute in Japan seinen Job verliert, kann er/sie vom Staat für höchstens sechs Monate Arbeitslosengeld bekommen, aber die bürokratischen Hürden sind sehr hoch, die meisten Leute bekommen nicht einmal das.
Wirkt sich das auf alle ArbeitnehmerInnen gleich aus?
Zwei Gruppen sind besonders betroffen: Frauen und MigrantInnen, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Woher kommen MigrantInnen in Japan vor allem?
Eine große Gruppe von Einwanderern stammt aus dem Iran. Obachlose iranische MigrantInnen hatten in zwei Parks in Tokyo auch eine Art Zeltstadt aufgebaut, aus den typischen blauen Zelten, die die Obdachlosen benutzen. Sie hatten dort auch kleine Läden und eine gewisse Infrastruktur, bis sie auf Anweisung der Stadtverwaltung aus den Parks vertrieben wurden.
Eine andere große Gruppe migrantischer ArbeiterInnen kommt von den Philippinen. Japan hat einen Vertrag mit den Philippinen abgeschlossen, den JPEPA [Japan-Philippines Economic Partnership Agreement], der Japan erlaubt, Giftmüll in philippinischen Gewässern zu versenken. Im Gegenzug erhalten mehr philippinische Arbeiter eine Arbeitserlaubnis für Japan - oder eher Arbeiterinnen, denn in den meisten Fällen sind es Frauen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Leute in Japan können sich „ihre" Krankenschwester im Internet bestellen, mit einem Klick auf ihr Bild.
Warum sind auch japanische Frauen von den härteren Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt betroffen? Die sind doch meist sehr gut ausgebildet.
Das schon. Japanische Frauen haben meist dieselbe Ausbildung wie Männer des gleichen Alters. Genau wie diese machen sie die schrecklichen „Aufnahmeprüfungen" an den Universitäten durch, die „Prüfungshölle", wie wir sie nennen. Wenn man es schafft, an einer der renommierten Universitäten aufgenommen zu werden, kann man erstmal erleichtert sein, denn der Name der Universität ist das, was am meisten zählt. Aber die Krisen der japanischen Wirtschaft haben dazu geführt, dass immer mehr Leute ganz aus der Arbeitswelt gedrängt werden. Für Frauen ist es dann noch schwieriger, sich durchzusetzen und wieder einen Job zu finden. In Japan sind die klassischen Rollenmuster noch sehr dominierend: Von einer Frau wird erwartet, dass sie zu Hause bleibt, sobald sie ihr erstes Kind hat. Neben- oder Teilzeitjobs lohnen sich wegen der hohen Besteuerung eines „Zweitverdienstes" nicht.
Wird umgekehrt erwartet, dass ein Mann seine Familie ernähren kann?
Ja, und dieser gesellschaftliche Druck ist für bei den unsicheren Arbeitsverhältnissen ein riesiges Problem. Die wirtschaftlichen Krisen der 1990er haben mehr und mehr Leute aus der Arbeitswelt hinauskatapultiert. Aber Arbeitslosigkeit gilt in Japan immer noch als Schande, die Menschen glauben, sie hätten ihr Gesicht, ihre Ehre verloren, weil sie das Einkommen für sich und ihre Familie nicht mehr zusammenbekommen. Das führt dazu, dass manche Leute wirklich „verschwinden": Erst versuchen sie, zu verbergen, dass sie ihren Job verloren haben, und wenn es doch herauskommt, brechen sie vor Scham den Kontakt zu ihrer Familie und Bekannten ganz ab.
Was machen die Leute dann?
Eine große Zahl von hauptsächlichen männlichen Arbeitnehmern aus den ländlichen Gegenden Japans strömt in die großen Städte. Dort enden sie meist obdachlos, in Tokyo sieht man häufig ihre blauen, selbstgebauten Zelte in den Straßen. Sie versuchen, mit Taglöhnerjobs zu überleben.
Im letzten Jahr gab es auch Proteste von jungen Leuten, die von den prekären Arbeitsverhältnissen betroffen sind.
Das ist ein relativ neues Phänomen: Seit einigen Jahren bekommen auch junge und gut ausgebildete Menschen die schlimmen Zustände auf dem japanischen Arbeitsmarkt zu spüren. Die Arbeit, die ihnen angeboten wird, ist häufig befristet oder nur ein Teilzeitjob, von dem man kaum überleben kann. In Japan werden sie deshalb „Freeters" genannt, das ist eine Wortschöpfung aus dem englischen „free" und dem deutschen Wort „Arbeiter", das in Japan immer für jemanden stand, der keine Festanstellung hatte, sondern von schlecht bezahlten Jobs überleben muss.
Wo leben die jungen Freeters? Auch auf der Straße?
Mit den Freeters ist ein neues Phänomen in Japans Großstädten verbunden: das der so genannten „Internet-Flüchtlinge". Eine zunehmende Zahl von Leuten, meist in den 30ern, lebt tatsächlich in Internet-Cafés: Sie schlafen dort auf Stühlen, versuchen am nächsten Morgen übers Internet einen Job für den Tag zu finden und kehren am Abend ins Internet-Café zurück. Diese Leute gelten als „unsichtbare Obdachlose" und weil ihre Zahl ständig zunimmt, bieten Internet-Cafés inzwischen häufig auch Duschen an oder verkaufen Wäsche aus zweiter Hand.
Anmerkung:
2008 wird der G8-Gipfel auf Hokkaido stattfinden, der nördlichsten Insel Japans. Dort treffen sich vom 7.-9. Juli die Staatschefs der acht Länder im Windsor Hotel am See Toya. Themen des Treffens werden laut Ankündigung des japanischen Premierministers Yasuo Fukuda Klimawandel und Afrika sein.
Der Text ist in an.schläge - das feministische Magazin (Mai 2008) erschienen.
z-ac dankt für die freundliche Genehmigung zur Übernahme des Artikels.
[http://www.z-ac.de/content/view/284/4/]