2008-04-13 

Pseudopunks üben den Widerstand

Der Nato-Gipfel in Bukarest war für alle eine gute Übung. Man versuchte zu demonstrieren, während Polizisten zum ersten Mal mit Gipfelprotesten konfrontiert wurden. Das alles ging mit Brutalität und wenig Inhalten über die Bühne.

von Wasja Budei

Als sich 1949 zehn westeuropäische und zwei nord­amerikanische Staaten zum Nordatlantischen Militärbündnis zusammenschlossen, hätten die Mitglieder nicht im Traum daran gedacht, einmal in einem zum Warschauer Pakt gehörenden Land zu tagen. Das damalige Hauptziel, die Verhinderung eines Angriffs der Roten Armee möglichst weit im Osten, wurde erreicht. Die Rote Armee gibt es schon lange nicht mehr und der Oberbefehlshaber ihrer Nachfolgerin wird zum Dinner eingeladen.

Bild: Bukarest

Bukarest hat sich herausgeputzt für die Nato-Party in der vergangenen Woche im Palast des Volkes. Auf den Magistralen flatterten an jeder Laterne die blauen Fahnen der Nato. Blau waren auch die neuen Uniformen der Polizei und Gendarmerie. Hier ein Wasserwerfer, da ein Militärschlauchboot. Rumänien wollte ein guter Gastgeber sein. Das trifft auch für die linke Szene zu, die sich in der vergangenen Woche zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentierte.
»Ihr seid hier nicht in Deutschland, hier läuft das anders.«

Karla begegne ich beim ersten Treffen in der riesigen, leeren Fabrikhalle, in der die Anarchisten residieren. Rund 15 junge Leute sind gerade dabei, den Boden zu putzen und Betten zu bauen. Vor dem Gipfel wurde in den Zeitungen viel über »die Anarchisten« geschrieben, was hier einfach als Synonym für »politische Aktivisten« benutzt wird. Die jungen Leute in der Fabrikhalle würden sich, genauso wie Karla, nicht explizit als Anarchisten bezeichnen. »Die Ideen des Anarchismus sind gut und die Ablehnung von Autorität, Nationalstaatsgeschrei und Machismus ist Konsens«, sagt sie. »Ich erinnere mich noch an die Fernsehbilder vom Gipfel der World Trade Organisation im Jahr 2000«, erzählt die junge Frau aus Tschechien. »Damals saß ich in Prag vor dem Fernseher und war schockiert, fragte mich, wer diese randalierenden Anarchisten seien und was sie wollten.« Später radikalisierte sie sich: »2005 während meines Studiums in Frankreich nahm ich an den Studenten- und Gewerkschaftsdemos teil. In Paris waren mehr als eine halbe Million Menschen auf der Straße.«

Beim zweiten Treffen sind rund 30 Leute anwesend. Karla hat gerade ein Semester als Erasmus-Studentin an der Universität Bukarest hinter sich. Viele ihrer rumänischen Kommilitonen in der Historischen Fakultät können die Pragerin mit gelben Dreadlocks, Bomberjacke und Schlaghose nicht leiden. Geschichtsstudenten sind hier überwiegend männlich und sehr stolz auf ihre Nation. »Geschichte hängt immer ab von Geld und Macht«, sagt Karla, die mit ihrem Antinationalismus unter den Geschichtsstundenten eine Ausnahme bildet.

Es ist mittlerweile Dienstag, ein Tag vor Beginn des Gipfels. Der Bus aus Berlin ist gar nicht erst abgefahren. Für die »Anarchisten« sind die Grenzen dicht. »Die Deutschen sind am schlimmsten«, fanden rumänische Medien schon Tage zuvor bei der Auswertung von Videomaterial über den G8-Gipfel in Heiligendamm heraus. Dennoch gelangten kleinere Politgruppen durch die Grenzkontrollen. Karla war früher etwas skeptisch gegenüber westlichen Politaktivisten. Sie zögen ihr Krawallprogramm durch, ohne besonders auf die örtlichen Verhältnisse zu achten, dachten sie und ein Großteil der rumänischen und osteuropäischen Linken. Bei einem Ausflug auf den Markt von Bukarest stellen wir fest, dass die Bewohner der rumänischen Hauptstadt den Nato-Gegnern mit gewisser Sympathie gegen­über­stehen, was vermutlich an dem Frust über »die da oben« und an den ausbleibenden sozialen Verbesserungen nach dem EU-Beitritt liegt.

Die Demonstranten aus »Germania«, wie hier Deutschland heißt, fallen durch Diskussions­disziplin und Tatendrang auf. Ihre rumänischen Mitstreiter macht das ein wenig nervös. Heute gab es die ersten Personalienkontrollen im Umfeld der Fabrik, wo einige Flugblätter mit kritischen Fragen zur Nato verteilt wurden. Wegen der fehlenden Computertechnik hierzulande hat die Personalienkontrolle mindestens fünf Stunden Aufenthalt auf der Polizeiwache zur Folge, bis die handgeschriebenen Protokolle über alle mitgeführten Gegenstände ausgehändigt und die Hinweise über die nationale Sicherheit sowie öffentliche Ordnung erteilt worden sind. Dann gibt es noch einen Streifenwagen als Begleitung für den Nachhauseweg.

Dan kommt aus der tristen Industriestadt Bacau. Er war früher einer der wenigen, die mit hochgestelltem Irokesenschnitt durch die Straßen zogen. Der ehemalige Punk bezeichnet sich mittlerweile als Anarchist. Zum Studieren ging er nach Bukarest, organisierte Punkkonzerte mit der amerikanisch-rumänischen Punkband Molotov Cocktail. Die Band entstand 1991 im legendären Punkclub CBGB in Manhattan. Die erste Rumänien-Tour organisierte Bandleader Gabi aus Bukarest im Jahr 2000.

Kurze Zeit später machten die Anarchopunks von Molotov in der rumänischen Hauptstadt das »Underworld« auf, einen linken Kellerclub. Das war der Beginn der linken Subkultur in Bukarest. Auch in Timisoara und Craiova bildete sich eine linke Szene. Sie war nicht groß und an anarchistischen Ideen orientiert. Die Musik hat immer eine große Rolle gespielt: Punkrock, Hardcore und der Widerstand gegen rechte Skinheads waren der gemeinsame Nenner unter den vielen rumänischen Bands, die in diesem Umfeld entstanden. Dan politisierte sich wie viele andere vor der Bühne, beim Flugblattdrucken und im Internet.

2003 entstand romania.indymedia.org und zwei Jahre später fight-back.ro, Foren der linksradikalen, antiautoritären und antifaschistischen Szene. Die Internetpräsenz der mit der NPD in der Europäischen Nationalen Front verbündeten Noua Dreapta (Neue Rechte) und ähnlicher rechter Organisationen war damals schon stark. Vorsorglich kauften rechtsextreme Organisationen die Adressen indymedia.ro und antifa.ro, auf denen sie sich über die wachsende linke Szene lustig machten, Namen und Fotos von Linken veröffentlichten und sich mit Taten rühmten, wie etwa der Entfernung eines Straßenschildes, das den Namen der rumänisch-jüdischen Kommunistin Olga Bancic trug, die in der französischen Résistance aktiv war und 1943 von der Gestapo als Terroristin hingerichtet wurde.

Dan kennt sich aus in den unzähligen nationalistischen Foren. Zusammen mit ein paar Freunden gründete er libertäre Gruppen, organisierte Konzerte und Veranstaltungen wie Antidiskriminierungsdemonstrationen in den vergangenen zwei Jahren, an denen rund 150 junge Menschen teilnahmen.

»Wir haben hier keine Bewegung. Wir sind einfach nur ein paar Leute. Wir haben verschiedene politische Ideen, unsere Gemeinsamkeit ist, dass wir etwas machen. Es gibt hier viele Pseudopunks, die trinken reichlich und bezeichnen sich als ›Politaktivisten‹. Viel mehr, als ständig von ›staatlicher Repression‹ zu phantasieren, tun sie aber nicht. Und sie wissen auch nicht wirklich, wovon sie reden. Ich glaube, jeder kann seinen Weg selbst wählen, und meiner führt raus aus diesem Land. Wenn meine Freundin im Sommer mit der Uni fertig ist, dann gehen wir weg.«

Als im vergangenen Jahr die Noua Dreapta gegen die Gayparade aufmarschierte, intervenierten 20 junge Leute mit Transparenten und Sprechchören. Es gab Festnahmen. Dan wurde in einer Seitengasse zu Boden gerissen und ins Gesicht getreten. Er konnte sich losreißen und entkommen. Die Polizei zeigte elf seiner Freunde wegen Landfriedensbruch an. Aufgrund solcher Erfahrungen und der persönlichen Drohungen der Polizei vor dem Gipfel blieb Dan diesmal dem Protest fern.

Am Mittwochmorgen werden Transparente vorbereitet. Der Gipfel soll um 19 Uhr beginnen. Am Tor des Fabrikgeländes tauchen Polizisten auf und verwehren den Leuten, die aus der Innenstadt oder vom Einkaufen kommen, den Eintritt.

Die Einsatzpolizei steht bereits im Hof. Die Stahl­tür im Obergeschoss wird verschlossen, die rund 70 Demonstranten versammeln sich am anderen Ende der 50 Meter langen Halle. Vor der Tür wird gebrüllt, bis sie aufknallt. Maskierte Polizisten stürmen schreiend auf die Leute zu, in den Händen haben sie Schlagstöcke aus Hartgummi und Eisen. Ihr Weg ist lang. Die Leute reißen die Hände hoch, werden zu Boden geknüppelt. Die Polizisten nehmen sich Nikita vor. »Erst schlug mir einer mit dem Knüppel auf die Fußgelenke, ich brach zusammen. Sie rissen mich wieder hoch. Ich bekam eine volle Ladung Gas ins Gesicht«, beschreibt er die Situation später.

Nikitas Schreie hallen durch den Raum. Die anderen hocken zusammengedrängt auf dem Boden, keiner wagt, sich zu rühren. Selektierend steigen die Polizisten durch die Gruppe, treten hier, schlagen dort zu, brüllen. Zwei Menschen treten sie den Kopf auf den Steinfußboden. Dann werden den Leuten die Hände auf den Rücken gebunden. Die Kabelbinder sind so fest, dass die Hände schmerzen. Jemand bittet um Lockerung. »Zu fest?«, auf eine Antwort wird nicht gewartet. Die 20jährige Paula bekommt einen Tritt in die Seite. Sie kommt aus Iasi. Dort wurde ihre Familie bereits persönlich gewarnt, Paula besser nicht nach Bukarest fahren zu lassen.

In der Halle herrscht Stille und Angst. Dann wer­den die Leute abgeführt in die Gefangenentransporter geschleift. »Ich war der Erste im Wagen. Weil ich mich weigerte, mich hinzulegen, wurde ich zu Boden geschlagen«, erzählt Nikita. Im Transporter werden einzelne herausgepickt: Ohrfeigen, an den Haaren ziehen, Drohungen, Beschimpfungen. Vor dem Tor rufen die nicht festgenommen Menschen: »Libertate!« »Ihr seid hier nicht in Deutschland, sondern in Rumänien, hier läuft das anders«, lautet die Antwort.

Nikita kommt aus Chisinau in der Republik Moldau. Er hat bei Protesten in Russland ähnliche Erfahrungen mit der Polizei gemacht, jedoch nie so brutal. Auf der Wache Nr. 12 erhält er keine medizinische Versorgung und wird bis 21 Uhr festgehalten. Vor der Wache versammeln sich gegen Abend etwa hundert Menschen: Freunde, bereits Freigelassene, Reporter und Menschenrechtler. Es ist unklar, was den insgesamt 46 Festgenommenen vorgeworfen wird. Es heißt, sie sollen eine »illegale Demonstration« geplant haben.

Nach fünf Stunden kommen die ersten Fest­genommenen frei. Im grellen Scheinwerferlicht der Kameras werden Interviews gegeben, Helsinki Human Rights Watch und die Agentur zur Be­obachtung der Presse kümmern sich um juristische Betreuung. Als Nikita als letzter aus der Wache tritt, stürzen sich die Reporter auf ihn. Dann gehen etwa hundert Demonstranten zur Wache 24 direkt im Stadtzentrum, wo noch einige wenige von ihnen festgehalten werden

So geht der Mittwoch zu Ende. Die »absolute Unterbindung« jeglichen Protests ist nicht gelungen. Vor dem Gipfel hatte ein Fernsehjournalist ein aufgezeichnetes Telefongespräch veröffentlicht, in dem der Polizeichef versicherte, mit »äußerster Härte« gegen die Anarchisten vorzugehen. Diese versprochene Härte wurde zwar angewendet, aber sie kam nicht gut an in den Medien und bei der Bevölkerung. Am Tag nach dem Einsatz in der Fabriketage machen nur zwei der großen rumänischen Tageszeitungen mit der Eröffnung des Nato-Gipfels auf, die restlichen beschäftigen sich mit dem Polizeieinsatz, den sie als »unangemessen« bezeichnen. Angesichts der Unerfahrenheit der rumänischen Polizei im Umgang mit sozialem Protest diente der Einsatz sicher auch der Übung.

Am Donnerstag wird der Transport einiger Verletzter zum Krankenhaus zur lautstarken Demons­tration, vorbei an hupenden Autos und winkenden Bauarbeitern. Auf einem der vier Trans­paren­te ist zu lesen: »Ihr habt uns die Knochen gebrochen, aber nicht unsere Ideen!« Die Verwunderung im Feierabendverkehr war so groß, dass ein Autofahrer auf den vor ihm haltenden PKW auffuhr. Die Polizei hält sich wegen des großen Medienaufgebots zurück. Auf einer Pressekonferenz erklärt sie, jedem identifizierten Demons­tranten werde ein Strafbescheid über 150 Euro wegen »unerlaubter Ansammlung« zugestellt.

»An den Protesten nehmen wir teil, weil wir unsere Freunde in Bukarest unterstützen wollen. Mit einer so brutalen Reaktion der Polizei haben wir aber nicht gerechnet. Das erinnert viele an 1989 und die darauf folgenden Studentenproteste, als die streikenden Bergleute zum Verprügeln der ›intellektuellen Feinde der Nation‹ in die Haupt­stadt gerufen wurden.« Ioana, Alina und Suzana sind aus Timisoara nach Bukarest gereist. Im Gepäck hatten sie bedruckte Taschen und T-Shirts mit kritischen Aufschriften. Damit ziehen sie durch die Einkaufsstraßen und Malls der Innenstadt.

Am Donnerstag werden viele Protestierende von Geheimdienstmitarbeitern beziehungsweise Zivilpolizisten überallhin »begleitet«. »Man kommt sich vor wie in diesen alten romantischen Spionagefilmen. Sobald du dich umdrehst, drehen sich plötzlich deine Verfolger um oder schauen auf irgendeine Wand, während sie unaufhörlich telefonieren. Wir machen uns einen Spaß daraus, sie zu fotografieren oder anzusprechen. Eine Passantin wurde ganz hysterisch und forderte die Zivis auf, uns doch endlich festzunehmen.« Die drei Frauen haben die Kunsthochschule beendet und arbeiten als freie Künstlerinnen. »Wir möchten mit politischer Kunst und Öffentlichkeitsarbeit den negativen Ruf des Feminismus hier ändern. In Rumänien wird Feminismus als Importprodukt des Westens empfunden. Wir wollen feministische Ideen ins Zentrum unserer Arbeit stellen.«

Auch die Nato wird von vielen Menschen in Rumänien als notwendiger Import auf dem Weg in die EU angesehen. Der EU-Beitritt Rumäniens 2004 hatte die Kooperation mit dem Nato-Einsatz in Jugoslawien zur Voraussetzung. Militärbasen schaffen außerdem Arbeitsplätze wie in Kogalniceanu, dem Stützpunkt der US-Airforce in der Nähe der rumänischen Hafenstadt Constanza.

Die Gipfelgegner beschäftigten sich während der Protesttage nicht nur mit staatlicher Repression, sondern am Rande auch mit dem eigentlichen Thema: der Nato. In einem Workshop zum Thema »Nato und Militarisierung« am Donnerstag wurde auch auf die Aufstiegschance besonders armer Gesellschaftsschichten in Rumänien aufmerksam gemacht. Militarisierung und Krieg wurden als strukturelle Probleme im Kapitalismus diskutiert. Am Freitag wurde vor der tschechischen Botschaft gegen das amerikanisch-tschechisch-polnische Raketenprogramm demonstriert.

Die rund hundert Menschen, die sich an den Protesten beteiligt haben, bezeichnen die vergangene Woche als Erfolg. Widerstand hat hier kaum Tradition, und den Einheimischen fehlen Beispiele, an denen sie sich orientieren können. Die Angereisten haben indes erfahren, dass es auch in Rumänien Misstrauen gegen die »große Politik« und Bereitschaft zur Gesellschaftskritik gibt.