2008-01-15
Die Proteste in Heiligendamm haben gezeigt wie viel Energie freigesetzt wird, wenn viele zusammen
kommen die entschlossen sind. Entschlossen ihren Unmut kundtun, Utopien leben, entschieden die Regeln
umschiffen, weglachen, in den Wind schlagen.
Jetzt sind wir (linksradikalen) sogenannten „Gipfel-Gegner_innen“ wieder zu Hause, bei unserem Job, dem
was wir so tun, bei unseren Freund_innen. Wir leben unseren Widerstand nun wieder im Alltag, durch
kleine und große Widersetzungen, mit Liebe, Solidarität und Kollektivität. Haben unsere Strukturen, unsere
im Kleinen gelebten Utopien, Hausprojekte, Läden und Wagenplätze.
Nicht zu vergessen politische Arbeit, im Infoladen, Kiezcafé, Zeitungsprojekt und unsere autonomen,
antirassistischen, antifaschistischen, feministischen, queeren Projekte, mit kleinen und großen
Mobilisierungen.
2. Juni Rostock
Es gibt aktive Szenen; in den Metropolen stärker als auf dem Land und in kleineren Städten. Immer wieder
gibt es überregionale Projekte auf die sich viele beziehen wie Wunsiedel und Mittenwald, Castor,
antirassistische Grenzcamps und andere Camps. Überregionale Projekte sind wichtig für Menschen in
deren Gegend nicht so viel läuft, um sich neues Wissen anzueignen, Standpunkte auszudiskutieren,
Debatten weiter zu entwickeln und etwas ganz anderes zu leben.
Projekte setzen neue Impulse wie bei den Euromaydays und den Debatten um Prekarisierung, bei
Aneignungspraxen und den Überflüssigen. Synergieeffekte pushen uns weiter, Diskussionen intensivieren
sich und setzen neue Analysen und Strategien frei.
Wo steht die radikale Linke gerade? Wir sind nicht viel mehr und nicht viel weniger als in den letzten paar
Jahren. Wir haben einige Räume verloren, Bambule in Hamburg, Yorck 59 in Berlin, Ungdomshuset in
Kopenhagen und Rabatz in Paderborn. Wir haben wenige Räume dazu gewonnen, wie das NewYorck-
Bethanien in Berlin, einzelne Hausbesetzungen in Graz und Dresden. Unterm Strich sind unsere Freiräume
immer stärker bedroht. Deswegen wird viel Kraft in die Verteidigung und Antirepressionsarbeit gehen. Die
Durchsuchungen vom 9. Mai im Vorfeld des G8 sowie weitere Durchsuchungen und Festnahmen wegen
129a-Verfahren fordern unsere Solidarität. Florian, Axel und Oliver sitzen in U-Haft.
Wir stricken an überregionalen Projekten wie Euromayday-Vorbereitungen, Nato-Sicherheitskonferenz in
München, Antirepressions-Demonstrationen, Freiraumkämpfe, der Kampagne gegen den Europäischen
Polizeikongress in Berlin oder eine bundesweite, antirassistische Demonstration am 5. Juli.
Aktionistisches Campen fehlt nicht: Erste Vorbereitungstreffen für ein „Klima-Camp“ haben bereits
stattgefunden. Nach dem G8 fanden einige die linke Leerstelle im Bereich Umwelt und Klima fatal, auch
Teile der Anti-Atom-Bewegung haben diesen Impuls aufgenommen und hoffen auf eine neue linksradikale
Umweltbewegung. Zu diesen Planer_innen wollen sich andere Bewegungen gesellen, u.a. aus dem Bereich
Antirassismus, Migration und Globale Landwirtschaft.
Die Idee ist, statt in mehreren kleinen Projekten zu
verharren, sich wieder zusammen zu tun und es im Sommer krachen zu lassen. Denn irgendwie gehört alles
zusammen: Migration und Umweltzerstörung, der Raub von Rohstoffen und Kriege, schlechte
Arbeitsbedingen und ungerechte Verteilung, Vertreibung und Zerstörung dezentraler Landwirtschaft im
globalen Süden und die neue Armut in den Metropolen. Linksradikale Politik zu Klima kann nicht
themenverengt arbeiten, denn ohne antikapitalistische Ansätze und die Verflechtung mit der Sozialen Frage
(Migration, Eigentum, Gerechtigkeit, Verteilung) wäre eine Klimabetrachtung reaktionär.
Inhaltliche Bezugnahmen sind „hip“, nicht erst seit dem tripple-oppression-Papier und der CrossOver-
Konferenz 1999 in Bremen, sondern das „ganz andere Ganze“ ist eben nur möglich, wenn Veränderung
zusammen gedacht wird.
Neben den verschieden Teilbereichsbewegungen gibt es dann ja auch noch den Blick über den Tellerrand.
In unterschiedlichen Projekten werden Kooperationen über die radikale Linke hinaus gesucht, mal mehr
und mal weniger erfolgreich. No Lager hat mit der punktuellen Kooperation mit dem Komitee für
Grundrechte und Demokratie antirassistische Proteste gegen das Lager in Bramsche gestärkt. Bei der Demo
„Freiheit statt Angst“ gegen den Sicherheitswahn in Berlin hat das Bündnis mehr schlecht als recht
gegriffen. 400 radikale Linke haben sich erfolgreich Vorkontrollen widersetzt, das gab`s schon länger nicht
mehr. Einige Bündnispartner zeigten dafür wenig Verständnis.
Bei den G8 Protesten hatten die Kooperationen Für und Wider, einige hatten als abschreckendes Beispiel
des G8 1999 in Köln noch vor Augen, wo nach viel Streit und Spaltung eine linksradikale 4000-Leute-
Latsch-Demo der Höhepunkt der Proteste sein sollte. In Bezug darauf haben wir in Heiligendamm einiges
mehr hingekriegt und das hat sicher auch mit der breiten Koordinierung zu tun. Spaltungsthema Nr. 1 war
wieder die sogenannte Gewaltfrage. Dass die Akzeptanz verschiedener Aktionsformen zwar von vielen
immer wieder beteuert wurde, ändert nichts daran, dass sich distanziert wird, wenn es rummst. Die, die sich
öffentlich distanzieren übersehen, dass sie ihre Kooperationspartner_innen damit zum Weghaften und
Knüppeln freigeben. Ob die Debatte um verschiedene Aktionsformen solidarisch und kritisch geführt wird
oder ob nach Denunziation gerufen wird, ist Dreh- und Angelpunkt. An dieser Scheidelinie zeigt sich, in
wie weit solidarische Politik gemeinsam möglich ist. Für Heiligendamm, kann hervorgehoben werden, hat
die Kooperation trotz heftigsten Streits bis zum Schluss gehalten.
Bei einigen rührt sich der Wunsch, das was in Heiligendamm an Energie und Dynamik bei den Blockaden
möglich war, was in den Camps an Austausch und Kollektivität entstanden ist, nicht ins Poesiealbum der
Widerstanderfahrungen ablegen zu wollen. Nach dem G8 hatten viele ihre Auswertungstreffen, manche
Zusammenschlüsse wurden nach einer letzten Zusammenkunft abgewickelt. Der (Hannoveraner) G8-
Koordinierungskreis, dissent, Block G8 und viele AGs lösten sich auf.
Wir finden es wertvoll diesen Gedankensträngen einen Ort zu geben und haben uns deswegen entschieden,
an der Idee der „Perspektiventage – Wie weiter nach Heiligendamm?“ mitzuarbeiten. Uns gefiel an dem
Vorschlag der Camp-AG neben der Perspektive auch und gerade, eine strategische Bestimmung zu
versuchen. Dies beinhaltet eine Standortbestimmung auf der Folie der Kämpfe der letzten Jahre. Analyse
und Strategie umfasst immer auch das Spannungsfeld überregionaler Klammern und der Bezug zum
eigenen Alltag, zum eigenen Leben. Übergreifende, globale Forderungen müssen sich rückkoppeln in
Alltagskämpfe, die wiederum durch den Bezug auf andere Kämpfe an Wahrnehmbarkeit und
emanzipativem Crossover gewinnen.
Teilbereichsbewegungen, die sich nicht aufeinanderbeziehen und die
keine Räume schaffen, Widersprüche auszudiskutieren, laufen Gefahr, die Freiheit der einen auf der
Unfreiheit der anderen aufzubauen. Dass wir Kämpfe international denken müssen, ist schon lange im
Bewusstsein der radikalen Linken verankert; dass Unterdrückung strukturell ist ebenso.
Dass Unterdrückung ganz unterschiedliche Ausprägungen hat, die sich in ganz verschiedenen
Herrschaftsstrukturen manifestieren, ist immer wieder umkämpft. Bei einem gleichwertigen Bezug der
verschiedenen Kämpfe sind wir noch nicht angekommen. Dass alles mit allem zu tun hat, scheint diffus
klar, doch hier fehlt es immens an Ausformulierungen und konkreter Praxis. In Zeiten des Neoliberalismus,
wo der alte postfordistische weiße, männliche Klassenkompromiss ins Wanken gerät, sind auch die, die
ihm oppositionell, widerständig entgegenstanden, aufgeschüttelt. Die identitären Kollektivsubjekte der
Arbeiter_innen, Student_innen, Migrant_innen/Flüchtlinge und Frauen/Lesben sind im Prozess sich neu zu
verorten. Die großen Fragen von: Wie stellen wir uns Veränderung eigentlich vor? Und wie wollen wir
leben? werden immer noch selten zusammen gedacht.
Ebenso zeigt sich eine Leerstelle im Bezug
unterschiedlicher Kämpfe aufeinander. In Heiligendamm war oft von Bewegung der Bewegungen die
Rede. Sehen wir in solch einem Ansatz ein Stärkung und einen emanzipativen Gewinn? Wie könnte er sich
ausformulieren und in Praxis übersetzen?
Das sind Fragen, die wir gerne von linksradikaler Seite mit einem spektrenübergreifenden Bezug
beantworten wollen. Wobei wir das Antworten-finden als einen permanenten Prozess begreifen, der in den
Perspektiventagen einen Ort haben kann. Auf eine spannende Debatte!
six hills