2004-02-14
(06.02.2004) Vortrag, den der Autor in den Räumen der RLS Sachsen zur Vorstellung seines Buches »Gegner der Globalisierung? Protestmobilisierung zum G8-Gipfel in Genua« gehalten hat.
Nach der »Battle of Seattle«– den von gewaltsamen Zusammenstößen begleiteten Demonstrationen gegen die Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 1999 – war Genua ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung und der medialen Aufmerksamkeit für die sogenannten »Globalisierungsgegner«.
Zwischen 100 000 und 300 000 Menschen – die Angaben darüber schwanken – demonstrierten vom 20. bis 22. Juli 2001 während des Treffens der Regierungschefs der »G8« – der reichsten Industrieländer und Russlands – in der italienischen Stadt gegen Kapitalismus, für Schuldenerlass und überhaupt gegen die vielen Ungerechtigkeiten dieser Welt. Es gab mehrere Demonstrationen, einen »global action day«, einen riesigen Gegengipfel. Es gab Gewaltexzesse der Polizei, die ein Maß erreichten, wie es in Italien seit den 70er Jahren nicht mehr erlebt worden war, es gab einen toten Demonstranten – von einem Carabiniere erschossen und vom Polizeijeep überrollt – und es gab den bösen »black bloc«, der Banken, Geschäfte, Häuser, Autos – Nobelkarossen wie auch Kleinwagen – mit Steinen bewarf und anzündete. Alles in allem also ein Aufsehen erregendes Ereignis.
In der noch recht spärlichen und bisher größtenteils auf ad-hoc- Deutungen und Innenansichten basierenden Fachliteratur wird von dieser »Bewegung der Bewegungen« eher im Plural gesprochen. Sie seien ein »Sammelsurium« (Rucht 2001), ein »bunter Haufen« mit »zum Teil ganz konträren Zielsetzungen« (Leggewie 2000: 3), »zu unspezifisch (...), um eine eigene Identität und Trennungslinien gegenüber den Gegnern zu markieren« (Rucht 2001).
Wenn dem tatsächlich so ist, stellt sich natürlich die Frage, wie so große und Aufsehen erregende Proteste praktisch organisiert werden können. Worin besteht das einigende Band oder die – für eine gelingende Protestmobilisierung doch von so vielen Autorinnen und Autoren für notwendig erachtete – Identität der »Globalisierungsgegner « Genannten? Oder – konkreter auf die »Bewegung der Bewegungen« bezogen –: Welche Gemeinsamkeiten haben die »lose verknüpften, teils völlig unverbundenen Gruppen« (Rucht 2001), welche Differenzen müssen sie aushalten, und wie wird dies konkret bewerkstelligt?
Vielfalt
Zur Schilderung des bunten Protestspektrums seien hier drei Beispiele aus Protestaufrufen zitiert.
Die christliche Kampagne »Erlassjahr 2000« rief mit folgendem Text zum Protest: »In Genua findet der nächste G7 Gipfel statt und dort müssen wir zum Ausdruck bringen, dass wir mit den bisherigen Entschuldungsmaßnahmen nicht zufrieden sind: Entschuldung muss weitergehen! (…) Genua ist eine Stadt, die langgezogen am Ligurischen Meer liegt und in deren Rücken nach wenigen Kilometern die Berge anfangen. Sie hat eine kleine, touristisch attraktive Altstadt mit sehr engen Straßen und Gässchen, die Schutz vor der im Juli sicherlich heißen Sommersonne bieten. Daneben gibt es einige große, breite Straßen und eine Vielzahl an Museen und historischen Gebäuden. «
Nicht so touristisch klingt dagegen das italienische anarchistische Netzwerk: »Vom 20. bis 22. Juli werden sich in Genua/Italien die G8 treffen. Dieses Treffen der Mächtigsten ist eine spektakuläre Darstellung der Tendenzen zu einer nie zuvor gesehenen Konzentration der politischen und ökonomischen Mächte der Welt. Der sogenannte Globalisierungsprozess wird weiterhin die Welt in Reich und Arm teilen, die Bevölkerung ganzer Kontinente aushungern, innerhalb einzelner Nationen ganze Bevölkerungsschichten marginalisieren, alle Arten von Jobs gefährden, und dort, wo diese bestand, jede Form sozialer Sicherheit eliminieren. All dies im Namen des Profits und der kapitalistischen Akkumulation ohne Normen oder Grenzen. Gleichzeitig wird die soziale Kontrolle innerhalb einzelner Staaten und auch durch internationale Repressionsapparate wie Polizei und Militär verstärkt. Wir müssen uns gegen all dies wenden.«
Und noch offensiver ist der Schlachtruf der Antifa (M) aus Göttingen: »smash capitalism! Fight fortress europe!«
Hier zeigt sich, dass innerhalb eines Protestevents heterogene Inhalte vertreten werden und auch ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen – und das in jeder Hinsicht.
Referentinnen und Referenten beim Gegenkongress
Organisation/Thema bzw. Funktion und Anzahl ReferentInnen
Entschuldung 8
Attac 8
Friedensbewegung 6
Umweltbewegung 5
christlich 4
Gewerkschaften 4
Bauern 4
nationale Befreiungsbewegungen/Indigenas 4
Kinderrechte 3
WTO/WB-Kampagnen 3
Demokratische Juristinnen und Juristen 2
Europäischer Föderalismus 2
Menschenrechte, allgemein 2
Migrantinnen und Migranten 2
Gesundheit, AIDS 2
Drogenlegalisierung 1
Arbeitslosenbewegung 1
Homosexuelle 1
Professorinnen und Professoren, Dozentinnen und Dozenten 11
Politikerinnen und Politiker (ehemalige & aktive) 5
Autorinnen und Autoren/Journalistinnen und Journalisten 2
Summe 80
Allein die thematische Vielfalt ist erstaunlich. Die Auszählung der Veranstaltungen auf dem Gegenkongress »Public Forum Another World Is Possible« (Öffentliches Forum Eine andere Welt ist möglich) gibt einen Überblick über die Art und die Gewichtung der einzelnen Themen.1
Auch im Hinblick auf die Herkunftsländer der Beteiligten ergibt sich eine bunte Vielfalt. Erhoben wurde sowohl die Herkunft der Referentinnen und Referenten als auch die geographische Verteilung der weltweit fast 1200 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Protestaufrufs des Genueser Sozialforums (GSF). Deutlich ist in beiden Fällen die hohe Dominanz der reicheren Länder des Nordens (vor allem Europas) und Südamerikas bei gleichzeitig nur geringer Beteiligung Afrikas, der arabischen Welt, Australiens und Zentralasiens.
Bunt war das Spektrum auch in ideologischer und organisatorischer Hinsicht. Vertreten waren Parteien, Bewegungen, kleine autonomen Gruppen und Vereine. In ideologischer Hinsicht waren Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten ebenso versammelt wie Grüne, Liberale, Libertäre. Christen demonstrierten mit Materialisten, Umweltschützer mit Bauern, Antinationale mit »nationalen Befreiungsbewegungen« – die meisten jedoch vereint durch eine Selbstverortung als ziemlich »links« (vgl. Andretta et al. 2003: 200).
Zum Beispiel: Globalisierung Die detaillierte inhaltliche Auswertung von insgesamt 42 deutschsprachigen2 Mobilisierungsaufrufen illustriert die Vielfalt um ein weiteres:
Typen und Themen von Gruppen/Organisationen
Themenspezifische Gruppen/Organisationen 20
Heterogene Genua-Bündnisse 6
Gewerkschaftsbewegung 4
Globalisierung/Neoliberalismus 3
Migrantinnen und Migranten/Antirassismus 2
Dritte Welt 2
Studentinnen und Studenten 1
Umwelt 1
Kirchlich 1
Allgemeinpolitische Gruppen/Organisationen 21
radikale Linke 14
sozialistische/kommunistische/trotzkistische Organisationen. 7
nicht zuzuordnen: 1
insgesamt: 42
Dabei ist auffällig, dass sich eine Gegnerschaft zur »Globalisierung« aus höchstens 18 der 42 ausgewerteten Aufrufe ablesen lässt. Das ist weniger als die Hälfte. In der Regel wird Globalisierung in diesen Aufrufen näher definiert oder zumindest mit einem Attribut versehen. Die meisten der Äußerungen richten sich entweder gegen »neoliberale Globalisierung« oder gegen »kapitalistische Globalisierung«. Nur ein einziger Aufruf führt das Wort »Globalisierung« im Titel. Und nur in zwei Aufrufen gibt es eine klare Positionierung einfach gegen die Globalisierung.
Das heißt: Nur zwei der Gruppen konzeptualisieren Globalisierung als eine Art umfassendes System oder einen Prozess, der in Gänze abzulehnen sei. Statt dessen gibt es innerhalb der Bewegung eine interessante und zum Teil hoch elaborierte Debatte über das Wesen der Globalisierung (vgl. Lynch 1998).
Viele der Flugblätter räumen gerade diesem Anliegen – nämlich »Globalisierung« begrifflich zu klären – einen großen Raum ein. In einigen wird versucht, Globalisierung positiv zu besetzen: als »Globalisierung von unten« oder »Globalisierung von Gerechtigkeit«. Der Feind aber heißt nicht einfach »Globalisierung«. Die Masterframes – also die wichtigsten Deutungsrahmen –, unter die der Protest gestellt wurde, sind: Kapitalismus, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Herrschaft und insbesondere Neoliberalismus.
Die linken Hüter einer »unverkürzten Kapitalismuskritik« sollten dies zur Kenntnis nehmen. Denn sie werfen ja der Bewegung, deren Teil sie selbst sind oder waren, genau das vor: Sie sei einfach nur gegen Globalisierung.
Es muss, wie sich hier zeigt, sehr genau differenziert werden. »Globalisierung« ist ein umkämpfter Begriff! Und die mediengängige Bezeichnung »Globalisierungsgegner« hat mit dem Selbstverständnis der Bewegung nur bedingt zu tun.
Nun lassen die hier referierten Untersuchungen nur Aussagen über Gruppenmeinungen zu. Alle Erfahrungen sprechen dafür, dass die Meinungen der einzelnen Protestierenden davon auch abweichen. Doch die Masterframes der Mobilisierungsakteure bilden sozusagen die diskursive Möglichkeitsstruktur des Protests und damit das für die Einzelnen verfügbare ideologische Repertoire.
Die Mobilisierungsstruktur
Mit der bei den Gipfelprotesten üblich gewordenen Art und Weise, in Blöcken zu demonstrieren, die nach dem »Militanzgrad« sortiert sind, war das Heterogenitätsproblem für die Demonstration gelöst worden durch Separation. Doch schon bei der Frage der Anreise aus bestimmten Regionen drängte sich strömungsübergreifende Koordination förmlich auf – zum Beispiel, wenn es darum ging, bezahlbare Transporte nach Genua zu organisieren. Die hierbei erlebte Heterogenität der interessierten Gruppen, Parteien und Organisationen aller Art war kennzeichnend auch für alle anderen Ebenen dieser Mobilisierung – und sie war auf allen Ebenen auch ein Problem der beteiligten Akteure. Die Grundstruktur der Mobilisierung soll hier zunächst kurz skizziert werden, bevor gezeigt wird, wie mit der sich stellenden Aufgabe des Aushaltens oder Überwindens der Differenz umgegangen wurde.
In Italien fungierte das Genoa Social Forum (GSF) als Koordinator für die Demonstration, für Unterkünfte und für Organisatorisches aller Art. Und es hielt den Kontakt mit Bündnissen und Organisationen in Italien und dem Rest der Welt. Die nächste für die Mobilisierung wichtige Ebene war die nationale. Sie wurde in Deutschland repräsentiert durch das Kasseler Bündnis, das die Informationen aus Genua und von internationalen Koordinationstreffen in die einzelnen Städte und Regionen weiterleitete.
Angesichts dessen lässt sich folgende erste These formulieren:3 Die Proteste sind noch nicht so organisiert, dass sie nationale Grenzen transzendieren. Zumindest die Mobilisierung findet heute vor allem im Rahmen vorgefundener territorialer Einheiten, insbesondere des Nationalstaats, statt – sie überwindet diese aber nach und nach deutlicher als andere Bewegungen zuvor.
Des weiteren gab es Mobilisierungsbündnisse auf der regionalen und lokalen Ebene. Diese koordinierten sich untereinander maßgeblich über das bundesweite Kasseler Bündnis und über die Kommunikationswege, die vom Kasseler Bündnis initiiert worden waren. Abgestimmt wurden zum Beispiel Busse zur Fahrt nach Genua, Demonstrationsstrategien, Strategien, falls Probleme beim Grenzübertritt auftreten sollten (was vielfach auch geschah), die Besorgung von Unterkünften und anderes mehr. Der wichtigste Kommunikationsweg war die vom Kasseler Bündnis eingerichtete Mailingliste. Über diese kamen Informationen aus allen Richtungen: aus Genua, von Arbeitsgruppen des Kasseler Bündnisses, von lokalen Mobilisierungen und von beteiligten Organisationen und Einzelinteressentinnen und Einzelinteressenten.
Daher These zwei: Diese Art von Protestmobilisierung wäre ohne das Internet nicht möglich gewesen. Die technischen Möglichkeiten des Internets – vor allem die schnelle, weitreichende und unkompliziert für viele zugängliche Informationsvermittlung – unterstützten die organisatorische Vielgliedrigkeit optimal.4
Somit ergibt sich These drei: Diese immense Koordinationsleistung ist nur dezentral möglich. Neben der beschriebenen Hauptstruktur, die man nicht als hierarchische missverstehen darf, gab es ja noch quer dazu liegende Strukturen, zum Beispiel nationale und europäische Netzwerke, die selbst wieder Untergliederungen haben, die sich auf unterschiedlichen Ebenen einbrachten – so etwa das europaweite Netzwerk »Euromärsche « oder auch auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene agierende Parteien (zum Beispiel PDS). Der Mobilisierungsprozess ist also hochkomplex und nicht hierarchisch steuerbar.
Daran schließt direkt die vierte These an: Die großen organisatorischen Potenzen von Kommunikationsmedien, welche Koordination über große Distanzen hinweg ermöglichen, versetzen die Beteiligten in die Lage, besser als in direkter Interaktion Differenzen auszuhalten.
Die Aufgabe, Differenzen aushaltbar zu machen bzw. zu überbrücken oder gar völlig zu überwinden, war ohnehin gestellt. Daraus ergibt sich These fünf: Gefordert ist ein Mechanismus zur Herstellung von gewissen Gemeinsamkeiten.
Integration
Wie beim Thema »Globalisierung« gab es inhaltliche Differenzen in nahezu jedem Politikfeld. Mit dieser Heterogenität umzugehen war, wie oben schon erwähnt, eines der Hauptprobleme der Mobilisierungsbündnisse. Denn sie hatten ja nicht nur organisatorische Aufgaben, sondern mussten auch Gründe für Protest angeben. Die Frage, die sich gestellt hat, war: Wie geht man damit um, wenn die einen die G8 zu einer ökologischeren Politik oder Schuldenverringerung für die Dritte Welt überreden wollen, andere die Auflösung von WTO und Weltbank fordern, wieder andere das ganze kapitalistische System über den Haufen werfen wollen – also nicht nur die Verteilung des Reichtums, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst radikal verändern wollen?
Alle Bündnisse fanden einen Weg. Sie bedienten sich dazu eines ähnlichen Kunstgriffs, nämlich: die Heterogenität und Multiperspektivität explizit zu benennen oder gar als konstitutiv hervorzuheben.
Das Kasseler Bündnis wird mit Blick auf dieses Problem in seinem Protestaufruf ganz deutlich: »(Die) Gruppen, Organisationen und Netzwerke (…) stehen für unterschiedliche thematische und politische Ansätze und Grundüberzeugungen. Einige stellen sich gegen die Politik der G7/G8, weil sie konkrete Einzelaspekte kritisieren – wie z. B. die Verschuldung der Entwicklungsländer, die Struktur des internationalen Finanzsystems, die Praxis bei den Exportbürgschaften (Hermeskredite) oder die neue Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO). Anderen geht es um die Kritik an der neoliberalen Globalisierung insgesamt. Und wieder andere sehen das Handeln der G7/G8 vor allem in den kapitalistischen Prinzipien von Gewinnmaximierung und totaler Verwertbarkeit begründet – deshalb nehmen sie Genua zum Anlass, eine globale herrschaftskritische Bewegung zu stärken.«
Es gab eine lange Auseinandersetzung, bis man sich auf diese Formulierungen geeinigt hatte. Die beiden Antipoden des Bündnisses – das waren »Schöner Leben Göttingen« (eine herrschafts- und kapitalismuskritische Gruppe) und WEED, eine etablierte Nichtregierungsorganisation (NGO) – wurden beauftragt, letzte Unklarheiten zu beseitigen und sich auf einen Text zu einigen. Die explizite Vorgabe des Bündnisses war dann eben jene Nebeneinanderreihung der verschiedenen Perspektiven.
Das Leipziger Bündnis formulierte ganz ähnlich: »Unter dem Motto ›Gegen Ausbeutung und Unterdrückung‹ wird eine gemeinsame Mobilisierung inklusive Fahrtmöglichkeit nach Genua organisiert. Wir sind uns unserer unterschiedlichsten Ansätze und Perspektiven bewusst, und diese Vielfältigkeit wird auch in den Beiträgen dieser Webseite deutlich. Deshalb entsprechen die einzelnen Beiträge nicht unbedingt der Auffassung des Bündnisses.« Die beiden Beispiel zeigen etwas, das auch für den internationalen Aufruf des GSF gilt: Es wird eben nicht versucht, eine klare ideologische Linie zu erreichen – was allerdings eine gewisse inhaltliche Konturlosigkeit zum Preis hat.
Die Bewegung und die Linke
Diese Konturlosigkeit ist besonders für die radikale Linke problematisch. Denn in diesem Sammelsurium von Organisationen, Gruppen und Bewegungen krankt an einigen Positionen, zum Beispiel an den bei weiten Teilen von ATTAC etablierten etatistischen Politikvorstellungen (vgl. Seibert 2003). Diese sind geleitet von einem Grundvertrauen in den Staat, der nur von den Richtigen gelenkt werden müsse. Diese Leute wiederholen den Irrtum der linken Grünen. Ebenso gibt es bei Teilen von ATTAC und Co. eine Konzentration auf die ohne jeden Zweifel offensichtliche Ungleichheit der Reichtumsverteilung – wohlgemerkt: der Verteilung –, jedoch geht dies nicht einher mit einer Kritik an der Totalität der gesellschaftlichen (Re-)Produktion des Kapitalismus.
Ein weiterer Kritikpunkt: In gut gemeinten Ideen zur Wahrung irgendwelcher imaginierter Kollektivrechte von Völkern verstecken sich manchmal reaktionäre Vorstellungen von Zwangsidentitäten, wie eben der nationalen (vgl. Kendler/Ullrich 2004). Die Antirassismus- Konferenz in Durban im September 2001 – auch sie ein wichtiges Event für viele Akteure der Globalisierungskritik – zeigte beispielhaft, wo das auch hinführen kann. Bei aller berechtigten Kritik an Israel wurde hier die Grenze zum Antisemitismus überschritten, weil Israel zum scheinbaren Grundübel und Hauptproblem der Welt stilisiert wurde, indem auf einem Rassismuskongress hauptsächlich über Palästina geredet wurde, als gäbe es sonst keine Probleme. All das sind aber wohl Schwächen der Globalisierungskritik, nicht jedoch feste Ideologie.
Zu Zeiten der Genuamobilisierung gab es breite Bündnisse, die all diese Ambivalenzen thematisieren konnten. Aber die antikapitalistische Linke hat sich weitgehend aus solchen breiten Bündnissen zurückgezogen – und dies, obwohl diese Bündnisse Handlungsfähigkeit demonstriert hatten, während in anderen Auseinandersetzungen zum Beispiel um die Bewertung Israels und des Nahostkonfliktes schon lähmende identitäre Auseindersetzungen dominierten (vgl. Ullrich 2002). Das lag zum einen an mangelnden Kapazitäten der Gruppen, die zu kontinuierlicher Netzwerkarbeit nicht in der Lage sind. Zum anderen lag es jedoch auch daran, dass diese Linke die Globalisierungskritikerinnen und Globalisierungskritiker und die von ihnen mitgetragene Bewegung gegen den Irakkrieg nur als einen monolithischen Block wahrnehmen konnte. So sahen einige statt der offensichtlichen antiamerikanischen Tendenzen eine antiamerikanisch- antisemitische Einheitsfront marschieren – und das ist völlig irrig.
Hinter einer solchen Sichtweise verbirgt sich ein Grundirrtum. Die Linke – und das betrifft gerade viele ihrer als Materialisten auftretenden Vertreter – misst soziale Bewegungen stärker an ihren Ideologien als an ihrer realen Wirkung.
Soziale Bewegungen beeinflussen aber die politische Agenda. So zeigt die Globalisierungskritik mindestens dies: dass auch nach dem postulierten »Ende der Geschichte« von vielen Menschen eine andere, bessere Welt für möglich gehalten wird. Die Linke hat nur durch reale soziale Bewegungen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Intervention, zum Mitbestimmen der Richtung. Bewegungen mit progressivem Anspruch sollte die politische Linke nicht als gut oder schlecht zu bewertende Objekte sehen, sondern als ein window of opportunity. Und umgekehrt brauchen Bewegungen, die nicht absorbiert werden wollen, die Linke, denn sie besitzt Erfahrung in der Konfrontation, in Techniken der Subversion, in der Radikalisierung von Protest und einen inhaltlich fundierten Blick auf die soziale Gesamtheit. Sie ist die »organisatorische Verdichtung der sozialen Bewegungen« (Jan Zofka). Nach Genua sind viele Linke ausgestiegen, beteiligen sich nicht mehr am globalisierungskritischen Diskurs und haben so eine wichtige gesellschaftliche Interventionsmöglichkeit aufgegeben.
Offen bleibt, ob wieder ein so breiter linker Diskussionszusammenhang entstehen kann, wie er zur Genuamobilisierung vielerorts existierte. Versuche, die aber nur zum Teil erfolgreich waren, gab es während des Irakkrieges. Vielleicht ist die immer populärer werdende Sozialforen-Bewegung eine neue Möglichkeit; sie muss ihre Arbeitsfähigkeit aber noch in der Umsetzung konkreter Projekte auf der lokalen Ebene und im Aufbau von europaweiten und internationalen Strukturen, die über pathetische Wir-Inszenierungen hinausgehen, beweisen.
Peter Ullrich – Jg. 1976, Kulturwissenschaftler/ Soziologe, promoviert im PHD-Studiengang »Transnationalisierung und Regionalisierung « am Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig zum Thema »Politik und Identität. Zur Soziologie linker Identität in Deutschland«; verschiedene Veröffentlichungen zu sozialen Bewegungen sowie zum Nahostkonflikt und seiner Rezeption in Deutschland. Kontakt: ullrich@uni-leipzig.de, 0341-9731200.
Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 6. November 2003 in den Räumen der Rosa-Luxemburg- Stiftung Sachsen zur Vorstellung seines Buches »Gegner der Globalisierung? Protestmobilisierung zum G8-Gipfel in Genua«, Hochschulschriften der Rosa-Luxemburg-Stiftung Bd. 6, Leipzig, Schkeuditz: GNN, gehalten hat. Im Anschluß fand eine Podiumsdiskussion mit Mitgliedern des damaligen Leipziger Genua-Mobilisierungsbündnisses statt.
1 Zur Tradition der Gegengipfel vgl. Pianta (2001).
2 Es handelt sich dabei nicht ausschließlich um Aufrufe aus Deutschland, sondern auch um in deutscher Sprache veröffentlichte Flugblätter und Internetseiten von ausländischen Gruppen und internationalen Bündnissen.
3 Hier wird von Thesen gesprochen, weil vorrangig die Genua-Mobilisierung systematisch untersucht wurde. Es gibt viele Parallelen zu anderen Protesten, aber noch keine vergleichenden Untersuchungen.
4 Vgl dazu Ayres (1999) und Naughton (2001). Allerdings sollte man nicht vergessen, daß die Zugangsbarrieren in verschiedenen Ländern sehr variieren. Nicht zufällig ist Afrika sowohl bei den Protesten als auch ganz allgemein im Internet deutlich unterrepräsentiert (Schulz 2000). Somit wird das Internet auch zum Ausschluß produzierenden Medium.
Literatur
Andretta, Massimiliano; Donatella della Porta; Lorenzo Mosca; Herbert Reiter (2003): No Global – New Global. Identität und Strategien der Antiglobalisierungsbewegung, Frankfurt, New York.
Anheier, Helmut; Marlies Glasius; Mary Kaldor (Hrsg.) (2001): Global Civil Society 2001, Oxford.
Ayres, Jeffrey M. (1999): From the Streets to the Internet: The Cyber-Diffusion of Contention, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 566, pp. 132-143.
Gerhards, Jürgen; Dieter Rucht (1992): Mesomobilization Contexts: Organizing and Framing in Two Protest Campaigns in West Germany, in: American Journal of Sociology 98 (3), pp. 555-589.
Leggewie, Claus (2000): David gegen Goliath: Seattle und die Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B48, S. 3-4.
Lynch, Cecilia(1998): Social Movements and the Problem of Globalization, in: Alternatives 23, 2. pp. 149-173.
Naughton, John (2001): Contested Space: The Internet and Global Civil Society, in: Helmut Anheier, Marlies Glasius, Mary Kaldor (Hrsg.), pp. 147-168.
Pianta, Mario (2001): Parallel Summits of Global Civil Society, in: Anheier, Helmut; Marlies Glasius; Mary Kaldor (Hrsg.), pp.169-194.
Rucht, Dieter (2001): Zwischen Strukturlosigkeit und Strategiefähigkeit. Herausforderungen für die globalisierungskritischen Bewegungen, in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit 12, Dezember, S. 358-360), http://www.dse.de/zeitschr/ez1201-6.htm (19. 12. 2001).
Seibert, Thomas (2003): The People of Genova. Plädoyer für eine Postavantgardistische Linke, in: Sand im Getriebe 26 (8. 10. 2003).
Schulz, Markus S. (2000): Die dynamischen Netze der Öffentlichkeit. Struktur, Dynamik und Effektivität politischer Telekommunikation, in: Otfried Jarren, Kurt Imhof, Roger Blum (Hrsg.): Zerfall der Öffentlichkeit?, Wiesbaden, S. 266-281.
Ullrich, Peter (2002): Projektionsfläche Naher Osten. PalästinenserInnen, Israelis und die deutsche Linke bei der Selbstzerfleischung, in: Kultursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente 2-02, S. 109-125.
Ullrich, Peter (2003): Gegner der Globalisierung? Protest-Mobilisierung zum G8-Gipfel in Genua, Hochschulschriften der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen Bd. 6, Leipzig/ Schkeuditz: GNN.
Ullrich, Peter (2003)a: Bounded Identity und Frameanpassung – Die Mobilisierung nach Genua, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2-03, S. 127-132.
Ullrich, Peter (2003)b: Gipfel der Heuchelei. Die »Globalisierungskritiker« und der Weltgipfel von Johannesburg, in: Allmendinger, Jutta (Hrsg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002. 2 Bände + CD-ROM. Opladen: Leske + Budrich., Vorab online http://www.attac-netzwerk.de leipzig/allg/material/VortragJobg.pdf (23. 11. 2002).
Walk, Heike; Nele Boehme (Hrsg.) (2002): Globaler Widerstand. Internationale Netzwerke auf der Suche nach Alternativen im globalen Kapitalismus. Münster.
Walk, Heike (Hrsg.) (2002): Transnationale Aktionsnetzwerke. Chancen für eine neue Protestkultur? (Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 15, 1). Stuttgart.
in: UTOPIE kreativ, H. 160 (Februar 2004), S. 165-173
aus dem Inhalt
Essay KLAUS WEBER Strafe und Ausgrenzung statt Hilfe und Integration? Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven der Sozialen Arbeit in der Resozialisierung Gesellschaft: Analyse & Alternativen MAX KOCH Der nordirische Friedensprozess vor dem Hintergrund der Theorie der sozialen Schließung; DIETMAR WITTICH Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Eine empirisch-soziologische Annäherung Alternative Wirtschaftstheorien ULRICH BUSCH Alternative Geldtheorien und linker Geldfetischismus; JÜRGEN LEIBIGER Arbeitszeitverkürzung und Perspektiven der Freizeit Standorte PETER ULLRICH Die Genuamobilisierung und Lernmöglichkeiten für das Verhältnis der Linken zu sozialen Bewegungen Bücher & Zeitschriften Andreas Malycha (Hrsg.): Geplante Wissenschaft. Eine Quellenedition zur DDR-Wissenschaftsgeschichte (WOLFRAM ADOLPHI): Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983 (FRANK WAGNER); Franca Wolff: Glasnost erst kurz vor Sendeschluß. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens (1985–1989/90) (KLAUS MELLE); Hermann Gellermann: Stefan Heym. Judentum und Sozialismus. Zusammenhänge und Probleme in Literatur und Gesellschaft (MARTIN GEGNER); Klaus Körner: »Die rote Gefahr«. Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950–2000 (JÖRN SCHÜTRUMPF); AG Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2003 (ULRICH BUSCH); Alex Demirovic (Hrsg.): Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie (SARAH DELLMANN); Joachim Bischoff, Klaus Steinitz (Hrsg.): Linke Wirtschaftspolitik. Bilanz, Widersprüche, Perspektiven (GÜNTER KRAUSE)
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(06.02.2004) © 2008. Alle Rechte liegen bei den AutorInnen bzw. bei den Publikationen/Verlagen