2008-01-21
„Die Geschichte sind wir“
Am 15. November 2007 kehrte die Bewegung nach Genua zurück: Unter dem Slogan „La storia siamo noi“ demonstrierten ca. 50.000 Menschen in der Stadt. Es war eine praktische linke Intervention gegen die Konstruktion einer Geschichtsschreibung, die die Ereignisse in Genua während des G8-Gipfels 2001 in ihre herrschaftlichen Deutungsmuster pressen will. Im gesellschaftlichen Gedächtnis soll die Revolte von Genua als ein krimineller, unpolitischer Akt verfestigt werden. Die Staatsanwaltschaft hat stellvertretend für 25 AktivistInnen auf der Grundlage alter, faschistischer Paragraphen mehrjährige Haftstrafen (zum Teil bis zu 14 Jahren) gefordert. Während die Verfahren gegen die angeklagten Bullen mit Freisprüchen, Einstellungen und Verschleppungen enden, sollen für die über 250.000 Wütenden im Juli 2001 25 jahrelang verknackt werden. Die Tage von Genua waren ein Symbol der Delegitimierung und des
Widerstands gegen die herrschenden Zustände. Die Staatsmacht ist nun gezwungen, die Deutungshoheit über dieses Ereignis zurück zu gewinnen. Dieser Konstruktion widersetzt sich die italienische Linke, indem sie trotz ihrer Zerstrittenheit in ihrer Gesamtheit zurückgekehrt ist, und der Floskel „Betroffen sind wenige, gemeint sind wir alle!“ ein deutliches Zeichen gesetzt hat.
Wer schreibt die Geschichte von Heiligendamm?
Am gleichen Tag fand in Rostock eine Demonstration gegen Überwachungsstaat und Justizwillkühr statt. Um gegen die Verurteilungen der Festgenommen während des G8-Gipfels (vor allem des 2. Junis). zu protestieren, kehrten von den 50.000, die am 2. Juni in Rostock demonstrierten, 500 zurück.
Der Rostocker/Heiligendammer G8-Gipfel war nicht wie Genua und auch die ausgesprochenen Strafen, die seitens der Justiz verhängt werden, stehen in keinem Verhältnis dazu. Nachdem ein Großteil der Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde, laufen gerade die Verhandlungen zu den schwerer wiegenden Fällen. Dabei sind mittlerweile mehrere Bewährungs- und auch eine Haftstrafe ausgesprochen worden. Trotzdem bleibt die Bewertung und die Deutung der Proteste gegen den Gipfel ein umkämpfter Raum. Wir haben ein symbolhaftes Ereignis erzeugt, welches im Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen steht. Sind wir auch in der Lage es zu verteidigen?
… Hamburg?
Einen praktischen und offensiven Versuch, sich zu der Kriminalisierung gegen die radikale Linke im letzten Jahr zu verhalten, war sicherlich die Demo in Hamburg am 15. Dezember. Unter dem Motto „Out of Control“ wurde versucht, an die kraftvolle Demo nach den Durchsuchungen des 9. Mai und an die Hamburger Demo gegen den ASEM-Gipfel eine Woche vor dem G8-Gipfel anzuknüpfen. Eine große, laute und entschlossene Demo sollte den Widerspruch gegen die Verhältnisse in die vom vorweihnachtlichen Konsumrausch geprägte Hamburger Innenstadt tragen.
Trotz 3000 TeilnehmerInen, neuen Demokonzepten und größerer Aufmerksamkeit für die Demo im norddeutschen Raum, konnte dennoch keine starke Signalwirkung von der Demo ausgehen. Ein hochgezüchteter Bullenapparat unterband selbstgefällig die geplante und genehmigte Durchführung der Demo. Die interne Diskussion und die Außenwahrnehmung der Demo reduzierten sich wieder mal auf die sportliche, taktische Auseinandersetzung mit den Cops.
Die Bundesanwaltschaft darf nicht
Mehr als unsere eigenen Demos, scheinte uns momentan eher die ideologischen Widersprüche innerhalb der Staatsapparate unter die Arme zu greifen: Einerseits liefen im Zuge des G8-Gipfels die Ermittlungsbehörden der Polizei, Geheimdiensten und Bundesanwaltschaft sowie des Innenministeriums auf Hochtouren gegen die fast vergessenen „Linksextremisten“. Andererseits werden gerade die 129a-Verfahren, in einem nahezu liberaleren Frühling innerhalb der autoritären Aufrüstung im Zuge der Terrorhysterie, vom Bundesgerichtshof gekippt. Die „militante gruppe“, eine Militante Kampagne gegen den G8 in mehreren Städten – laut BGH alles plötzlich doch kein Terrorismus mehr. Die Bundesanwaltschaft muss die Fälle abgeben.
Dies bedeutet natürlich keine zwangsläufige Einstellung der Verfahren. Die drei Festgenommen in Sachen „militante gruppe“ müssen trotzdem mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen, dann eben nur nach §129 „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ anstatt einer terroristischen.
Ob noch etwas strafrechtlich Relevantes aus den großspurigen Durchsuchungen im Vorfeld des G8 herausspringen wird, darf bezweifelt werden. Mit Sicherheit ging es selbst den Bullen und der BAW darum eher sekundär. Wichtiger war das „in den Busch schießen“, das erhoffte Einschüchtern vor dem G8-Gipfel. Zudem waren die Durchsuchungen eine medienwirksame Legitimation ihrer umfangreichen Schnüffelei. Die kombinierten 129a-Verfahren gegen eine Militante Kampagne zur Verhinderung des G8-Gipfels war die größte Ausleuchtungsaktion der letzten Jahre gegen linke Strukturen. Alle Register moderner Überwachungs- und Ermittlungstechniken wurden gezogen, um die größte linksradikale Kampagne der letzten Jahre von Anfang an zu begleiten und auszuhorchen. Dafür gibt es schließlich den freizügigen Ermittlungsparagraphen §129a und dafür wird er auch weiter verwendet werden; da wird auch eine strengere Handhabung des BGHs nichts dran ändern.
Wer nix kapiert, darf nicht
Dass die Schnüffelbehörden trotz ihrer umfangreichen Untersuchungen sowenig strafrechtlich Verwertbares finden konnten, hängt wohl hauptsächlich an der Stumpfheit ihrer MitarbeiterInnen. Eine Zwischenauswertung der Ermittlungsakten einiger Betroffener aus den Verfahren offenbart ungeahnte Eindrücke über die Arbeitsweise der schnüffelnden Zunft. Zu Wut und Empörung führt das Lesen über die umfangreichen, detaillierten und schamlosen Ermittlungsmethoden. Aber auch unerwartete Gefühle werden angeregt, wie beispielsweise Mitleid mit den Beamten, deren Horizont definitiv nicht ausreicht, um die Komplexität politischer und militanter Beweggründe und Organisierung zu verstehen. Dieses längere Zwischenauswertungspapier sei euch nicht nur aus diesem Grund ans Herz gelegt [siehe http://autox-nadir.org]. Lesenswert ist es auch, weil es Einblicke in den Stand der Techniken und Methoden gibt, die gegen uns verwendet werden, und mit denen wir umzugehen lernen müssen. Darüber hinaus zeigt es auf, wie vor allem der völlig autonom und rechtfertigungsfrei agierende Verfassungsschutz die politischen Ermittlungen in seinem Sinne vorantreibt.
Wohin mit der Bewegung?
Bedauerlich bleibt, dass die linksradikalen Aktivitäten nach Heiligendamm sehr stark auf die Kriminalisierung ausgerichtet waren. Unabstreitbar, dass mit den Verhaftungen, Prozessen und 129a-Verfahren auch genug Druck gegeben war, sich zu den Kriminalisierungsversuchen des Staates zu verhalten. Andererseits wurde sich damit aber auch zu sehr auf eine abstrakte Auseinandersetzung „die-Linke-gegen-den-Staat“ eingelassen. Eine Übersetzung des Schwungs von Heiligendamm in die sozialen Bewegungen wäre dauerhaft sicherlich fruchtbarer gewesen. Bleibt zu hoffen, dass dies spätestens mit den Camps im Sommer an der Rassismus- oder Klima-Frage oder vielleicht auch am diesjährigen Castor-Transport doch noch gelingen kann. Und das dort, beispielsweise mit der Blockade eines Flughafens oder Demontage eines Kohlekraftwerkes, wieder deutlich gemacht werden kann:
„La storia siamo noi!“
[http://linksnavigator.de/drupal/node/427]