2007-08-25
(Friday, 17. August 2007) Antiamerikanismus ist heutzutage in der so genannten Linken weit verbreitet – und auch weit darüber hinaus. Während in diversen linken Kreisen schon seit eh und je eine mehr oder minder starke amerikafeindliche Haltung vorherrscht, scheint diese Attitüde seit der Wahl George Bush’s zum Präsidenten der USA auf einen Grossteil der Gesellschaft übergeschwappt zu sein. Kaum jemand, der heute nicht eine tendenziell negative Meinung zu den Vereinigten Staaten oder ihrem Präsidenten hat, sei dies aus politischen, sozialen oder ökologischen Gründen. Und wer schon zuvor antiamerikanisch gesinnt war, steht den USA jetzt oftmals noch ablehnender gegenüber als zuvor.
Ohne Zweifel ist es arg in Mode, gegen das „böse Amerika“ und ganz im Speziellen gegen den „Idioten Bush“, wie er immer wieder bezeichnet wird, zu wettern. Meistens geht diese Haltung auch mit einer undifferenzierten, pauschalen Verurteilung aller „Amerikaner“ als rücksichtslose Kriegstreiber und egoistische Klimasünder einher. Diesen wird dann nur zu gerne der Schwarze Peter zugeschoben, wenn es darum geht, Sündenböcke für die Probleme dieser Welt zu finden. In ähnlicher Art und Weise wie gewisse Kreise in den USA den Ursprung des Terrorismus in einer Reihe von Staaten – der sog. „Achse des Bösen“ – gefunden haben wollen, will man hier sehr oft den Ursprung von Ausbeutung, Krieg und Treibhauseffekt bei den Vereinigten Staaten und ihrer Mentalität gefunden haben. Als Beispiele für die Ausbeutung der Dritten Welt werden gerne Coca-Cola, McDonalds und andere bekannte, amerikanische Grosskonzerne an den Pranger gestellt, als Beispiel für die „Kriegstreiberei“ steht der Irak- und in begrenztem Masse auch der Afghanistankrieg hoch im Kurs, während bei der Erderwärmung viel vom nicht unterschriebenen Kyoto-Protokoll und dem Verkehrsverhalten in den USA die Rede ist. Nicht zuletzt wird auch die wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft dieses Landes – nicht nur in der westlichen Welt, sondern mittlerweile fast überall auf dem Globus – sehr gerne angegriffen (von der Anglikanisierung der lokalen Sprachen über die vermehrte
Präsenz amerikanischer Firmen, besonders wenn es sich um grosse Handelsketten
handelt, bis zum verstärkten sozialen und kulturellen Einfluss „amerikanischer“
Ideen) .
Die
Kritik an gewissen Dingen, mit denen die Vereinigten Staaten und ihre Regierung
immer wieder von sich reden machen, wäre im Prinzip kein Problem. Ganz im
Gegenteil, diese Kritik ist oftmals sehr berechtigt. Selbstverständlich ist es
zu verurteilen, wenn Krieg geführt wird oder Ausbeutung stattfindet. Der
eigentliche Stolperstein, den diese Kritik darstellt, liegt in der Tatsache,
dass sie zum einen mit einer unzulässigen Pauschalisierung aller „Amerikaner“
als Bösewichte und zum anderen mit dem komplett falschen Gedanken, dass die
Übel dieser Welt alleinig der USA zuzuschreiben seien, einhergeht. Somit ist diese Kritik meilenweit von einer
fundierten, emanzipierten Position entfernt.
Die antiamerikanische Haltung ist aber nicht nur schlichtwegs personifizierend
(Probleme werden am Subjekt USA festgemacht), somit verkürzt und irreführend in
Bezug auf die tatsächlichen Ursachen der heutigen Misstände. Sie ist auch in
einem gewissen Sinne gefährlich, da sie einen Anknüpfungspunkt für
reaktionäres, nationalistisches Gedankengut darstellt. Dadurch, dass man einen
einzigen, generellen Schuldigen gefunden hat, welchem man alles anlasten kann,
ist es natürlich leicht möglich, sich erfolgreich um die unbequeme Frage nach der
eigenen Mitverantwortung an den herrschenden Verhältnissen zu drücken. Solange
sich alles auf die „bösen Amerikaner“ und ihren Präsidenten zurückführen lässt,
mag einem auch der Schluss, dass ohne die USA alles viel besser wäre, plausibel
erscheinen. Dieser Schluss ist etwa genauso zutreffend wie die Annahme, dass
durch die Beseitigung einiger bekannter „Terroristenführer“ der Terrorismus zu
stoppen sei.
Genau
diese falsche These aber bedeutet, dass man sich durch ein extremes,
einseitiges Feindbild extrem positiv auf einen angeblichen Gegenpol beziehen
kann – und hier kommt der Nationalismus ins Spiel. Es mag auf den ersten Blick
erstaunen, dass vermehrt auch (europäische) neonazistische Kreise versuchen,
ihre Standpunkte in die „Anti-Globalisierunsbewegung“ einzubringen. Bei
genauerer Betrachtung dieser Bewegung aber werden einige Positionen deutlich,
die in der Tat optimal von diesen Kreisen aufgegriffen werden können. Als
allererstes ist schon die Bezeichnung „Globalisierungsgegner“ sehr unglücklich,
da der Ausdruck „Globalisierungskritiker“ bei einem Grossteil ebendieser
Bewegung wesentlich zutreffender wäre (da Globalisierung nicht nur
wirtschaftliche Aspekte, sondern auch Internationalismus, weltweiter Austausch
etc. beinhaltet, ist ihre generelle Ablehnung nichts anderes als eine
reaktionäre, isolationistische Position). Der zweite und hier entscheidende
Punkt ist der Fakt, dass die „Anti-Globalisierungsbewegung“ oftmals einer
„Anti-Amerika-Bewegung“ gleichkommt. Die Probleme der Welt haben ihren Ursprung
in den USA, also im Ausland. Der gute Gegenpol zum „bösen Amerika“ ist dann die
eigene Nation, welche unter „importierten, ausländischen Problemen“ zu leiden
hat. Das öffnet natürlich Tür und Tor für Forderungen nach Isolationismus und
Rückbesinnung auf die „ursprünglichen Werte“ des jeweiligen „Volkes“, oder
gerade auch generell auf „Volk und Nation“. In neonazistischen Kreisen wird
dabei auch dankbar und gerne noch der strukturell antisemitische Charakter
personifizierender Kritik (wie dem Antiamerikanismus) aufgegriffen. So finden
sie schlussendlich in „den Juden“ oder in „der jüdischen Weltverschwörung“ die
Hauptschuldigen, welche angeblich die USA beherrschten.
Aber
nicht nur Neonazis beziehen sich durch das Feindbild der Vereinigten Staaten
positiv auf angebliche Gegenpole. Einer der allgemein beliebtesten davon ist
Europa. Diese anti-amerikanische, pro-europäische Ideologie ist im Regelfall
zwar nicht oder nicht derart völkisch geprägt ist wie der oben genannte
antiamerikanische Nationalismus. Trotzdem stellt sie aber doch eine Art
nationenübergreifenden Regionalismus dar, welcher jedem Nationalismus in seinem
Charakter sehr ähnelt. Europa wird hier als das Gegenteil der USA, als
fortschrittlich, humanistisch und aufgeklärt gesehen, eine Meinung, welche –
meist abgeschwächter formuliert – sehr stark verbreitet ist. Dabei wird gerne
übersehen, dass genau dieses Europa sich militarisiert, an Plänen für eine
Schnelleingreiftruppe arbeitet und an zahlreichen Kriegen mitbeteiligt war und
ist (Afghanistan, Jugoslawien etc.) oder dass es zwar gerne von Umweltschutz
redet, sich in Tat und Wahrheit aber genauso schwer tut wie andere Staaten in
der effektiven Umsetzung all dieser schönen Versprechen. Auch ist Europa ein
Paradebeispiel neoliberaler Deregularisierung etc.
Alle
diese antiamerikanischen Positionen verkennen den übernationalen Charakter der
heutigen Probleme und vor allem den übernationalen Charakter ihrer Ursprünge.
Die Missstände, unter welchen die Welt zur Zeit zu leiden hat, können unmöglich
an einzelnen Subjekten wie Ländern, Individuen oder Organisationen festgemacht werden, da dies eine klassische Verwechslung von Ursache und Wirkung wäre.
Genau das aber versucht jede verkürzte Kritik. (Besonders krasse) Ausdrücke
tiefer liegender Zwänge werden entweder komplett losgelöst von ebendiesen
Zwängen betrachtet oder aber zur Ursache erhoben, während die Zwänge zur
Wirkung degradiert werden.
Aus
diesem Grund kann keine verkürzte Kritik eine ernsthafte, progressive
Perspektive bieten, welche über punktuelle Symptombekämpfung hinausgeht. Ganz
im Gegenteil: statt eine substantielle Verbesserung herbeizuführen, führt die
praktische Umsetzung verkürzter Kritik lediglich zu einer Stabilisierung und
Stärkung der heutigen Verhältnisse. Sie halt also eine direkte systemtragende
Funktion, was von einem emanzipierten Standpunkt aus überhaupt nicht zu
befürworten ist.
Wie
bereits am Rande angesprochen, beinhalten antiamerikanische Positionen oft
Kritik an angeblich „besonders kapitalistischen“ Wesen der USA. Dabei geht es
in der Regel zum einen um die allgemeine Lebenshaltung in der USA und zum
anderen um die Politik gewisser Grosskonzerne.
Ersteres
bezieht sich auf die als rücksichtslos und egoistisch aufgefasste
„Ellenbogen-mentalität“ in den Vereinigten Staaten. Als Beispiel dafür werden
der ausgeprägte „amerikanische“ Individualismus, die militaristischen Einflüsse
in der Gesellschaft, das fragwürdige Verhältnis zu Waffen u.Ä., das Fehlen
eines Systemes sozialer Sicherheit usw. aufgeführt. Zuerst einmal muss
klargestellt werden, dass hier von „besonders kapitalistisch“ keine Rede sein
kann. Zum einen stellt „kapitalistisch“ eine neutrale Bezeichnung für eine
gewisse Wirtschaftsweise dar, was im Gegensatz zur moralischen Wertung steht,
die dem Antiamerikanismus innewohnt. Zum anderen lässt sich diese Mentalität
teilweise zwar durchaus auf gewisse Eigenheiten der kapitalistischen Ökonomie
zurückführen, von „besonders kapitalistisch“ zu sprechen ist hier aber
verfehlt, da etwas entweder kapitalistisch ist oder nicht (Es handelt sich um
gewisse objektive Bedingungen, welche entweder erfüllt sind oder es nicht sind,
daher ist eine Abstufung nicht möglich).
Bei
genauerer Betrachtung des „American Way of Life“ wird aber schnell klar, dass
sich viele seiner Elemente nur scheinbar so stark von den hiesigen
Vorstellungen unterscheiden. So zieht auch das „gute Europa“ bei der
Militarisierung mit (wie bereits erwähnt wurde) und so zeichnen sich auch die
europäischen Gesellschaften durch ein hohes Mass an Individualismus oder
Egoismus (was in den meisten Fällen tatsächlich gemeint ist) aus. Einer der
angeblichen grossen Gegensätze – die Frage nach einem System sozialer
Sicherheit – entpuppt sich sehr schnell als irrelevant, wenn man sich genauer
damit auseinandersetzt. Um 1900 entstanden, sind diese Systeme keinesfalls ein
nettes Geschenk der „guten Regierungen“ Europas an die unteren Schichten. Im
Gegenteil: ohne den Druck äusserer Umstände wären die Sozialstaaten nie
entstanden. Diese äusseren Umstände waren konkret ein erstarkendes
klassenkämpferisches Bewusstsein der Lohnabhängigen und eine zunehmende
Sympathie für sozialistische/kommunistische Ideen, also zusammengefasst eine
direkte Bedrohung der herrschenden Verhältnisse. Um einer möglichen Umstürzung
ebendieser vorzukommen, schuf die Bourgeoisie mit tatkräftiger Mithilfe der
Sozialdemokratie gewisse Strukturen: die soziale Marktwirtschaft. Diese sollte
die Klassengegensätze etwas abmildern und so gleichzeitig die bestehende
Ordnung sichern. Zwar strich eine kleine Minderheit auch weiterhin das Gros des
erwirtschafteten Reichtums ein. Ein kleiner Rest aber wurde fortan an die
Mehrheit verteilt, gerade genug um den allgemeinen Wohlstand etwas anzuheben.
Tatsächlich vermochte dies die Bedrohung durch andere Gesellschaftsentwürfe
zeitweise abzuwenden, wie man unschwer erkennen kann. Seit Anfang der
90er-Jahre jedoch, genau seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, seit der „Sieg“
des Kapitalismus über den „Kommunismus“ und in aller Euphorie sogar das Ende
der Geschichte verkündet wurde, besteht diese Bedrohung nicht mehr.
Dementsprechend gering ist das Interesse der herrschenden Klasse, diese
Strukturen aufrechtzuerhalten – was sich in der heutigen Tendenz zum
Sozialabbau widerspiegelt:
Seit
Anfang der 90er-Jahre werden die hochgelobten Sozialstaaten Europas Stück für
Stück demontiert, der Service Public privatisiert. Sollte dieser Trend so
weitergehen, wird es nicht lange dauern, bis es gar kein System sozialer
Sicherheit mehr gibt – wie in den USA. Die soziale Marktwirtschaft ist also
keineswegs eine Errungenschaft des „fortschrittlichen Europas“, welches uns vom
„bösem Amerika“ abhebt, sondern lediglich ein temporäres, taktisches
Zugeständnis der Bourgeoisie an die Lohnabhängigen. Die Einkommens- und
Vermögensverteilung der Schweiz (die ja sogar als allgemeine Wohlstandsinsel
bekannt ist) als Beispiel zeigt auf, wie gross die Gegensätze auch in Europa
tatsächlich sind: so lag das Einkommen der Hälfte aller steuerpflichtigen
Personen vor einigen Jahren unter 50’000 Franken liegt und diese
erwirtschafteten zusammen nur ca. ein Viertel der gesamten Einkommen. Noch
stärker fallen die Unterschiede beim Vermögen auf: während vor einigen Jahren
ein Drittel der Steuerpflichtigen über gar kein Vermögen verfügte, besassen 3,3
% insgesamt fast drei Viertel des gesamten Vermögens. Neuere Statistiken
belegen, dass die Ungleichheit sogar noch weiter zunimmt.
Zusammenfassend
gesehen kann man also sagen, dass die die spezifisch den Vereinigten Staaten
zugeschriebenen Missstände überall auf der Welt herrschen, oftmals aber gut
versteckt hinter der Fassade eines „sozialen Kapitalismus“.
Der
zweite grosse Punkt, welcher mit der Verurteilung der USA als „besonders
kapitalistisch“ gemeint ist, betrifft die Politik einiger bekannter
amerikanischer Grosskonzerne. Hier sind beispielsweise McDonalds oder Coca-Cola
zu nennen, die seit jeher zu den Lieblingsfeinden der „Linken“ zählen. Bevor
man sich genauer mit der Problematik solcher Verurteilungen in allgemeinem
Zusammenhang beschäftigt, muss man noch kurz auf die spezifisch
antiamerikanische Kritik eingehen: kurz und bündig gesagt ist die Lage ähnlich
wie schon bei der Frage nach Individualismus, sozialer Ungleichheit etc. Auch
wenn viele bekannte Firmen mit fragwürdigen Geschäftspraktiken ihren Sitz in
den USA haben, gibt es doch auch eine Vielzahl anderer, nicht-amerikanischer
Unternehmungen, welche auch oder zum Teil fast noch mehr Bekanntheit durch
negative Schlagzeilen zu ihrer Art und Weise zu Wirtschaften erlangten. Ein
Beispiel dafür wäre Nestlé (Ausbeutung von Kaffee- und Kakaoproduzenten),
Adidas (Ausbeutung von Arbeitskräften bei der Kleiderherstellung) etc.
Moralisch verurteilenswertes Verhalten ist also nicht im Geringsten nur auf
amerikanische Konzerne beschränkt, sondern, wie schon die anderen Misstände,
international verbreitet.
Nun
aber zum zweiten Teilaspekt, nämlich die oben angesprochene Problematik solcher
Verurteilungen in allgemeinem Zusammenhang. Dieses Thema ist wesentlich
komplexer. Wie auch der Antiamerikanismus ist die moralisierende Kritik an
multinationalen Firmen sehr verbreitet in der Linken. Dabei ist jetzt die
generelle Kritik, unabhängig von der staatlichen Zugehörigkeit des jeweiligen Unternehmens (in Zeiten der Globalisierung haben fast alle grossen Unternehmen
eine Art übernationalen und –staatlichen Status erreicht, weshalb man nur noch
sehr eingeschränkt von einer staatlichen Zugehörigkeit reden kann), gemeint.
Zu
erst einmal muss der Charakter dieser Kritik klar gemacht werden. Es handelt
sich um moralisierende Kritik, d.h. konkret, dass diese Kritik auf Basis von
moralischen Kategorien wie „gut“ und „böse“ wertet. Dabei wird ein gewisser
„guter“ Wertekatalog den „bösen“ Geschäftspraktiken der Konzerne
gegenübergestellt. Und hier kommt auch schon die Hauptschwäche jeglicher
moralisierender Kritik zu Tage: ihre Subjektivität. Statt auf einer sachlichen
Analyse beruht sie auf persönlichen Wertvorstellungen, was ihre Gültigkeit
enorm einschränkt. Anstatt das Verhalten der Firmen kritisch im Kontext der
heutigen Wirtschaftsverhältnisse zu betrachten, werden sie isoliert nach
subjektiven Gesichtspunkten be- oder besser gesagt verurteilt. Hinzu kommt
noch, dass bei dieser Art der Kritik meistens – wie schon beim
Antiamerikanismus – in verkürzter Manier die Probleme, unter denen die Welt zu
leiden hat, an einzelnen Firmen oder sogar Managern festgemacht werden, da in
ihnen die angeblichen Ursachen dieser Problem gesehen werden.
Dieser
personifizierende Aspekt wohnt fast jeder moralisierenden Kritik inne, ist also
in der Regel keineswegs nur eine Fehlauslegung einer grundsätzlich richtigen
Kritik sondern untrennbar mit dieser verbunden. Diese Tatsache ist darauf
zurückzuführen, dass eine Beurteilung nach moralischen Kategorien sich sehr
gerne auf intelligente Subjekte bezieht und kaum jemand auf die Idee käme, ein
wirtschaftliches Verhältnis als „unmoralisch“ abzustempeln (es stellt sich
hierbei auch die Frage, ob man Objekte überhaupt moralisch beurteilen kann und
inwiefern ein zu beurteilendes Subjekt die Möglichkeit/Fähigkeit haben muss,
ihre Entscheidungen frei von direkten existentiellen Zwängen und Bedrohungen zu
treffen). In ihrem Hang zur Personifikation liegt die zweite Schwäche
moralisierender Kritik.
Trotz
den offensichtlichen Mängeln dieser Art von Kritik mag man es moralisch
verurteilen, wenn McDonalds den Regenwald abholzt, um Weidefläche für die
Rinderzucht zu gewinnen. Man mag es verurteilen, wenn Coca-Cola Wasserquellen
kauft und damit der lokalen Bevölkerung auch noch den letzten Pfennig aus der
Tasche zieht oder wenn irgendeine beliebige Kleidermarke irgendwo auf der Welt
Arbeitskräfte und Natur ausbeutet. Der springende Punkt hierbei ist aber
letzten Endes, als was man diese Praktiken betrachtet. Einerseits kann man sie
als Wirkung von „bösen Grosskonzernen“ und „bösen Managern“ sehen, wobei hier
fast impliziert wird, dass diese frei von existentiellen Zwängen und
Bedrohungen handeln können. Das ist der oben angesprochene verkürzte Ansatz,
der fälschlicherweise ein Symptom zur Ursache erhebt. Aus einer derartigen
Perspektive ergeben sich gewisse Folgerungen, die, wie schon die
Ausgangsannahme, einige elementare Tatsachen verkennen. So ist man in der Tat
geneigt zu glauben (wie schon beim Antiamerikanismus), alles würde besser, wenn
nur einmal die (moralisch) „richtigen/guten“ Personen an der Macht wären und
die (moralisch) „richtigen/guten“ Unternehmungen aufsteigen und die zur Zeit
mächtigen Konzerne verdrängen würden. Aus diesem naiven Fehlschluss ergibt sich
nur allzu oft die unsinnige Forderung nach reformistischen Massnahmen. Diese
sollen bei totaler Unkenntnis jeglicher ökonomischer Realität versuchen, gegen
ebendiese Realität mit ihren Zwängen anzukämpfen. Diese Unkenntnis ist es auch,
die dazu führt, dass Reformismus keine Perspektiven bieten kann, da er nicht
über punktuelle Symptombekämpfung hinauskommt und so zu einem längerfristig
hoffungslosen Rückzugsgefecht wird (diese Tendenz ist ja auch heute schon zu
sehen: die Linke befindet sich in einem Abwehrkampf und hat jegliche Initiative
verloren, wenn Kämpfe geführt werden, dann nicht mehr zur Verbesserung der
Lage, sondern lediglich um eine drohende Verschlechterung abzuwenden).
Beschäftigen
wir uns noch etwas genauer mit den kritisierten Geschäftspraktiken, also mit
der Ausbeutung von Mensch und Natur. Es stellt sich also die Frage nach dem
Ursprung dieser Ausbeutung. Moralisierende Kritik impliziert oftmals, dass
gewisse Manager oder Konzerne einfach „böse“ und „rücksichtslos geldgierig“
sind.
Ein
solches naives Verständnis ist meilenweit von einer fundierten Position
entfernt, ignoriert es doch komplett die wirtschaftlichen Verhältnisse, denen
wir alle ausnahmslos unterworfen sind.
Ausbeutung
geschieht nicht einfach aus Bosheit, ebenso wenig wie einige unmoralische
Individuen für die Probleme dieser Welt verantwortlich sein können. Ausbeutung
geschieht um des Mehrwertes, resp. des Profites wegen, welcher dadurch
entsteht. Bis zu diesem Punkt wäre es theoretisch noch möglich, moralisch zu
kritisieren (das Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, wird der „bösen Geldgier“
einiger Manager/Firmen zugeschrieben, die Schuld wird an ihnen festgemacht).
Nun aber muss man sich wiederum der Frage stellen, wer denn alles aus welchen
Gründen Profit macht, eine Überlegung, welche unweigerlich jeglicher
Personifikation widersprechen wird.
Zu
allererst steht eine simple Erkenntnis: ausnahmslos jedes Unternehmen, welches
nicht gerade auf seinen Untergang zusteuert, macht heutzutage Gewinne. Das gilt
für McDonalds genau wie für den Dorfladen an der Ecke. Wenn aber auch dieser Mehrwert
erwirtschaftet, kann dies im Allgemeinen kaum moralisch zu verurteilen sein, es
sei denn man will jedes Geschäft etc. verurteilen, was wenig Sinn macht und
schon gar keine Perspektiven bietet.
Wieso
machen denn nun alle Profite?
In
der heutigen ökonomischen Ordnung konkurrenzieren alle Unternehmungen
miteinander, ebenso wie alle Individuen miteinander konkurrenzieren (was sich
in Phänomenen wie dem oben angesprochenen Individualismus/Egoismus
widerspiegelt). Diese tägliche Wettbewerbssituation ist ein zwingender Teil
jeder Markt- und genereller gesagt, jeder kapitalistischen Wirtschaft. Nun
führt dieser absolute Konkurrenzkampf dazu, dass die Firmen, welche gewisse
Bedingungen nicht mehr erfüllen, mittelfristig zu Grunde gehen. Hier kommt
wieder der Profit ins Spiel, denn eine dieser zentralen Bedingungen ist die
Rentabilität und Wertschöpfung: jedes Unternehmen muss zwingend Einnahmen
erwirtschaften, um als Minimum seine Ausgaben zu decken und keine Verluste zu
machen. Das genügt aber nicht, da es in dieser Wettbewerbssituation in einem
Konkurrenzkampf mit anderen Firmen steht. Um überleben zu können, muss also
zusätzlich noch ein Gewinn gemacht werden, welcher dann wieder investiert
werden kann mit dem Ziel, die eigene Konkurrenzfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Gelingt das nicht, fällt das Unternehmen je länger je mehr zurück und wird
früher oder später pleite und damit weg vom Fenster sein. Diese
Wettbewerbs-Spirale dreht sich unaufhörlich und verschärft so den Kampf
zunehmend, d.h. dass jede Firma zu immer rigoroseren Mitteln greifen muss, um
ihr Überleben zu sichern. Dieser Zwang betrifft jedes Unternehmen in einer
kapitalistischen Wirtschaft gleichermassen, also sowohl „böse Grosskonzerne“
als auch „gute Dorfläden“.
Die
Tatsache, dass die Erwirtschaftung von Gewinn ein Zwang darstellt, dem man sich
nicht entziehen kann (ausser durch den eigenen Untergang), ist zentral.
Nun
stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieses Profites und nach seinem Wesen.
Von moralischer Seite her wird gerne ein angeblich unterschiedlicher Charakter
verschiedener Gewinne benutzt, um die „ethische Überlegenheit“ von
beispielsweise sog. „fairem Handel“ gegenüber den „bösen Grosskonzernen“ zu
erklären. Auf die eine Seite wird der „schlechte Mehrwert“, der durch
Ausbeutung erwirtschaftet wurde, gestellt. Ihm gegenüber, als direkter
Gegenpart, steht der „gute Mehrwert“, welcher nicht durch Ausbeutung erzielt
wurde. Der Begriff der „Ausbeutung“ ist hier nicht klar definiert und wird
meistens gefühlsmässig mit beispielsweise schlechten Löhnen und
Arbeitsbedingungen gleichgesetzt.
Dieses
Bild vertritt ein komplett falsches Bild vom realen Charakter der genannten
Profite und übergeht diesen zu Gunsten einer moralischen Kategorisierung.
Kein
solcher Gewinn ist in seinem grundsätzlichen Wesen von einem anderen Gewinn zu
unterscheiden, da seine Herkunft stets gleich ist. Jeder Mehrwert entsteht
dadurch, dass ein Unternehmen (Besitzer von Produktionsmitteln) zu einem
gewissen Preis (Lohn in diesem Falle) die Arbeitkraft eines Lohnarbeitenden
kauft. Diese Arbeitskraft wird dann genutzt, um in einem Verwertungsprozess
Güter oder Dienstleistungen herzustellen, welche einen gewissen Tauschwert
(hier der Preis) haben und welche dann als in Form von Waren ausgetauscht
(gehandelt) werden. Der Lohnarbeitende schafft also Wert und erhält dafür Wert,
einen Entgelt in Form von Lohn. Wäre ersterer gleich hoch wie letzterer, würde
für das Unternehmen kein Gewinn anfallen, die Produktion wäre also unrentabel.
Damit ein Profit erwirtschaftet werden kann, muss der Lohn also zwingend unter
dem Wert der hergestellten Produkte liegen, d.h. dass die Lohnarbeitenden
weniger Wert in Form von Lohn erhalten, als sie geschaffen haben. Die Differenz
dazwischen stellt den gewonnenen Mehrwert dar.
Der
oben angesprochene Zwang, Profite zu erwirtschaften, kann demnach noch um die
Feststellung, dass jeglicher Profit durch Ausbeutung entsteht, ergänzt werden.
Diese Ausbeutung ist bei grossen Konzernen u.Ä. zwar offensichtlicher als bei
kleineren Unternehmungen, aber nichtsdestotrotz überall vorhanden.
Kurz
zusammengefasst ist der Kapitalismus also ein gesellschaftliches Verhältnis,
welches ausnahmslos jedes Unternehmen im Konkurrenzkampf dazu zwingt, durch
Ausbeutung Mehrwert zu erwirtschaften. Dabei ist es völlig belanglos, ob dieses
Unternehmen nun Kinderarbeit betreibt und 16-Stunden-Tage hat oder ob es
überdurchschnittlich hohe Löhne anbietet und den Angestellten Luxus-Ferien auf
den Malediven bezahlt – kapitalistische Lohnarbeit ist per se und immer
Ausbeutung der Lohnarbeitenden.
Nun
sind aus moralischer Perspektive selbstverständlich die „netten“
Geschäftspraktiken den „bösen“ vorzuziehen, was durchaus seine Richtigkeit hat.
Daraus jedoch die unsinnige Forderung nach einer allgemeinen Wahl des kleineren
Übels abzuleiten, zeugt von einem mangelnden Verständnis des Kapitalismus sowie
von fehlender Perspektive. Konkretisiert bedeutet das, dass die
Klassengegensätze und das damit einhergehende Herrschafts- und
Ausbeutungsverhältnis zwischen herrschender und beherrschter Klasse
auch in einer Fair-Trade-Bio-Wirtschaft nicht überwunden werden, was ja der
eigentliche Anspruch jeder emanzipatorischen Idee sein müsste. Die
Eigentumsverhältnisse, welche u.A. den Kapitalismus begründen, bleiben ebenso
bestehen wie weiterhin Waren (d.h. Dinge, welche einen Tauschwert besitzen, der
sich im äquivalenten Austausch realisiert) produziert werden etc.
Die Klasse der
LohnarbeiterInnen wird von einer doppelten Freiheit geprägt: einerseits sind
sie juristisch freie Personen, ganz im Gegensatz zu den Sklaven der Antike oder
der Leibeigenen des Mittelalters. Andererseits sind sie auch „frei“ von
Produktionsmitteln, müssen also für ihren Lebensunterhalt ihr einziges Gut,
ihre Arbeitskraft, gegen Lohn verkaufen.
Ganz
getreu der Taktik der Wahl des kleineren Übels könnte man jetzt der Ansicht
sein, dass man lieber nicht ganz so offensichtlich ausgebeutet und beherrscht
wird und dass Kapitalismus an sich schon in Ordnung wäre, wenn nur global
einigermassen „fair“ gewirtschaftet werden würde. Der Stolperstein dieser
Überlegung ist, dass diese „netten“ Geschäftspraktiken an sich gar nicht
lebensfähig wären und nur existieren können, weil sie auf spezifische
Nischenmärkte zielen. Um trotz höherer Produktionskosten (höhere Löhne, bessere
Arbeitsbedingungen etc.) ein nötiges Minimum an Mehrwert zu erwirtschaften,
muss der Preis der hergestellten Produkte und Dienstleistungen erhöht werden –
das führt dazu, dass diese Güter in ein Preissegment wechseln, welches nur noch
für eine gewisse (privilegierte) Minderheit zugänglich ist, welche willig und
in der Lage ist, für die soziale und ökologische „Verträglichkeit“
draufzuzahlen (und das sogar nur punktuell, beispielsweise beim Kaffee und den
Bananen, ein totales Fair-Trade-Bio-Leben wäre sogar in der 1. Welt nur für
eine noch viel kleinere Minderheit möglich). Sobald ein Unternehmen aber weiter
expandieren und in andere Märkte vordringen will, müssen die Preise und damit
die Herstellungskosten zwingend gesenkt werden, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Die verschärfte Ausbeutung ist also lediglich die logische Folge eines
strukturellen Zwanges, welchem alle Unternehmen unterworfen sind, und
keineswegs das Produkt individueller Böswilligkeit. Dementsprechend zwecklos
sind Forderungen an McDonalds oder Coca-Cola, doch bitte „fair“ und „nett“ zu sein – selbst wenn das
Management nur aus Gutmenschen bestehen würde, würde die objektive
Wettbewerbssituation des globalen Fast-Food-Marktes eine solche Praxis nicht
zulassen, weil diese eine signifikante Preiserhöhung zur Folge hätte, welche
wiederum Kunden in die Hände von konkurrierenden Unternehmen wie Kentucky Fried
Chicken oder BurgerKing treiben würde, die das gleiche Essen halb so teuer
verkaufen. Es wäre möglich, darauf zu spekulieren, dass die Kunden diese
Änderungen befürworten und treu bleiben würden, allerdings ist diese Hoffnung,
ähnlich wie die Hoffnung, dass die anderen Konzerne plötzlich einen
Gesinnungswandel durchleben und nachziehen würden, in höchstem Masse
unrealistisch. Bei allem guten Willen, den ein Mensch haben kann, bleibt doch
seine objektive Situation, und in der Regel leitet der natürliche
Selbsterhaltungstrieb den Menschen genug, damit zuerst die Miete, Steuern,
Nebenkosten, Krankenkasse und Schulrechnungen etc. beglichen werden, bevor man
sich Spenden, Fair-Trade und anderen karitativen Belangen zuwendet, sofern
diese (wie das bei der Mehrheit aller Menschen kaum der Fall ist) überhaupt
noch im Budget Platz finden können. .
Ausbeutung
und Unterdrückung, egal ob offensichtlich oder verschleiert, sind keine
Auswüchse oder Pervertierungen eines grundsätzlich positiv zu bewertenden
gesellschaftlichen Verhältnisses. Ebenso wenig sind sie das Produkt einer
diffusen, „bösen“ Geldgier einiger weniger Manager und Grosskonzerne, welche
sich gegen die Welt verschworen haben.
Die erwähnten Missstände
stellen nur die logischen Folgen objektiver Zwänge, denen alle Menschen
gleichermassen ausgesetzt sind, dar. Diese Zwänge wiederum sind nur die
logischen Folgen des gesellschaftlichen Verhältnisses, in dem wir zu leben
gezwungen sind, und der Produktionsweise, die diesem Verhältnis entspringt.
Jede Idee, welche den Anspruch hat, eine (bessere) „andere Welt“ zu schaffen,
muss sich also gegen den Kapitalismus als in seiner ganzen Totalität richten
und darf nicht bei verkürzter Personifikation stehen bleiben.
http://www.arachnia.ch/LAO – Libertäre Aktion Ostschweiz