2008-05-04 

Die Normalität des Bösen

Am 11 März 2008 haben die Staatsanwälte Petruzziello ud Ranieri Miniati ihre Strafanträge für die 45 Angeklagten im Bolzaneto-Verfahren verlesen: Die geforderten Strafen belaufen sich in der Summe auf ungefähr 76 Jahre, wobei nur für 15 Angeklagte die Schwelle der Bewährung (2 Jahre) überschritten wird. Nur bei 8 von diesen 15 kommt wiederum das Straferlassgesetz nicht zu tragen. Selbst unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Zustände, die in Bolzaneto herrschten, beträgt das für die übrigen 30 geforderte Strafmaß jeweils ein Jahr oder weniger betragen – das haben die Staatsanwälte so gesagt. Das Problem ist, dass es nichts Besonderes an Bolzaneto gibt, außer, dass das, was sich dort zugetragen hat im Wesentlichen der Öffentlichkeit bekannt ist.

Bild: Genova G8

Die Kaserne der VI Abteilung der genuesischen Bereitschaftspolizei in Bolzaneto war im Juli 2001 eine von zwei Gefangenensammelstellen, die man vorgesehen hatte, um in Gewahrsam genommene Personen und Verhaftete bis zu ihrer Verbringung in Haftanstalten (bzw. bis zu ihrer Entlassung im ersten Fall), aufzunehmen. Die andere Stelle war Forte San Giuliano, eine Kaserne der Carabinieri. In Bolzaneto wurde eigens ein Gebäude errichtet, in das die im Dienste der öffentlichen Ordnung operierenden Sicherheitskräfte die Festgenommenen verbringen sollten, um die dort den anwesenden Männern der Digos und der MEK, mit denen sie die Verhaftungs- bzw. Ingewahrsamnahmeprotokolle redigieren sollten. Zur Registrierung, medizinischen Untersuchung und Verbringung in die Haftanstalten von Pavia, Voghera und Vercelli sollten die Festgenommenen anschließend der Gefängnispolizei übergeben werden.

Wie mittlerweile jeder weiß, wurden die Menschen in Bolzaneto in Wirklicheit bereits bei der Ankunft einer gewalttätigen und demütigenden Art Vergeltung ausgesetzt, einer Art Rache, bei der sich die Ordnungskräfte sich faktisch als Gegner der Demonstranten auswiesen. Das ist die erste Verdrehung, die man häufig versucht zu schüren, um die Dinge, die sich in der Kaserne ereigneten, zu bagatellisieren: durch keine der Personen, die sich dort im Zustand „eingeschränkter Freiheit“ befanden, sind Gewalt- oder Widerstandshandlungen ausgegangen, weshalb die feige und niederträchtige Entscheidung, Gewalt auszuüben, statt seinen job zu machen einen einzige und klar definierten Ursprung hat. Die Personen wurden zuerst im Hof umzingelt, beschimpft, bedroht und geschlagen, dann wurden sie in den Büroräumen der Digos und des MEK zum Zweck der Erzwingung der Unterzeichnung von Protokollen, die auch für Ausländer in italienischer Sprache verfasst waren, bedroht und geschlagen. Bei jedem Transfer von den Zellen in die Büros und umgekehrt mussten sie zwischen zwei Flügel Beamter hindurch, die damit fortfuhren, Tritte und Fausthiebe zu setzen, Beine zu stellen, Beleidigungen auszustoßen und zu bespucken. In den Sicherheitszellen durften die Personen nicht sitzen, sie mussten mit dem Gesicht zur Wand im Stehen verbleiben, mit erhobenen Aren und gespreizten Beinen, so, dass etliche wegen der erzwungenen Körperhaltung Zusammenbrüche erlitten und auch mittel- und langfristige Folgeschäden davon trugen - ganz ohne Berücksichtigung der
körperlichen und verbalen Gewalthandlungen. Nicht ohne Durchführung erkennungsdienstlicher Behandlung durch die Kriminaltechnische Abteilung (wo sich jedoch keine Gewaltvorfälle ereigneten) wurden die nur vorübergehend festgenommenen Personen auf freien Fuß gesetzt, während die Verhafteten der Gefängnispolizei übergeben wurden, durch die die Behandlung in den Zellen fortgesetzt wurde: Verbot, die Toilette aufzusuchen oder die Begleitung dorthin unter Zufügung von Gewalt und Demütigungen; Grundlose Gewalthandlungen; Permanente Drohungen und Einschüchterungen. Aus den Zellen wurden die Gefangenen zur Aufnahme und Registrierung in die Haftanstalten verbracht, ohne dass ihnen erlaubt wurde, Angehörige oder Botschaften ihrer Länder zu unterrichten. Im selben Zimmer wurden sie daraufhin durchsucht und medizinisch begutachtet, wobei Beamte und Ärzte gewaltsam und spöttisch mit ihnen umgingen. Schließlich kehrten die Gefangenen zurück in ihre Zellen, um dann in die Haftanstalten verbracht zu werden – einige von ihnen nach mehr als 30 Stunden Aufenthalt in der temporären Anstalt ohne Wasser und Nahrung. Für viele stellte die Ankunft in der Haftanstalt praktisch eine Befreiung dar.

Für all das hätten die Staatsanwälte auf den Tatbestand der Folter abstellen wollen, der in Italien aber nicht existiert, obwohl das Land Mitunterzeichner der UNO-Folterkonvention von 1989 ist, nach der die unterzeichnenden Länder verpflichtet sind, deren Inhalt in gesetzliche Regelungen zu verankern: zwanzig Jahre später ist keine Regierung in der Lage gewesen, diese Aufgabe zu Ende zu bringen. Von diesem Manko abgesehen, haben die Staatsanwälte beschlossen, die sogenannten Spitzenränge, also die Leiter des Verwaltungsbüros, der Kaserne, der Krankenstation, des Verbringungsdiesnstes und der Zellenaufsicht zu identifizieren und diese mit härteren Strafen zu belangen. Sie haben, kurzum, befunden, dass ihre Rolle im Sinne der Verantwortlichkeit und Gewährleistung von größerem Gewicht gewesen sei und dass sie daher mit größerer Strenge zu behandeln seien. Den formalen Verantwortlichen für die Sammelstelle, Alfonso Sabella (heute selbst Staatsanwalt), der diese seinerzeit sehr wohl aufgesucht hatte und um so mehr einer Gewährleistungsfunktion gegenüber jene, die durch diesen Ort geschleust wurden, verpflichtet war, haben die Staatsanwälte beschlossen, aus der Riege der Spitzenränge auszuklammern. Die Kastensolidarität kennt halt keine Grenzen. In Bezug auf die mittleren Ränge und die einfachen Beamten, die bei den „Behandlungen“ die tatsächlichen Akteure waren, haben die Staatsanwälte wiederum befunden, dass sie lediglich für Episoden verantwortlich seien, die in den Kontext eines Klimas der Straffreiheit zu stellen seien, das ihren Vorgesetzten zuzuschreiben sei. Eine Ausnahme stellen jene Beamte dar, die eindeutig als Vollzieher einzelner besonders grausamer Handlungen identifiziert und wieder erkannt wurden: Pigozzi, zum Beispiel, der je zwei Finger eines Verhafteten (AG) packte, um diese bis zur Herbeiführung einer Verletzung auseinander zu reißen.

Im Endergebnis kommt es zu einem Gesamtstrafantrag von 76 Jahren (wobei die Gerichte häufig zu geringeren Strafen als von der Staatsanwaltschaft gefordert verurteilen), einem einzelnen Antrag auf Freispruch und 29 Tatbestände, die kurz vor der Verjährung stehen und grundsätzlich unterhalb der Bewährungsschwelle liegen.

Alle glücklich und zufrieden? Ich würde sagen, nein, aus mindestens zwei Gründen (und einer Myriade trivialerer Gründe): Erstens entsprechen diese Strafanträge nicht einmal der Hälfte der Strafmaße, die für die 25 Personen, die beschuldigt wurden, an den Auseinandersetzungen des Tages Teil genommen zu haben beantragt und verhängt wurden. Dabei war die Grundhaltung der Staatsanwälte gegenüber den Beschuldigten durch geradezu überzogene Vorsicht und Gewährleistungswut gekennzeichnet, so sehr, dass sie sich immer und überhaupt für Freispruch ausgesprochen haben, wenn es keinen ultimativ sicheren Beweis für einen Vorfall und die Identifizierung eines Beschuldigten als Verantwortlichen für den selben gab (wobei festzuhalten bleibt, welch exzellente Arbeit die Staatsanwälte in dem schwierigen Klima geleistet haben, das immer mit Verfahren gegen Ordnungskräfte einhergeht). Nicht, dass irgendwer interessiert sei, dass diese Personen Tausend Jahre in Haft verbringen. Es ist aber so, dass ein härteres Urteil in einem Fall wie diesen, wo wir doch kurz vor der Verjährung stehen, ein stärkeres Zeichen seitens der Staatsanwaltschaft im Verhältnis zu dem gestzetzt hätte, was schon geschehen ist und jeden Tag wieder geschieht (siehe unten). Es ist leicht zu verstehen, dass jeder, der in Bolzaneto gewesen ist, und nicht zur Anzeige gebracht hat, was dort stattfand, unlauter gehandelt hat und sich zum Mitverantwortlichen für das Geschehene gemacht hat. Man setze die Lager, in denen die Desaparecidos in Argentinien gehalten wurden an Stelle von Bolzaneto in die Gleichung ein, und man wird sehen, dass die Rechnung aufgeht.
Die Justiz aber macht sich nur dann zur Gewährleistenden der Beweislast, wenn die Straftat von jenen verübt wurde, die in den Rängen der Macht sind: für die 25 Personen, die wegen den Auseinandersetzungen in den Straßen beschuldigt wurden, gab es keine Skrupel, weder bei der Feststellung der begangenen Straftaten, noch bei der Wahl eines sinnhaften Anschuldigung: es mussten exemplarische Strafen her, und man hat die dafür nötige Straftat verwendet - auch ungeachtet der Tatsachen. Die bittere Schlussfolgerung lautet, dass es besser ist, als Untergebener hunderte von Menschen zu foltern, als zwei Scheiben zu zerschlagen oder ein Paar Steine zu werfen: im ersten Fall kriegst Du 10 Monate und bist frei, im zweiten Fall kommst Du für 10 Jahre in den Knast.

Autor: Blicero

Quelle: http://www.carmillaonline.com/archives/2008/03/002571.html